Mit dem "Bocksgesang" debütierte der Petersburger Lyriker Konstantin Konstantinovic Vaginov (1899-1935) als Romanautor.
Mittels einer weithin szenischen Darstellung führt Vaginov einen Prozess vor Augen, von dem er selbst in besonderem Maße betroffen war: das Schicksal der Petersburger Intellektuellen, von denen viele in dem Roman wiederzuerkennen sind, und ihre komplexe Entwicklung zwischen Anpassung und Ausgrenzung im sozialistischen Alltag des neuen Leningrad. Diese Entwicklung - der Bruch in oder mit einer Epoche ist in unseren Zeiten wieder ein aktuelles Thema - wird als das gezeigt, was es letztlich für alle ist: eine Tradögie, ein "Bocksgesang" eben.
Mittels einer weithin szenischen Darstellung führt Vaginov einen Prozess vor Augen, von dem er selbst in besonderem Maße betroffen war: das Schicksal der Petersburger Intellektuellen, von denen viele in dem Roman wiederzuerkennen sind, und ihre komplexe Entwicklung zwischen Anpassung und Ausgrenzung im sozialistischen Alltag des neuen Leningrad. Diese Entwicklung - der Bruch in oder mit einer Epoche ist in unseren Zeiten wieder ein aktuelles Thema - wird als das gezeigt, was es letztlich für alle ist: eine Tradögie, ein "Bocksgesang" eben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2000Kleines Sargtheater
Eine Entdeckung: Vaginovs "Bocksgesang" · Von Ralph Dutli
Joseph Brodsky nannte ihn einen "phänomenalen Schriftsteller". Konstantin Vaginov (1899 bis 1934) gilt als letzte große Entdeckung aus der Zeit der russischen Spätavantgarde vom Ende der zwanziger Jahre. Über fünf Jahrzehnte lang war er in der Sowjetunion völlig vergessen. Erst 1991 wurden seine vier experimentellen Romane wieder ediert, in den beiden folgenden Jahren erschienen Schlag auf Schlag deutsche Übersetzungen.
Nun liegt auch das letzte Mosaikstück auf Deutsch vor: der faszinierende Roman-Erstling "Bocksgesang" von 1928, vorzüglich übersetzt und mit nützlichen Anmerkungen versehen von Gerhard Hacker und begleitet von einer geradezu üppigen, informativen Studie von Brian Poole. Dass ausgerechnet dem Kleinstverlag Johannes Lang das Verdienst dieses letzten Streichs zukommt, hat seine ironische Logik. Als ob der ewige Sonderling, der melancholische Bücher- und Träumersammler Vaginov nur bei einem engagierten Verlagswinzling erneut das Licht der lesenden Welt erblicken wollte. Wenn die Verlagsprogramme sich gleichen wie ein Ei dem andern, werden die Sensationen immer öfter aus den Nischen schießen.
Vaginov ist ein Autor der Stadt, die schon in Gogols "Petersburger Novellen" und in Andrej Belyjs epochalem Roman "Petersburg" dämonisiert wurde. Sein "Bocksgesang" führt ein versumpfendes, vertierendes Petersburg vor: "Petersburg trägt für mich seit einiger Zeit eine grünliche Farbe, die flimmert und flammt, eine schreckliche Farbe, wie Phosphor . . . Und es sind keine Menschen mehr, die durch die Straßen gehen: ein Blick unters Hütchen - da, ein Schlangenkopf; du fixierst ein altes Mütterchen - dort sitzt eine Kröte und wälzt ihren Wanst . . . Du kommst ins Museum: der Führer weiß, dass er lügt, und er lügt immerfort."
Geboren wurde Vaginov 1899 in Sankt Petersburg als Sohn eines Gendarmerieoberst deutscher Herkunft und der Tochter eines schwerreichen sibirischen Goldgrubenbesitzers. Der Oktoberumsturz der Bolschewiken machte das Familienvermögen zunichte. Kaum dem Gymnasium entschlüpft, trieb sich Vaginov nächtelang, von Kokain aufgeputscht, in einer von Erschießungen und Hunger verstörten Stadt herum. Anfang 1918 wurde er zur Roten Armee eingezogen, war an der polnischen Front und hinter dem Ural und kehrte 1921 mit herausgeschlagenen Zähnen ins verwüstete Petrograd zurück. Auch seinen Romangestalten werden - Sinnbilder des Mangels - öfter Zähne, Haare, Finger fehlen.
