Patchwork, Homo-Ehe, In-vitro-Fertilisation - was die einen als Untergang des Abendlandes bezeichnen, ist für andere eine Öffnung unserer Konzepte von Liebe, Beziehung und Familie. Christina von Braun, eine der renommiertesten Kulturwissenschaftlerinnen des Landes, blickt weit in die Geschichte zurück, um zu erklären, wie sich unsere Vorstellungen von Verwandtschaft entwickelten. Ihr neues Grundlagenwerk wird unseren Blick auf die Gegenwart verändern. "Blut ist ein ganz besonderer Saft", sagt Mephisto zu Faust, den er den Pakt mit seinem Blut unterschreiben lässt. Für die Kultur des Westens sind "Blutsbande" auch die Basis von Verwandtschaft. Das gilt nicht für alle Kulturen. Christina von Braun zeigt in ihrem neuen Standardwerk, auf welchen Vorstellungen die Idee der Blutsverwandtschaft beruht und wie sich diese Vorstellungen im Zeitalter von Genetik und Reproduktionsmedizin verändern. Einerseits verfestigt sich die Idee einer langen Kette von Blutsverwandten. Auf der anderen Seite treten aber auch soziale und kulturelle Definitionen von Verwandtschaft in den Vordergrund: Vertrauen in und Verantwortung für einander ersetzen die Blutsbande. Christina von Brauns Kulturgeschichte der Verwandtschaft ist so materialreich wie erhellend.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2018Wir sitzen alle in der roten Tinte
Das Wort "Familienbande" habe manchmal den Beigeschmack von Wahrheit, bemerkte Karl Kraus: Christina von Braun sondiert Konzepte von Verwandtschaft und umgeht dabei das Recht.
Ganz eindeutig ist die martialische Rede von "Blut" und "Blutsbande" nicht, wenn Christina von Braun ihre großangelegte Studie zur Geschichte des abendländischen Konzepts der Verwandtschaft an diesen Worten festmacht. Tatsächlich stellt die Kulturwissenschaftlerin Blut, Sinnlichkeit, den Leib (und die gesprochene Sprache) auf der einen Seite der Welt der Schriftzeichen, der Namen, des Geldes und des "Geistigen" auf der anderen Seite gegenüber. Wobei die Schriftzeichen dann ihrerseits in der physischen Wirklichkeit Rückhalt suchen: Sie rufen Bezüge aufs Blut herauf. So seien in der Geschichte des Westens Verwandtschaftslinien stets mit "roter Tinte" gezeichnet, zwar im Grunde kulturell konstruiert, dennoch aber wesenhaft aufgeladen.
Blut ist also ein Stoff, der die Idee der unabänderlichen Blutsverwandtschaft zitiert. Dabei wirkt sich der Geschlechterunterschied tiefgreifend aus: Während Mutterschaft über Jahrtausende zweifelsfrei feststeht, denn Geburten haben zumeist Augenzeugen, bleibt Vaterschaft eine abstrakte Beziehung. "Pater semper incertus est", lautet eine berühmte römische Rechtsformel: Der Vater ist stets ungewiss. Umso mehr beginnt hier nach von Braun das Einsatzgebiet "roter Tinte".
Die in Europa entstandenen Verwandtschaftssysteme kultivieren Vaterschaft auf unterschiedliche Weise symbolisch. Dabei werten Ehe, Elternschaft, Erbe die Blutsbande auf: "Sie verleihen der Vaterlinie den Anschein ebenjener nachweisbaren Leiblichkeit, die sie eigentlich entbehrt." Die Machtverteilung, die dabei entsteht, begünstigt den Mann. Sie ist durchgehend patriarchal.
Im Buch wird vor diesem Hintergrund über sieben Kapitel hinweg eine Kulturgeschichte zweier für den Westen maßgeblicher, religiös geprägter Verwandtschaftssysteme nachgezeichnet: die "griechisch-römische" und später christliche Patrilinearität (als über den Vater sich definierende Erblinie) sowie die jüdische Matrilinearität (also Vererbung von Zugehörigkeit und Gütern über die Mutter). Mit enormer Detailkenntnis zeichnet von Braun nach, wie das christliche Verwandtschaftsmodell auch über die Aufklärungszeit hinweg Figuren einer "geistigen" Zeugung und Vaterschaft variiert. Die Frau wechselt gemäß diesem Schema in die Familie des Mannes, dort bleibt sie die mütterliche Hohlform, in die hinein Nachwuchs gezeugt wird.
Im jüdischen Verwandtschaftsmodell hingegen vererbt sich Familienmitgliedschaft und Geld über die Mutter. Hier fällt der Frau die Rolle zu, die Familie zusammenzuhalten, weswegen sie im Zweifel in passender Weise "endogam", das heißt mit Verwandten, verheiratet wird. Dass nicht etwa Frauenmacht, sondern die versprengte Existenz in der Diaspora die jüdische Matrilinearität entstehen ließ, ist eine der nüchternen Thesen der Autorin.
Christlich wie jüdisch werden aber auch die Linien des Geld- und Güterverkehrs analog zur physischen Verwandtschaft modelliert. Vom Vergleich des unehelichen Kindes mit gefälschtem Geld über den Blut- und Kapitalkreislauf bis hin zur Idee, Geld lasse sich "züchten", versammelt die Autorin dafür anschaulich Belege.
