Liebe und Hass zu Prag liegen für Peter Demetz nah beieinander. 1948 musste der heute in den USA lebende Wanderer zwischen den Sprachen unter lebensgefährlichen Umständen seine Stadt verlassen. Böhmen - seiner Heimat - widmet er nun seinen neuen Essayband.
Inwieweit lässt das Nebeneinander verschiedener Sprachen und Ethnien ein tschechisches Nationalitätsbewusstsein zu? Welche Rolle spielt Literatur? Und wie wird damit während eines politischen Ausnahmezustandes umgegangen?
In zehn Variationen geht Demetz den Zusammenhängen zwischen Politik und Literatur auf den Grund. Lehrreich und erhellend, ohne jemals belehrend zu sein.
Inwieweit lässt das Nebeneinander verschiedener Sprachen und Ethnien ein tschechisches Nationalitätsbewusstsein zu? Welche Rolle spielt Literatur? Und wie wird damit während eines politischen Ausnahmezustandes umgegangen?
In zehn Variationen geht Demetz den Zusammenhängen zwischen Politik und Literatur auf den Grund. Lehrreich und erhellend, ohne jemals belehrend zu sein.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.2007Die Hinternationale
Wurzelsuche: Peter Demetz erzählt von böhmischen Dörfern
Er habe keine Wurzeln, er sei doch keine Kartoffel, entgegnete Peter Demetz unlängst etwas unwirsch bei einer Lesung in Berlin. Damit wies er die junge Fragende, die nach dem nationalen Zugehörigkeitsgefühl, nach Heimat und Sprachdominanz im Leben des emeritierten Yale-Professors, Germanisten, Bohemisten und Essayisten fahndete, in die Schranken. Demetz, 1922 als Sohn einer tschechischen Jüdin und eines ladinischen Südtirolers in Prag geboren, gilt als einer der letzten Zeugen jenes weltoffenen, mehrsprachigen und, wie es heute nicht mehr ganz unbelastet heißen mag, multikulturellen Böhmens, das mit dem Exodus und der Vernichtung der Juden und später mit der Vertreibung der Deutschen ein Ende fand.
Nach der Rückkehr von der Zwangsarbeit in einem "Halbjudenlager" studierte Peter Demetz in Prag und floh, gerade frisch promoviert, vor den Kommunisten in den Westen. Seit nunmehr einem halben Jahrhundert sucht er unermüdlich den Genius Loci seiner Heimatstadt, deren intellektuelle und kulturelle Hybride jenseits von Golem-Mythos und Klischee vom goldenen Prag in seinen Büchern festzuhalten. Dabei blieb er gegenüber jeglicher Form eines irrationalen Lokal- oder Nationalpatriotismus immun, unverbesserlich "hinternational", wie sein Freund und Schriftstellerkollege Johannes Urzidil diese Geisteshaltung in seinem "Prager Triptychon" nannte, die eine Bindung der Nation an Sprache oder gar Ethnie stets als Irrweg sah.
In der jetzt erschienenen Essaysammlung skizziert Demetz in der für ihn typischen unprätentiösen Gelehrsamkeit und mit der Eleganz eines literarischen Flaneurs historische Momente dieses für Europa nicht nur geographisch zentralen Raums, der für viele, vor allem jüngere Deutsche eine Terra incognita geblieben ist. Die deutschen, tschechischen und jüdischen Facetten werden dabei in einem großen Bogen miteinander verbunden.
Wie überhaupt eine nationale Erzählung zustande kommt und was sie ausmacht, ist für den Autor eine wichtige Frage, der er anhand der tschechischen Geistesgeschichte nachgeht, die als symptomatisch gelten kann. Die nationalen Narrationen bleiben für ihn freilich immer Fiktion und Imagination. Wer wurde wie in den Kanon der Nationalhelden aufgenommen, und wie definierte man zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts die tschechische Nation: eher sprachlich und kulturell, wie Josef Jungmann es bevorzugte, oder im Sinne des katholischen Geistlichen Bernard Bolzano als Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger? Daran, dass sich in den verspäteten Nationen Ost- und Mittelosteuropas der sprachliche und kulturelle Dominanzgedanke und nicht die Idee des Bürgerstaates durchgesetzt hat, kranken die Regionen von Berlin über Belgrad und Bukarest noch heute. Die tschechische Imagination orientierte sich, so Demetz, an symbolischen Figuren, von denen man meinte und meint, dass sie durch und durch tschechisch waren, wie der heilige Wenzel oder Jan Hus, während andere, wie König Premysl Ottokar II., ein imperialer, geradezu shakespearescher Herrscher, in den Marginalien verschwinden.