Vaginow, seit seiner Schulzeit ein fiebriger Leser von Edward Gibbons "Verfall und Untergang des Römischen Reiches", überblendet in seinen dichterischen Texten die Sowjetstadt mit antiken Bildern und Mythen. "Ich bin im Bauernrock Dichter. Den Schädel kahl geschoren. Auf der Vyborger Seite voll Schnee und Kattun, in der Baracke Nummer neun habe ich das Rad in die Antike zurückgedreht", heißt es im frühen Prosagedicht "Der Stern von Bethlehem" von 1922 (auf deutsch vor acht Jahren in der Friedenauer Presse erschienen). Antikes wird mit dem armseligen Sowjetalltag gekreuzt und schafft markante Schocks.
Ab 1927 gehörte Vaginov zur letzten bedeutenden Vereinigung der russischen Avantgarde mit dem kryptischen Namen "Oberiu" ("Vereinigung der Realen Kunst"). Es waren die russischen "Absurdisten" um Daniil Charms und Alexander Wwedenskij, jene von den politischen Verhältnissen zu bitterer Ernsthaftigkeit verdammten Sprach-Clowns, die dank der Vermittlung des Übersetzers Peter Urban seit einigen Jahren auch im deutschen Sprachraum keine Unbekannten mehr sind. Ein umfassendes Dossier zu "Oberiu", in dem auch Vaginow seinen Platz hat, erschien 1992 in zwei legendären Nummern der Zeitschrift "Schreibheft" (Nummer 39 und Nummer 40).
Die provokativen Auftritte der Oberiuten wurden prompt von der Sowjetkritik als "literarisches Rowdytum" attackiert, 1931 wurde die Gruppe unter proletarisch-offiziöser Schmähpropaganda zerschlagen. Charms verhungerte 1942 im Gefängnis, Wwedenskij kam unter ungeklärten Umständen 1941 ebenfalls in der Haft um. Vaginov sollte die eigentliche Terrorzeit nicht mehr erleben: Er starb am 26. April 1934 fünfunddreißigjährig an Tuberkulose. Seine Verhaftung stand unmittelbar bevor: Da die GPU-Agenten keinen Toten abführen konnten, nahmen sie dessen Mutter mit.
Das Jahr 1928 war das Geburtsjahr des Romanciers Vaginov. "Bocksgesang" machte in Leningrad sofort als Schlüsselroman der Literaturszene Furore. Auch Vaginov selber hat sich als der "unbekannte Dichter" in seinen Roman eingeschrieben. Er gehörte dem "Bachtin-Kreis" an, einer Gruppe von Gelehrten und Künstlern um den Literaturwissenschaftler Michail Bachtin, den damals kaum gedruckten Theorie-Fürsten des Zusammenhangs von Literatur und Karneval, der im Roman als "der Philosoph" auftritt.
Vaginovs Erstling ist ein komplexes erzählerisches Experiment, ein Laboratorium von Erzählgesten. Aufgrund seines folgenden Kabinettstücks "Werke und Tage des Svistonov" (1929, deutsch 1992), eines Romans über die Entstehung des Romans, hat man Vaginov in den letzten Jahren zum Erfinder des Postmodernismus geadelt, und "Bocksgesang" wird genauso für ein anachronistisches Pfingstwunder herhalten müssen. Doch Vaginov ist ein genuiner Spross der russischen Moderne, die tragische Gestalt des Avantgardisten, der dazu verdammt ist, zum Archivar zu werden.
Vaginov war ein leidenschaftlicher Büchersammler. Auch seine Romanhelden kennen seltsame Sammlermarotten. Nicht nur Träume werden dort gesammelt, gekauft, gehandelt, auch Finger- und Zehennägel, Haarbüschel und Zähne. Der Reflex des Bewahrens menschlicher Alltagsrituale artet zu stumpfsinnigem Katalogisieren aus.
"Bocksgesang" ist eine Porträtgalerie von merkwürdigen Käuzen der Petersburger Intelligenzia. Teptjolkin, der Schöngeist, ruft einem verblüfften Publikum zu: "Wir sind die letzte Insel der Renaissance im dogmatischen Meer . . . Wir bewahren die Lichtfunken des Kritizismus, die Achtung vor den Wissenschaften, die Achtung vor dem Menschen." Doch es wäre allzu prächtig, besänge "Bocksgesang" hochgemut die humanistisch gesinnten Bewahrer der gefährdeten Kultur. In Wirklichkeit ist der Roman ein vielstimmiger Bericht tiefer Versehrtheit und Verstörung. "Bocksgesang" ist die wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes "Tragödie", und wie in einer antiken Tragödie gibt es auch hier keine Verschonten.