Von Braun thematisiert die "Blutsbande" aber auch aktualisierend. Denn ein zweiter Fokus des Buches liegt auf der Entstehung und den Folgen von Biologie und moderner Reproduktionsmedizin: Der Naturalismus des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts steigert zwar, er unterminiert aber auch - so von Braun - die Vorherrschaft der Väter. Schuld sei die Wissenschaft, nämlich paradoxerweise eine immer präzisere Biologie. Vaterschaft wie auch epigenetische, also nicht von den elterlichen Genen stammende Prägungen des kindlichen Erbguts seien inzwischen derart sicher feststellbar, dass von der "geistigen" Linie oder auch "reiner" Vererbung nicht mehr viel bleibe.
Biotechniken verwandeln das Vaterbild zur profanen Rolle (im Grenzfall: des bloßen Samenspenders). Überhaupt habe die heutige Reproduktionsmedizin dramatische Folgen für die gelebte Praxis von Verwandtschaft und die Machtverteilung zwischen Männern und Frauen, auch für die Konzepte "Sexualität" und "Geschlecht". Von Braun entfaltet das durchaus vergnügt: Die Mutterschaft vervielfältigt sich (Eispenderin, Leihmutter, soziale Mutter und so fort), und mit den inzwischen biotechnisch realisierbaren Varianten von Transgender-Elternschaften brechen Denkmuster einer "natürlichen" Verwandtschaft - wo man sie nicht fundamentalistisch zur Kampfvokabel erhebt - schlicht weg.
Stehen also "verflüssigte" Männlichkeit, Verwandtschaft mit allen oder keinem bevor? Von Braun bejaht das, fordert ein Umdenken der Psychoanalyse, nimmt aber auch im Hinblick auf das Entstehen möglicher neuer Klassenkämpfe kein Blatt vor den Mund. Da ist zum einen der biotechnische Markt: Heute liegt die Macht zur Verwandtschaftsherstellung "im Labor, das sich alle Gestalten der Zeugungs- und Gebärfähigkeit angeeignet hat". Diejenigen, die sich dem Paradigma der "freien Wahl" von Geschlecht und Verwandtschaftsformen ausgeliefert haben, exponieren sich aber auch politisch. Denn ähnlich dem diskriminierenden Muster des "transnationalen Juden" würden heute transformierbare Identitäten von interessierter Seite "zu Gefahrenherden erklärt".
Von Brauns Kulturgeschichte ist unbedingt lesenswert. An Großdiagnosen wie die, der Westen habe an die Blutslinie "geglaubt", muss man allerdings Fragen richten. In der pauschalisierenden Rede vom "Westen" liegt eine echte Schwäche des Buchs. Aktuelle wie historische Beispiele kommen mal aus diesem, mal aus jenem europäischen Land, mal aus Israel, mal aus den Vereinigten Staaten. Unterschiedlichste Sozial- und Wirtschaftsgeschichten wie auch Symbolwelten mit deutlich differenten Gewichtungen von Religion, Säkularität und "Staat" - man vergleiche nur Deutschland und Frankreich in Sachen Vaterschaft oder auch die komplexen Genealogien von Vormundschaft oder Adoption - werden zugunsten eines großen Bogens miteinander vermengt.
Noch irritierender ist aber: Das Recht - von der Verfassungsgeschichte bis zum Familien- und Erbrecht - fehlt im Buch völlig, einschließlich Gesetzgebung, Gerichten und prozeduraler Pragmatik. Recht firmiert bei von Braun schlicht als "Schrift" beziehungsweise "Verschriftung". Die Option einer durch willentliche Handlung gestifteten Verbindung geht damit unter im Bild der roten Tinte, die sich, um als Natur zu gelten, ins "Unbewusste" einschreibt. Ähnlich unterkomplex bleibt die Metapher einer "geistigen Vaterschaft" als Urphänomen staatlicher Machtausübung. Dabei scheint ja doch gerade der Rechtsakt, die vertragliche, sei es mündliche, sei es schriftliche Setzung des Verwandtseins - und zwar schon in der römisch rechtlichen Tradition -, in Europa stets eine "sichere" Form der Verwandtschaft herstellen zu können. Klassisch benötigen so die Adoption, aber auch die Eheschließung selbst gerade nicht "rote Tinte", sondern werden im Wortsinn gemacht, nämlich handlungsförmig vollzogen.
Am Fehlen jeglicher Rechtsgeschichte, in der Recht nicht nur abstrakte Regel ist, sondern auch ein Repertoire potentiell egalitär nutzbarer, wirklichkeitsstiftender Formen, liegt es denn wohl auch, dass von Braun in ihrer Erzählung das Phänomen der modernen Frauenbefreiung nur unter Schwierigkeiten lokalisieren kann. Was den Wandel der Frauenrolle angeht, sind es nur die Biologie samt deren Verwissenschaftlichung von Inter- und Homosexualität und die Genetik, auf die sie sich berufen kann. Obwohl sie festhält, dass die "Emanzipation der Frau nicht das Resultat der geschlechtslosen Gesellschaft, sondern vielmehr Werkzeug auf dem Weg dorthin" sei, bleibt ihr als Erklärung dafür nur eine qua Biologisierung egalitäre Anthropologie.