Im Prozess ständiger Abgrenzung und wirtschaftlicher wie kultureller Emanzipation blieb manches auf der Strecke. Ein Opfer der permanenten freiwilligen und unfreiwilligen Akkulturation war bereits im neunzehnten Jahrhundert das Prager Jiddisch. Die deutschen Juden wollten Armut und Bedrängnis hinter sich lassen, die tschechischen sahen im Jiddisch ein deutsches Element, das ihrem slawisch-tschechischen Bewusstsein im Wege stand.
Doch es gab stets auch Widerstand gegen die ideologische und nationale Vereinnahmung von Sprache und Kultur: Der Arzt Siegfried Kapper ist im neunzehnten Jahrhundert Jude und tschechischer Poet zugleich, der slawische Lyrik ins Deutsche übersetzt; der tschechische Lyriker und Jude Jirí Orten befasste sich 1941 noch auf dem Totenbett mit Rilke; Viktor Ullmann komponierte in Theresienstadt eine Musik zu Rilkes "Cornet"; Hans Werner Kolben und Friedrich Adler schrieben im Inferno der Todeslager deutsche Gedichte.
Auch nach dem Krieg existierte gegen alle Politik eine deutschsprachige böhmische Literatur, die sich nicht von der Verklärung und nationalen Polemik der Landsmannschaftsverbände vereinnahmen ließ. Die Geschichte selbst aber muss stets für populistische Manipulationen herhalten, je nach Gusto der Machtverhältnisse. Kaum jemand, so merkt Demetz an, habe die Benes-Dekrete, die tausend Seiten füllen, je ganz gelesen. Doch inmitten einer europäischen Szenerie, aus der Nationalpopulismus ins neunzehnte Jahrhundert flüchten möchte, haderten deutsche Konservative und tschechische Nationalisten um denselben Knochen, aus jeweils unterschiedlichem Kalkül. Demetz sieht im plötzlichen "Gestapismus" der Tschechen nach 1945 die Kehrseite der "Schwejkovina", des Versuchs, sich in der Art des guten Soldaten Schwejk durchzuschwindeln.
In dem vielleicht schönsten Aufsatz des Bandes kehrt Demetz in das Prag der Kriegsjahre zurück, in eine deutschsprachige Buchhandlung, um die sich ein Zirkel junger Literaten bildete, die eine illegale expressionistische Lyrik-Anthologie im Samisdat verlegten. Zu den Mitgliedern gehörten neben Demetz und Hans Werner Kolben, der in der Schoa umkam, auch der später in der DDR zu Ehren gelangte Franz Fühmann und Ernst Machleidt, der Zeit und Unzeit in Prag überlebte. Das Prag des Protektorats ist Gegenstand des Buches, an dem der geradezu jugendlich wirkende Emeritus derzeit arbeitet; und man möchte hoffen, dass eine kleine Episode dort wieder Eingang findet - zu schön ist sie und zu tröstend für jeden Schreibenden, nicht nur für die Dichtung in Zeiten der Diktatur: Ein junger Komödienschreiber bittet den Buchhändler Demetz verzweifelt: "Gib mir was zu lesen, ich möcht' was schreiben."
SABINE BERKING
Peter Demetz: "Böhmen böhmisch". Essays. Mit einem Vorwort von Karl Schwarzenberg. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006. 170 S., geb. 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wurzelsuche: Peter Demetz erzählt von böhmischen Dörfern
Er habe keine Wurzeln, er sei doch keine Kartoffel, entgegnete Peter Demetz unlängst etwas unwirsch bei einer Lesung in Berlin. Damit wies er die junge Fragende, die nach dem nationalen Zugehörigkeitsgefühl, nach Heimat und Sprachdominanz im Leben des emeritierten Yale-Professors, Germanisten, Bohemisten und Essayisten fahndete, in die Schranken. Demetz, 1922 als Sohn einer tschechischen Jüdin und eines ladinischen Südtirolers in Prag geboren, gilt als einer der letzten Zeugen jenes weltoffenen, mehrsprachigen und, wie es heute nicht mehr ganz unbelastet heißen mag, multikulturellen Böhmens, das mit dem Exodus und der Vernichtung der Juden und später mit der Vertreibung der Deutschen ein Ende fand.
Nach der Rückkehr von der Zwangsarbeit in einem "Halbjudenlager" studierte Peter Demetz in Prag und floh, gerade frisch promoviert, vor den Kommunisten in den Westen. Seit nunmehr einem halben Jahrhundert sucht er unermüdlich den Genius Loci seiner Heimatstadt, deren intellektuelle und kulturelle Hybride jenseits von Golem-Mythos und Klischee vom goldenen Prag in seinen Büchern festzuhalten. Dabei blieb er gegenüber jeglicher Form eines irrationalen Lokal- oder Nationalpatriotismus immun, unverbesserlich "hinternational", wie sein Freund und Schriftstellerkollege Johannes Urzidil diese Geisteshaltung in seinem "Prager Triptychon" nannte, die eine Bindung der Nation an Sprache oder gar Ethnie stets als Irrweg sah.