Der fiktive Autor von "Bocksgesang" ist ein Krüppel mit drei Fingern an der linken und vier an der rechten Hand. Im Grunde sind alle Romane Vaginovs "Krüppel-Reigen", groteske Paraden abgewrackter Intellektueller. Etwas ungemütlich Unfrohes liegt auf diesen quirligen, "karnevalistischen" Romanen. Vom Karneval zum Totentanz ist es nicht weit. Der Erzähler bezeichnet seinen Roman als "kleinen Sarg". Teptjolkin, die Hauptfigur, wird endlich Liebe finden und seine Angebetete doch an den Tod abtreten müssen. Agafonov, "der letzte Lyriker", erschießt sich.
Noch hinterhältiger aber ist der geistige Tod. Er droht allen Mitgliedern der spirituellen Bruderschaft, die sich einmal als "schrecklich schöne Menschen" sahen und sich jetzt abstrampeln im vergeblichen Versuch, einem zermürbenden Alltag noch geistige Funken abzutrotzen. Das "Zeitalter der Niedertracht" wird sie alle zur Strecke bringen. Kotikov schreibt eine devote Dichterbiographie, äfft den verstorbenen Dichter nach, heiratet dessen Witwe und erfreut sich als Zahnarzt am Gold in den Mündern seiner Patienten. Selbst der einstige Idealist Teptjolkin pflanzt nur noch Stiefmütterchen und verkommt zum braven Sowjetbürger. Und der Autor? "Der traurige dreifingrige Autor kommt mit seinen Helden hinaus auf die Bühne und verbeugt sich."
Die Illusionslosigkeit des "unbekannten Dichters" wird von Vaginovs später Wiederentdeckung widerlegt, sein Roman ist heute von erstaunlicher Aktualität. Nicht nur in Russland, wo die schreibende Zunft sich zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert in den Trümmern eines kaputten Weltreiches wiederfindet, sondern auch im Westen, wo Künstler und Intellektuelle in einem vom Medienmüll verstopften Marktzwinger nervös zappelnd ihre grotesken Rückzugsgefechte austragen. Dieser dreifingrige Autor hat ein Händchen gerade für unsere Zeit.
Konstantin K. Vaginov: "Bocksgesang". Roman. Hrsg. und aus dem Russischen übersetzt von Gerhard Hacker. Mit einem Essay von Brian Poole. Verlag Johannes Lang, Münster 1999. 304 S., br., 48,- DM.
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Eine Entdeckung: Vaginovs "Bocksgesang" · Von Ralph Dutli
Joseph Brodsky nannte ihn einen "phänomenalen Schriftsteller". Konstantin Vaginov (1899 bis 1934) gilt als letzte große Entdeckung aus der Zeit der russischen Spätavantgarde vom Ende der zwanziger Jahre. Über fünf Jahrzehnte lang war er in der Sowjetunion völlig vergessen. Erst 1991 wurden seine vier experimentellen Romane wieder ediert, in den beiden folgenden Jahren erschienen Schlag auf Schlag deutsche Übersetzungen.
Nun liegt auch das letzte Mosaikstück auf Deutsch vor: der faszinierende Roman-Erstling "Bocksgesang" von 1928, vorzüglich übersetzt und mit nützlichen Anmerkungen versehen von Gerhard Hacker und begleitet von einer geradezu üppigen, informativen Studie von Brian Poole. Dass ausgerechnet dem Kleinstverlag Johannes Lang das Verdienst dieses letzten Streichs zukommt, hat seine ironische Logik. Als ob der ewige Sonderling, der melancholische Bücher- und Träumersammler Vaginov nur bei einem engagierten Verlagswinzling erneut das Licht der lesenden Welt erblicken wollte. Wenn die Verlagsprogramme sich gleichen wie ein Ei dem andern, werden die Sensationen immer öfter aus den Nischen schießen.
Vaginov ist ein Autor der Stadt, die schon in Gogols "Petersburger Novellen" und in Andrej Belyjs epochalem Roman "Petersburg" dämonisiert wurde. Sein "Bocksgesang" führt ein versumpfendes, vertierendes Petersburg vor: "Petersburg trägt für mich seit einiger Zeit eine grünliche Farbe, die flimmert und flammt, eine schreckliche Farbe, wie Phosphor . . . Und es sind keine Menschen mehr, die durch die Straßen gehen: ein Blick unters Hütchen - da, ein Schlangenkopf; du fixierst ein altes Mütterchen - dort sitzt eine Kröte und wälzt ihren Wanst . . . Du kommst ins Museum: der Führer weiß, dass er lügt, und er lügt immerfort."