Hier wäre dem Narrativ von den ab 1800 verblassenden "Blutsbanden" eine Geschichte juridischer, schon ihrer Form nach geschlechtsneutraler Gleichheitsfiguren - Personengesellschaft, Kollegium, Bürgerschaft - mitsamt der Forderung nach Übernahme aller möglichen Rollen durch alle zur Seite zu stellen gewesen. Zur etwas schlichten Zweiteilung von "sinnlich" und "geistig" käme so eine dritte Dimension. Die Engführung auf den einen besonderen Stoff Blut wäre dann freilich nicht mehr so überzeugend.
PETRA GEHRING
Christina von Braun:
"Blutsbande". Verwandtschaft als Kulturgeschichte.
Aufbau Verlag, Berlin 2018. 537 S., Abb., geb., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Wort "Familienbande" habe manchmal den Beigeschmack von Wahrheit, bemerkte Karl Kraus: Christina von Braun sondiert Konzepte von Verwandtschaft und umgeht dabei das Recht.
Ganz eindeutig ist die martialische Rede von "Blut" und "Blutsbande" nicht, wenn Christina von Braun ihre großangelegte Studie zur Geschichte des abendländischen Konzepts der Verwandtschaft an diesen Worten festmacht. Tatsächlich stellt die Kulturwissenschaftlerin Blut, Sinnlichkeit, den Leib (und die gesprochene Sprache) auf der einen Seite der Welt der Schriftzeichen, der Namen, des Geldes und des "Geistigen" auf der anderen Seite gegenüber. Wobei die Schriftzeichen dann ihrerseits in der physischen Wirklichkeit Rückhalt suchen: Sie rufen Bezüge aufs Blut herauf. So seien in der Geschichte des Westens Verwandtschaftslinien stets mit "roter Tinte" gezeichnet, zwar im Grunde kulturell konstruiert, dennoch aber wesenhaft aufgeladen.
Blut ist also ein Stoff, der die Idee der unabänderlichen Blutsverwandtschaft zitiert. Dabei wirkt sich der Geschlechterunterschied tiefgreifend aus: Während Mutterschaft über Jahrtausende zweifelsfrei feststeht, denn Geburten haben zumeist Augenzeugen, bleibt Vaterschaft eine abstrakte Beziehung. "Pater semper incertus est", lautet eine berühmte römische Rechtsformel: Der Vater ist stets ungewiss. Umso mehr beginnt hier nach von Braun das Einsatzgebiet "roter Tinte".
Die in Europa entstandenen Verwandtschaftssysteme kultivieren Vaterschaft auf unterschiedliche Weise symbolisch. Dabei werten Ehe, Elternschaft, Erbe die Blutsbande auf: "Sie verleihen der Vaterlinie den Anschein ebenjener nachweisbaren Leiblichkeit, die sie eigentlich entbehrt." Die Machtverteilung, die dabei entsteht, begünstigt den Mann. Sie ist durchgehend patriarchal.
Im Buch wird vor diesem Hintergrund über sieben Kapitel hinweg eine Kulturgeschichte zweier für den Westen maßgeblicher, religiös geprägter Verwandtschaftssysteme nachgezeichnet: die "griechisch-römische" und später christliche Patrilinearität (als über den Vater sich definierende Erblinie) sowie die jüdische Matrilinearität (also Vererbung von Zugehörigkeit und Gütern über die Mutter). Mit enormer Detailkenntnis zeichnet von Braun nach, wie das christliche Verwandtschaftsmodell auch über die Aufklärungszeit hinweg Figuren einer "geistigen" Zeugung und Vaterschaft variiert. Die Frau wechselt gemäß diesem Schema in die Familie des Mannes, dort bleibt sie die mütterliche Hohlform, in die hinein Nachwuchs gezeugt wird.
Im jüdischen Verwandtschaftsmodell hingegen vererbt sich Familienmitgliedschaft und Geld über die Mutter. Hier fällt der Frau die Rolle zu, die Familie zusammenzuhalten, weswegen sie im Zweifel in passender Weise "endogam", das heißt mit Verwandten, verheiratet wird. Dass nicht etwa Frauenmacht, sondern die versprengte Existenz in der Diaspora die jüdische Matrilinearität entstehen ließ, ist eine der nüchternen Thesen der Autorin.
Christlich wie jüdisch werden aber auch die Linien des Geld- und Güterverkehrs analog zur physischen Verwandtschaft modelliert. Vom Vergleich des unehelichen Kindes mit gefälschtem Geld über den Blut- und Kapitalkreislauf bis hin zur Idee, Geld lasse sich "züchten", versammelt die Autorin dafür anschaulich Belege.
Von Braun thematisiert die "Blutsbande" aber auch aktualisierend. Denn ein zweiter Fokus des Buches liegt auf der Entstehung und den Folgen von Biologie und moderner Reproduktionsmedizin: Der Naturalismus des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts steigert zwar, er unterminiert aber auch - so von Braun - die Vorherrschaft der Väter. Schuld sei die Wissenschaft, nämlich paradoxerweise eine immer präzisere Biologie. Vaterschaft wie auch epigenetische, also nicht von den elterlichen Genen stammende Prägungen des kindlichen Erbguts seien inzwischen derart sicher feststellbar, dass von der "geistigen" Linie oder auch "reiner" Vererbung nicht mehr viel bleibe.
Biotechniken verwandeln das Vaterbild zur profanen Rolle (im Grenzfall: des bloßen Samenspenders). Überhaupt habe die heutige Reproduktionsmedizin dramatische Folgen für die gelebte Praxis von Verwandtschaft und die Machtverteilung zwischen Männern und Frauen, auch für die Konzepte "Sexualität" und "Geschlecht". Von Braun entfaltet das durchaus vergnügt: Die Mutterschaft vervielfältigt sich (Eispenderin, Leihmutter, soziale Mutter und so fort), und mit den inzwischen biotechnisch realisierbaren Varianten von Transgender-Elternschaften brechen Denkmuster einer "natürlichen" Verwandtschaft - wo man sie nicht fundamentalistisch zur Kampfvokabel erhebt - schlicht weg.
Stehen also "verflüssigte" Männlichkeit, Verwandtschaft mit allen oder keinem bevor? Von Braun bejaht das, fordert ein Umdenken der Psychoanalyse, nimmt aber auch im Hinblick auf das Entstehen möglicher neuer Klassenkämpfe kein Blatt vor den Mund. Da ist zum einen der biotechnische Markt: Heute liegt die Macht zur Verwandtschaftsherstellung "im Labor, das sich alle Gestalten der Zeugungs- und Gebärfähigkeit angeeignet hat". Diejenigen, die sich dem Paradigma der "freien Wahl" von Geschlecht und Verwandtschaftsformen ausgeliefert haben, exponieren sich aber auch politisch. Denn ähnlich dem diskriminierenden Muster des "transnationalen Juden" würden heute transformierbare Identitäten von interessierter Seite "zu Gefahrenherden erklärt".
Von Brauns Kulturgeschichte ist unbedingt lesenswert. An Großdiagnosen wie die, der Westen habe an die Blutslinie "geglaubt", muss man allerdings Fragen richten. In der pauschalisierenden Rede vom "Westen" liegt eine echte Schwäche des Buchs. Aktuelle wie historische Beispiele kommen mal aus diesem, mal aus jenem europäischen Land, mal aus Israel, mal aus den Vereinigten Staaten. Unterschiedlichste Sozial- und Wirtschaftsgeschichten wie auch Symbolwelten mit deutlich differenten Gewichtungen von Religion, Säkularität und "Staat" - man vergleiche nur Deutschland und Frankreich in Sachen Vaterschaft oder auch die komplexen Genealogien von Vormundschaft oder Adoption - werden zugunsten eines großen Bogens miteinander vermengt.
Noch irritierender ist aber: Das Recht - von der Verfassungsgeschichte bis zum Familien- und Erbrecht - fehlt im Buch völlig, einschließlich Gesetzgebung, Gerichten und prozeduraler Pragmatik. Recht firmiert bei von Braun schlicht als "Schrift" beziehungsweise "Verschriftung". Die Option einer durch willentliche Handlung gestifteten Verbindung geht damit unter im Bild der roten Tinte, die sich, um als Natur zu gelten, ins "Unbewusste" einschreibt. Ähnlich unterkomplex bleibt die Metapher einer "geistigen Vaterschaft" als Urphänomen staatlicher Machtausübung. Dabei scheint ja doch gerade der Rechtsakt, die vertragliche, sei es mündliche, sei es schriftliche Setzung des Verwandtseins - und zwar schon in der römisch rechtlichen Tradition -, in Europa stets eine "sichere" Form der Verwandtschaft herstellen zu können. Klassisch benötigen so die Adoption, aber auch die Eheschließung selbst gerade nicht "rote Tinte", sondern werden im Wortsinn gemacht, nämlich handlungsförmig vollzogen.
Am Fehlen jeglicher Rechtsgeschichte, in der Recht nicht nur abstrakte Regel ist, sondern auch ein Repertoire potentiell egalitär nutzbarer, wirklichkeitsstiftender Formen, liegt es denn wohl auch, dass von Braun in ihrer Erzählung das Phänomen der modernen Frauenbefreiung nur unter Schwierigkeiten lokalisieren kann. Was den Wandel der Frauenrolle angeht, sind es nur die Biologie samt deren Verwissenschaftlichung von Inter- und Homosexualität und die Genetik, auf die sie sich berufen kann. Obwohl sie festhält, dass die "Emanzipation der Frau nicht das Resultat der geschlechtslosen Gesellschaft, sondern vielmehr Werkzeug auf dem Weg dorthin" sei, bleibt ihr als Erklärung dafür nur eine qua Biologisierung egalitäre Anthropologie.
Hier wäre dem Narrativ von den ab 1800 verblassenden "Blutsbanden" eine Geschichte juridischer, schon ihrer Form nach geschlechtsneutraler Gleichheitsfiguren - Personengesellschaft, Kollegium, Bürgerschaft - mitsamt der Forderung nach Übernahme aller möglichen Rollen durch alle zur Seite zu stellen gewesen. Zur etwas schlichten Zweiteilung von "sinnlich" und "geistig" käme so eine dritte Dimension. Die Engführung auf den einen besonderen Stoff Blut wäre dann freilich nicht mehr so überzeugend.
PETRA GEHRING
Christina von Braun:
"Blutsbande". Verwandtschaft als Kulturgeschichte.