Geboren wurde Vaginov 1899 in Sankt Petersburg als Sohn eines Gendarmerieoberst deutscher Herkunft und der Tochter eines schwerreichen sibirischen Goldgrubenbesitzers. Der Oktoberumsturz der Bolschewiken machte das Familienvermögen zunichte. Kaum dem Gymnasium entschlüpft, trieb sich Vaginov nächtelang, von Kokain aufgeputscht, in einer von Erschießungen und Hunger verstörten Stadt herum. Anfang 1918 wurde er zur Roten Armee eingezogen, war an der polnischen Front und hinter dem Ural und kehrte 1921 mit herausgeschlagenen Zähnen ins verwüstete Petrograd zurück. Auch seinen Romangestalten werden - Sinnbilder des Mangels - öfter Zähne, Haare, Finger fehlen.
Vaginow, seit seiner Schulzeit ein fiebriger Leser von Edward Gibbons "Verfall und Untergang des Römischen Reiches", überblendet in seinen dichterischen Texten die Sowjetstadt mit antiken Bildern und Mythen. "Ich bin im Bauernrock Dichter. Den Schädel kahl geschoren. Auf der Vyborger Seite voll Schnee und Kattun, in der Baracke Nummer neun habe ich das Rad in die Antike zurückgedreht", heißt es im frühen Prosagedicht "Der Stern von Bethlehem" von 1922 (auf deutsch vor acht Jahren in der Friedenauer Presse erschienen). Antikes wird mit dem armseligen Sowjetalltag gekreuzt und schafft markante Schocks.
Ab 1927 gehörte Vaginov zur letzten bedeutenden Vereinigung der russischen Avantgarde mit dem kryptischen Namen "Oberiu" ("Vereinigung der Realen Kunst"). Es waren die russischen "Absurdisten" um Daniil Charms und Alexander Wwedenskij, jene von den politischen Verhältnissen zu bitterer Ernsthaftigkeit verdammten Sprach-Clowns, die dank der Vermittlung des Übersetzers Peter Urban seit einigen Jahren auch im deutschen Sprachraum keine Unbekannten mehr sind. Ein umfassendes Dossier zu "Oberiu", in dem auch Vaginow seinen Platz hat, erschien 1992 in zwei legendären Nummern der Zeitschrift "Schreibheft" (Nummer 39 und Nummer 40).
Die provokativen Auftritte der Oberiuten wurden prompt von der Sowjetkritik als "literarisches Rowdytum" attackiert, 1931 wurde die Gruppe unter proletarisch-offiziöser Schmähpropaganda zerschlagen. Charms verhungerte 1942 im Gefängnis, Wwedenskij kam unter ungeklärten Umständen 1941 ebenfalls in der Haft um. Vaginov sollte die eigentliche Terrorzeit nicht mehr erleben: Er starb am 26. April 1934 fünfunddreißigjährig an Tuberkulose. Seine Verhaftung stand unmittelbar bevor: Da die GPU-Agenten keinen Toten abführen konnten, nahmen sie dessen Mutter mit.
Das Jahr 1928 war das Geburtsjahr des Romanciers Vaginov. "Bocksgesang" machte in Leningrad sofort als Schlüsselroman der Literaturszene Furore. Auch Vaginov selber hat sich als der "unbekannte Dichter" in seinen Roman eingeschrieben. Er gehörte dem "Bachtin-Kreis" an, einer Gruppe von Gelehrten und Künstlern um den Literaturwissenschaftler Michail Bachtin, den damals kaum gedruckten Theorie-Fürsten des Zusammenhangs von Literatur und Karneval, der im Roman als "der Philosoph" auftritt.
Vaginovs Erstling ist ein komplexes erzählerisches Experiment, ein Laboratorium von Erzählgesten. Aufgrund seines folgenden Kabinettstücks "Werke und Tage des Svistonov" (1929, deutsch 1992), eines Romans über die Entstehung des Romans, hat man Vaginov in den letzten Jahren zum Erfinder des Postmodernismus geadelt, und "Bocksgesang" wird genauso für ein anachronistisches Pfingstwunder herhalten müssen. Doch Vaginov ist ein genuiner Spross der russischen Moderne, die tragische Gestalt des Avantgardisten, der dazu verdammt ist, zum Archivar zu werden.