Aufbau Verlag, Berlin 2018. 537 S., Abb., geb., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.03.2018Im Reich der roten Tinte
Christina von Braun will erklären, wie sich unsere Vorstellungen von Verwandtschaft entwickelten
Blut ist ein ganz besondrer Saft! So spricht der Teufel, der darauf besteht, dass Faust die Unterschrift, durch die er seine Seele der Hölle verkauft, mit dieser und keiner anderen Flüssigkeit leiste. Drei Dinge sind hier auf engstem Raum zusammengedacht, deren innige Verwandtschaft den Kern von Christina von Brauns umfangreichem Werk „Blutsbande“ darstellt: Blut, Schrift und Tausch, wobei zum bevorzugten Mittel des Tauschs das Geld wird. „Blutsbande“ nennt sie ihre Kulturgeschichte der Verwandtschaft, oder genauer, wie es der Untertitel formuliert: „Verwandtschaft als Kulturgeschichte“. Es ist ein Buchtitel, der fast gruselig wirkt, weil er das unheimliche Alte in so leuchtend roten Lettern auf dem Umschlag erstrahlen lässt. Das scheinbar Alte: Denn die Bande des Bluts als konstituierendes Element der familiären Zusammengehörigkeit, auch wenn sie tun, als wären sie zeitlos über allen Wandel erhaben, sind, vergleichsweise, jung. Das ist Brauns zentrale These.
Sie spricht vom Blut als von einer „roten Tinte“, ein Ausdruck von starker Suggestionskraft. Braun meint damit, dass die Abstammung in „Blutlinien“ erst in dem Augenblick vollumfänglich erfasst und kodifiziert werden kann, als das Medium der Schrift sie dauerhaft festhält und in einen externen Speicher überführt, in eine Aktenlage. Blut erscheint als Natur schlechthin, als Kultur schlechthin dagegen die Tinte. Aber erst die kulturelle Leistung bewirkt, dass man der vermeintlichen Natur jenen absoluten Respekt zollt, den sie vorher so nicht besessen hatte.
Vom Blut war zwar schon immer die Rede, speziell im Alten Testament; aber nicht im Sinn erblicher Kontinuität, sondern als Sitz des Lebens jeder einzelnen Kreatur. Dieses neue Blut jedoch bildet einerseits einen verlässlichen Bestand, und andererseits kreist es: Darin, so behauptet die Autorin, gleiche es der Geldwirtschaft. Im gezeichneten Stammbaum, einem direkten Abkömmling der Schrift, stelle jeder Einzelne nur einen Knoten dar, der in bestimmtem Verhältnis zu den anderen steht. Diese Auffassung trete gegen Ende des Mittelalters ein und beginne ihre Kraft erst in der Gegenwart mit ihren gelockerten Sitten und erweiterten Reproduktionsmöglichkeiten zu verlieren. Doch auch hier treibe das alte Blut sein Wesen weiterhin, teils in schwer erkennbarer und widerspruchsvoller Weise. Über all das ließe sich streiten; und man ist gespannt, was Braun zur Erhärtung vorzutragen hat.
Das ist leider nicht so viel, wie man erhofft hatte. Bei der Parallelität des „modernen“ Bluts zum Geld zum Beispiel weiß man nie so genau, wo hier die strukturelle Entsprechung läge; über die Metapher und höchstens die Analogie von „Liquidität“, „Zirkulation“ usw. geht sie nicht hinaus. Immer wieder kommt der Leser an Stellen, wo er die Autorin drängen möchte: Jetzt bringen Sie es doch bitte auf den Punkt!
Doch geht dieser Augenblick immer folgenlos vorüber. Dass hier keine schlüssigere Argumentation gelingt, hängt auch damit zusammen, dass die Autorin die neuzeitliche Geldwirtschaft bereits in der Antike durchgesetzt sieht und umgekehrt den modernen kapitalistischen Kredit frohgemut auf das archaische Modell des Gabentauschs zurückführt – was, vorsichtig ausgedrückt, nicht weiterhilft. Da sie über keine eigentliche Methode verfügt, ist sie schutzlos den Verlockungen jeder sich empfehlenden Ähnlichkeit ausgeliefert. Sie umkreist ihre Sache, aber stets in einigem Abstand. Es macht den Leser erst unruhig; dann beginnt es ihn zu frustrieren und schließlich zu langweilen, dass all diese Textmassen letzten Endes zu so wenig führen. Das Buch, das nichts auslassen mag, verdammt sich selbst zur Nacherzählung vieler Dinge, die anderswo schon deutlicher dargestellt worden sind, von Max Webers Herleitung des Kapitalismus aus dem calvinistischen Ethos bis zum angeblichen Hostienfrevel der Juden im Mittelalter. Auch die historischen Kategorien, mit denen Braun operiert, geraten recht unspezifisch. Sie stellt den Süden gegen den Norden, das Mittelalter gegen die Neuzeit, ohne diese Begriffe näher zu bestimmen. Das „Mittelalter“ aber dauert tausend Jahre, es beginnt mit den Finsternissen der Völkerwanderung und endet mit dem Buchdruck. Natürlich lässt sich ein Thema wie die Geschichte der verwandtschaftlichen Beziehungen nicht abhandeln, ohne dass man das Ganze von Gesellschaft und Geschichte im Auge behält. Gerade deshalb freilich hätte es eines klareren Plans bedurft. Braun hat ungeheuer viel gelesen, ist aber schließlich von ihrer Lektüre überwältigt worden.