Vaginov war ein leidenschaftlicher Büchersammler. Auch seine Romanhelden kennen seltsame Sammlermarotten. Nicht nur Träume werden dort gesammelt, gekauft, gehandelt, auch Finger- und Zehennägel, Haarbüschel und Zähne. Der Reflex des Bewahrens menschlicher Alltagsrituale artet zu stumpfsinnigem Katalogisieren aus.
"Bocksgesang" ist eine Porträtgalerie von merkwürdigen Käuzen der Petersburger Intelligenzia. Teptjolkin, der Schöngeist, ruft einem verblüfften Publikum zu: "Wir sind die letzte Insel der Renaissance im dogmatischen Meer . . . Wir bewahren die Lichtfunken des Kritizismus, die Achtung vor den Wissenschaften, die Achtung vor dem Menschen." Doch es wäre allzu prächtig, besänge "Bocksgesang" hochgemut die humanistisch gesinnten Bewahrer der gefährdeten Kultur. In Wirklichkeit ist der Roman ein vielstimmiger Bericht tiefer Versehrtheit und Verstörung. "Bocksgesang" ist die wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes "Tragödie", und wie in einer antiken Tragödie gibt es auch hier keine Verschonten.
Der fiktive Autor von "Bocksgesang" ist ein Krüppel mit drei Fingern an der linken und vier an der rechten Hand. Im Grunde sind alle Romane Vaginovs "Krüppel-Reigen", groteske Paraden abgewrackter Intellektueller. Etwas ungemütlich Unfrohes liegt auf diesen quirligen, "karnevalistischen" Romanen. Vom Karneval zum Totentanz ist es nicht weit. Der Erzähler bezeichnet seinen Roman als "kleinen Sarg". Teptjolkin, die Hauptfigur, wird endlich Liebe finden und seine Angebetete doch an den Tod abtreten müssen. Agafonov, "der letzte Lyriker", erschießt sich.
Noch hinterhältiger aber ist der geistige Tod. Er droht allen Mitgliedern der spirituellen Bruderschaft, die sich einmal als "schrecklich schöne Menschen" sahen und sich jetzt abstrampeln im vergeblichen Versuch, einem zermürbenden Alltag noch geistige Funken abzutrotzen. Das "Zeitalter der Niedertracht" wird sie alle zur Strecke bringen. Kotikov schreibt eine devote Dichterbiographie, äfft den verstorbenen Dichter nach, heiratet dessen Witwe und erfreut sich als Zahnarzt am Gold in den Mündern seiner Patienten. Selbst der einstige Idealist Teptjolkin pflanzt nur noch Stiefmütterchen und verkommt zum braven Sowjetbürger. Und der Autor? "Der traurige dreifingrige Autor kommt mit seinen Helden hinaus auf die Bühne und verbeugt sich."
Die Illusionslosigkeit des "unbekannten Dichters" wird von Vaginovs später Wiederentdeckung widerlegt, sein Roman ist heute von erstaunlicher Aktualität. Nicht nur in Russland, wo die schreibende Zunft sich zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert in den Trümmern eines kaputten Weltreiches wiederfindet, sondern auch im Westen, wo Künstler und Intellektuelle in einem vom Medienmüll verstopften Marktzwinger nervös zappelnd ihre grotesken Rückzugsgefechte austragen. Dieser dreifingrige Autor hat ein Händchen gerade für unsere Zeit.
Konstantin K. Vaginov: "Bocksgesang". Roman. Hrsg. und aus dem Russischen übersetzt von Gerhard Hacker. Mit einem Essay von Brian Poole. Verlag Johannes Lang, Münster 1999. 304 S., br., 48,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Richtig dankbar ist der Rezensent Thomas Grob dem Verlag Johannes Lang für die deutsche Veröffentlichung dieses 1928 erschienenen Romans von Konstantin Vaginov. Er bezeichnet das Buch als "skurriles Jahrhundertbuch" und lobt es als facettenreich: "Vexierspiel [?], literatur- und kulturgeschichtliches Kaleidoskop oder [?] ironisch-tragische Zeitaufnahme". Auch stilistisch findet Grob den Autor, der in verschiedenen Künstlerkreisen verkehrte (auch dieses Buch spielt in einem Kreis von Künstlern und Intellektuellen), faszinierend: Vaginov nimmt hier Schreibweisen vorweg, "die Jahrzehnte später als `postmodern` gelten werden", schwärmt Grob. Ein besonderes Lob hat er noch für die Übersetzung von Gerhard Hacker sowie für die gesamte Aufmachung der deutschen Ausgabe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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