Das Buch hat einen erkennbaren Kondensationskern: Es interessiert sich zentral für die Frage, wie es im Judentum zum Wechsel von der patrilinearen zur matrilinearen Berechnung der Abstammung kommen konnte – wohlgemerkt ohne dass es dabei seinen patriarchalischen Charakter aufgegeben hätte. Dass die Eigenschaft, Jude zu sein, nun von der Mutter und nicht mehr vom Vater ererbt würde, bringt Braun in Zusammenhang mit der Erfahrung der Diaspora. Nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. und der Zerstreuung der Juden in alle Welt habe es keinen territorialen Ort mehr gegeben, der eine sichere Verknüpfung des Volkes Israel verbürgt hätte, sondern nur noch den Körper der Frau (und die Heilige Schrift, das „portative Vaterland“). Denn es gilt: Die Mutter steht immer fest, der Vater nie. Folgerichtig lasse sich seit Gründung des Staates Israel eine Tendenz erkennen, der väterlichen Herkunft neue Bedeutung zuzuschreiben. Das klingt plausibel.
Mit allem, was das Judentum betrifft, kennt Braun sich sehr gut aus, und der Leser kann hier viel lernen. Außerhalb davon ist sie nicht gleichermaßen sattelfest. Das athenische Fest der „Adonia“ verschreibt sie konsequent als „Adonai“, was einer der hebräischen Namen Gottes ist. Gern verwendet sie lateinisches und griechisches Vokabular, doch ihre Kenntnis dieser Sprachen ist wackelig. Und wenn man immer wieder auf kleine Fehler stößt – etwa dass der heilige Isidor von Sevilla, der im 6./
7. Jahrhundert lebte, ins 12. verlegt wird oder Aeneas (statt Romulus) als der Gründer Roms auftritt –, dann mögen sie als solche nicht viel bedeuten; aber sie fördern beim Lesen ein gewisses Grundmisstrauen.
Doch der Hauptgrund dafür, dass der Ertrag des Buchs so schmal und ungewiss bleibt, liegt woanders. Die Autorin macht sich keine grundsätzlichen Gedanken über das Verhältnis von Kultur und Natur. Natur ist ein Konstrukt, das stimmt schon, besonders wo sie als Argument herhalten soll; aber eben nicht nur. Natur ist auch die Voraussetzung, der alle Kultur aufruht und die von Kultur zugerichtet wird. Sie verhalten sich zueinander wie Stoff und Form. Um ein Beispiel anzuführen, das weniger kontrovers sein mag als Verwandtschaft und Geschlechtlichkeit: Der Mensch muss essen, sonst verhungert er, darin gleicht er den anderen Tieren. Aber wie das geschieht, ob stehend, sitzend oder liegend, ob im großen Kreis oder alleine, ob mit Fingern oder Hummerschere, ob vegan oder robust mit halbrohen Steaks: darin besteht die kulturelle Ausformung der Natur (die sich hier als ein Bedürfnis präsentiert).
Wer das nicht berücksichtigt, der wird Schwierigkeiten haben, Knigge und den Verdauungsprozess auseinanderzuhalten. Und so auch stellen sich (mindestens vor der modernen Reproduktionsmedizin, die nun in der Tat für Neuerungen sorgt) Fortpflanzung und Abstammung als ein natürliches Faktum dar, das notwendig in verschiedenen Kulturen unterschiedlich betrachtet und gewichtet wird, aber immer zunächst einmal vorhanden ist.
„Blutsbande“ entstehen und vergehen nicht, sie liegen vor und werden von jeder Epoche und Gesellschaft irgendwie ins System einbezogen. Ihre Einschätzung ändert sich, jedoch niemals in einem so radikalen Paradigmenwechsel, wie Braun es behauptet. Das Buch beginnt mit der Setzung: „Die Mehrheit der Menschen auf der Welt geht nicht davon aus, dass sich Verwandtschaft durch ,Blutsbande‘ konstituiert. Sie wird nach ganz anderen Merkmalen definiert: gemeinsames Wohnen, die Nahrung teilen, sich von demselben Boden ernähren, zusammen arbeiten, miteinander leiden.“ Dafür aber liefert es keinen Beweis. Wie auch: In den meisten Fällen dürfte es sich so verhalten, dass die Genossen des Alltags wie selbstverständlich auch die Mitglieder derselben, durch Abstammung verbundenen Sippe sind, und umgekehrt; und beides so innig zusammengehört, dass man es gar nicht auseinanderkennt und nicht eigens thematisieren musste. Letztlich handelt es sich, wie auch Braun zugibt, um ein kontinuierliches Spektrum, das sich zwischen den Polen der leiblichen Verwandtschaft und der sozialen Bindung aufspannt. Das aber wussten wir schon.
BURKHARD MÜLLER
Die Autorin ist den Verlockungen
jeder sich empfehlenden
Ähnlichkeit schutzlos ausgeliefert
Blutsbande entstehen
und vergehen
nicht, sie liegen vor
Christina von Braun: Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 537 Seiten, 30 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Christina von Braun will erklären, wie sich unsere Vorstellungen von Verwandtschaft entwickelten
Blut ist ein ganz besondrer Saft! So spricht der Teufel, der darauf besteht, dass Faust die Unterschrift, durch die er seine Seele der Hölle verkauft, mit dieser und keiner anderen Flüssigkeit leiste. Drei Dinge sind hier auf engstem Raum zusammengedacht, deren innige Verwandtschaft den Kern von Christina von Brauns umfangreichem Werk „Blutsbande“ darstellt: Blut, Schrift und Tausch, wobei zum bevorzugten Mittel des Tauschs das Geld wird. „Blutsbande“ nennt sie ihre Kulturgeschichte der Verwandtschaft, oder genauer, wie es der Untertitel formuliert: „Verwandtschaft als Kulturgeschichte“. Es ist ein Buchtitel, der fast gruselig wirkt, weil er das unheimliche Alte in so leuchtend roten Lettern auf dem Umschlag erstrahlen lässt. Das scheinbar Alte: Denn die Bande des Bluts als konstituierendes Element der familiären Zusammengehörigkeit, auch wenn sie tun, als wären sie zeitlos über allen Wandel erhaben, sind, vergleichsweise, jung. Das ist Brauns zentrale These.
Sie spricht vom Blut als von einer „roten Tinte“, ein Ausdruck von starker Suggestionskraft. Braun meint damit, dass die Abstammung in „Blutlinien“ erst in dem Augenblick vollumfänglich erfasst und kodifiziert werden kann, als das Medium der Schrift sie dauerhaft festhält und in einen externen Speicher überführt, in eine Aktenlage. Blut erscheint als Natur schlechthin, als Kultur schlechthin dagegen die Tinte. Aber erst die kulturelle Leistung bewirkt, dass man der vermeintlichen Natur jenen absoluten Respekt zollt, den sie vorher so nicht besessen hatte.
Vom Blut war zwar schon immer die Rede, speziell im Alten Testament; aber nicht im Sinn erblicher Kontinuität, sondern als Sitz des Lebens jeder einzelnen Kreatur. Dieses neue Blut jedoch bildet einerseits einen verlässlichen Bestand, und andererseits kreist es: Darin, so behauptet die Autorin, gleiche es der Geldwirtschaft. Im gezeichneten Stammbaum, einem direkten Abkömmling der Schrift, stelle jeder Einzelne nur einen Knoten dar, der in bestimmtem Verhältnis zu den anderen steht. Diese Auffassung trete gegen Ende des Mittelalters ein und beginne ihre Kraft erst in der Gegenwart mit ihren gelockerten Sitten und erweiterten Reproduktionsmöglichkeiten zu verlieren. Doch auch hier treibe das alte Blut sein Wesen weiterhin, teils in schwer erkennbarer und widerspruchsvoller Weise. Über all das ließe sich streiten; und man ist gespannt, was Braun zur Erhärtung vorzutragen hat.
Das ist leider nicht so viel, wie man erhofft hatte. Bei der Parallelität des „modernen“ Bluts zum Geld zum Beispiel weiß man nie so genau, wo hier die strukturelle Entsprechung läge; über die Metapher und höchstens die Analogie von „Liquidität“, „Zirkulation“ usw. geht sie nicht hinaus. Immer wieder kommt der Leser an Stellen, wo er die Autorin drängen möchte: Jetzt bringen Sie es doch bitte auf den Punkt!
Doch geht dieser Augenblick immer folgenlos vorüber. Dass hier keine schlüssigere Argumentation gelingt, hängt auch damit zusammen, dass die Autorin die neuzeitliche Geldwirtschaft bereits in der Antike durchgesetzt sieht und umgekehrt den modernen kapitalistischen Kredit frohgemut auf das archaische Modell des Gabentauschs zurückführt – was, vorsichtig ausgedrückt, nicht weiterhilft. Da sie über keine eigentliche Methode verfügt, ist sie schutzlos den Verlockungen jeder sich empfehlenden Ähnlichkeit ausgeliefert. Sie umkreist ihre Sache, aber stets in einigem Abstand. Es macht den Leser erst unruhig; dann beginnt es ihn zu frustrieren und schließlich zu langweilen, dass all diese Textmassen letzten Endes zu so wenig führen. Das Buch, das nichts auslassen mag, verdammt sich selbst zur Nacherzählung vieler Dinge, die anderswo schon deutlicher dargestellt worden sind, von Max Webers Herleitung des Kapitalismus aus dem calvinistischen Ethos bis zum angeblichen Hostienfrevel der Juden im Mittelalter. Auch die historischen Kategorien, mit denen Braun operiert, geraten recht unspezifisch. Sie stellt den Süden gegen den Norden, das Mittelalter gegen die Neuzeit, ohne diese Begriffe näher zu bestimmen. Das „Mittelalter“ aber dauert tausend Jahre, es beginnt mit den Finsternissen der Völkerwanderung und endet mit dem Buchdruck. Natürlich lässt sich ein Thema wie die Geschichte der verwandtschaftlichen Beziehungen nicht abhandeln, ohne dass man das Ganze von Gesellschaft und Geschichte im Auge behält. Gerade deshalb freilich hätte es eines klareren Plans bedurft. Braun hat ungeheuer viel gelesen, ist aber schließlich von ihrer Lektüre überwältigt worden.
Das Buch hat einen erkennbaren Kondensationskern: Es interessiert sich zentral für die Frage, wie es im Judentum zum Wechsel von der patrilinearen zur matrilinearen Berechnung der Abstammung kommen konnte – wohlgemerkt ohne dass es dabei seinen patriarchalischen Charakter aufgegeben hätte. Dass die Eigenschaft, Jude zu sein, nun von der Mutter und nicht mehr vom Vater ererbt würde, bringt Braun in Zusammenhang mit der Erfahrung der Diaspora. Nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. und der Zerstreuung der Juden in alle Welt habe es keinen territorialen Ort mehr gegeben, der eine sichere Verknüpfung des Volkes Israel verbürgt hätte, sondern nur noch den Körper der Frau (und die Heilige Schrift, das „portative Vaterland“). Denn es gilt: Die Mutter steht immer fest, der Vater nie. Folgerichtig lasse sich seit Gründung des Staates Israel eine Tendenz erkennen, der väterlichen Herkunft neue Bedeutung zuzuschreiben. Das klingt plausibel.
Mit allem, was das Judentum betrifft, kennt Braun sich sehr gut aus, und der Leser kann hier viel lernen. Außerhalb davon ist sie nicht gleichermaßen sattelfest. Das athenische Fest der „Adonia“ verschreibt sie konsequent als „Adonai“, was einer der hebräischen Namen Gottes ist. Gern verwendet sie lateinisches und griechisches Vokabular, doch ihre Kenntnis dieser Sprachen ist wackelig. Und wenn man immer wieder auf kleine Fehler stößt – etwa dass der heilige Isidor von Sevilla, der im 6./
7. Jahrhundert lebte, ins 12. verlegt wird oder Aeneas (statt Romulus) als der Gründer Roms auftritt –, dann mögen sie als solche nicht viel bedeuten; aber sie fördern beim Lesen ein gewisses Grundmisstrauen.
Doch der Hauptgrund dafür, dass der Ertrag des Buchs so schmal und ungewiss bleibt, liegt woanders. Die Autorin macht sich keine grundsätzlichen Gedanken über das Verhältnis von Kultur und Natur. Natur ist ein Konstrukt, das stimmt schon, besonders wo sie als Argument herhalten soll; aber eben nicht nur. Natur ist auch die Voraussetzung, der alle Kultur aufruht und die von Kultur zugerichtet wird. Sie verhalten sich zueinander wie Stoff und Form. Um ein Beispiel anzuführen, das weniger kontrovers sein mag als Verwandtschaft und Geschlechtlichkeit: Der Mensch muss essen, sonst verhungert er, darin gleicht er den anderen Tieren. Aber wie das geschieht, ob stehend, sitzend oder liegend, ob im großen Kreis oder alleine, ob mit Fingern oder Hummerschere, ob vegan oder robust mit halbrohen Steaks: darin besteht die kulturelle Ausformung der Natur (die sich hier als ein Bedürfnis präsentiert).
Wer das nicht berücksichtigt, der wird Schwierigkeiten haben, Knigge und den Verdauungsprozess auseinanderzuhalten. Und so auch stellen sich (mindestens vor der modernen Reproduktionsmedizin, die nun in der Tat für Neuerungen sorgt) Fortpflanzung und Abstammung als ein natürliches Faktum dar, das notwendig in verschiedenen Kulturen unterschiedlich betrachtet und gewichtet wird, aber immer zunächst einmal vorhanden ist.
„Blutsbande“ entstehen und vergehen nicht, sie liegen vor und werden von jeder Epoche und Gesellschaft irgendwie ins System einbezogen. Ihre Einschätzung ändert sich, jedoch niemals in einem so radikalen Paradigmenwechsel, wie Braun es behauptet. Das Buch beginnt mit der Setzung: „Die Mehrheit der Menschen auf der Welt geht nicht davon aus, dass sich Verwandtschaft durch ,Blutsbande‘ konstituiert. Sie wird nach ganz anderen Merkmalen definiert: gemeinsames Wohnen, die Nahrung teilen, sich von demselben Boden ernähren, zusammen arbeiten, miteinander leiden.“ Dafür aber liefert es keinen Beweis. Wie auch: In den meisten Fällen dürfte es sich so verhalten, dass die Genossen des Alltags wie selbstverständlich auch die Mitglieder derselben, durch Abstammung verbundenen Sippe sind, und umgekehrt; und beides so innig zusammengehört, dass man es gar nicht auseinanderkennt und nicht eigens thematisieren musste. Letztlich handelt es sich, wie auch Braun zugibt, um ein kontinuierliches Spektrum, das sich zwischen den Polen der leiblichen Verwandtschaft und der sozialen Bindung aufspannt. Das aber wussten wir schon.
BURKHARD MÜLLER
Die Autorin ist den Verlockungen
jeder sich empfehlenden
Ähnlichkeit schutzlos ausgeliefert
Blutsbande entstehen
und vergehen
nicht, sie liegen vor
Christina von Braun: Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 537 Seiten, 30 Euro. E-Book 19,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Rezensent Cord Riechelmann folgt Christina von Braun fasziniert durch ihre Kulturgeschichte der Verwandtschaft. Laut Kritiker schlägt Braun einen Bogen von frühen, vermeintlich archaischen Arten der Wahlverwandtschaft über das lange Zeit in der westlichen Welt dominante Bild der Blutsverwandtschaft hin zu den heutigen Formen familiärer Mobilität. Riechelmann lernt von ihr, dass die Tradition, Verwandtschaft als patrilineare Blutsbande zu bestimmen, derzeit durch den Siegeszug der Patchworkfamilie, die homosexuelle Elternschaft sowie die Möglichkeiten, die die zeitgenössische Reproduktionsmedizin eröffnet, an Boden verliert. Dass Braun Professorin für Kulturtheorie mit Schwerpunkt Geschlecht und Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin ist, spürt der Kritiker: Man könne trotz des hohen Abstraktionsgrades immer gut folgen, freut sich der Rezensent. Besonders vergnügt hat er Brauns Forderung an die Psychoanalyse gelesen, ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln, das über das im Modell der Blutsverwandtschaft verhaftete Dreieck Vater, Mutter, Kind hinausgehe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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» Der Leser kann hier viel lernen. (...) Blutsbande entstehen und vergehen nicht, sie liegen vor. « Süddeutsche Zeitung 20180319