In der jetzt erschienenen Essaysammlung skizziert Demetz in der für ihn typischen unprätentiösen Gelehrsamkeit und mit der Eleganz eines literarischen Flaneurs historische Momente dieses für Europa nicht nur geographisch zentralen Raums, der für viele, vor allem jüngere Deutsche eine Terra incognita geblieben ist. Die deutschen, tschechischen und jüdischen Facetten werden dabei in einem großen Bogen miteinander verbunden.
Wie überhaupt eine nationale Erzählung zustande kommt und was sie ausmacht, ist für den Autor eine wichtige Frage, der er anhand der tschechischen Geistesgeschichte nachgeht, die als symptomatisch gelten kann. Die nationalen Narrationen bleiben für ihn freilich immer Fiktion und Imagination. Wer wurde wie in den Kanon der Nationalhelden aufgenommen, und wie definierte man zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts die tschechische Nation: eher sprachlich und kulturell, wie Josef Jungmann es bevorzugte, oder im Sinne des katholischen Geistlichen Bernard Bolzano als Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger? Daran, dass sich in den verspäteten Nationen Ost- und Mittelosteuropas der sprachliche und kulturelle Dominanzgedanke und nicht die Idee des Bürgerstaates durchgesetzt hat, kranken die Regionen von Berlin über Belgrad und Bukarest noch heute. Die tschechische Imagination orientierte sich, so Demetz, an symbolischen Figuren, von denen man meinte und meint, dass sie durch und durch tschechisch waren, wie der heilige Wenzel oder Jan Hus, während andere, wie König Premysl Ottokar II., ein imperialer, geradezu shakespearescher Herrscher, in den Marginalien verschwinden.
Im Prozess ständiger Abgrenzung und wirtschaftlicher wie kultureller Emanzipation blieb manches auf der Strecke. Ein Opfer der permanenten freiwilligen und unfreiwilligen Akkulturation war bereits im neunzehnten Jahrhundert das Prager Jiddisch. Die deutschen Juden wollten Armut und Bedrängnis hinter sich lassen, die tschechischen sahen im Jiddisch ein deutsches Element, das ihrem slawisch-tschechischen Bewusstsein im Wege stand.
Doch es gab stets auch Widerstand gegen die ideologische und nationale Vereinnahmung von Sprache und Kultur: Der Arzt Siegfried Kapper ist im neunzehnten Jahrhundert Jude und tschechischer Poet zugleich, der slawische Lyrik ins Deutsche übersetzt; der tschechische Lyriker und Jude Jirí Orten befasste sich 1941 noch auf dem Totenbett mit Rilke; Viktor Ullmann komponierte in Theresienstadt eine Musik zu Rilkes "Cornet"; Hans Werner Kolben und Friedrich Adler schrieben im Inferno der Todeslager deutsche Gedichte.
Auch nach dem Krieg existierte gegen alle Politik eine deutschsprachige böhmische Literatur, die sich nicht von der Verklärung und nationalen Polemik der Landsmannschaftsverbände vereinnahmen ließ. Die Geschichte selbst aber muss stets für populistische Manipulationen herhalten, je nach Gusto der Machtverhältnisse. Kaum jemand, so merkt Demetz an, habe die Benes-Dekrete, die tausend Seiten füllen, je ganz gelesen. Doch inmitten einer europäischen Szenerie, aus der Nationalpopulismus ins neunzehnte Jahrhundert flüchten möchte, haderten deutsche Konservative und tschechische Nationalisten um denselben Knochen, aus jeweils unterschiedlichem Kalkül. Demetz sieht im plötzlichen "Gestapismus" der Tschechen nach 1945 die Kehrseite der "Schwejkovina", des Versuchs, sich in der Art des guten Soldaten Schwejk durchzuschwindeln.
In dem vielleicht schönsten Aufsatz des Bandes kehrt Demetz in das Prag der Kriegsjahre zurück, in eine deutschsprachige Buchhandlung, um die sich ein Zirkel junger Literaten bildete, die eine illegale expressionistische Lyrik-Anthologie im Samisdat verlegten. Zu den Mitgliedern gehörten neben Demetz und Hans Werner Kolben, der in der Schoa umkam, auch der später in der DDR zu Ehren gelangte Franz Fühmann und Ernst Machleidt, der Zeit und Unzeit in Prag überlebte. Das Prag des Protektorats ist Gegenstand des Buches, an dem der geradezu jugendlich wirkende Emeritus derzeit arbeitet; und man möchte hoffen, dass eine kleine Episode dort wieder Eingang findet - zu schön ist sie und zu tröstend für jeden Schreibenden, nicht nur für die Dichtung in Zeiten der Diktatur: Ein junger Komödienschreiber bittet den Buchhändler Demetz verzweifelt: "Gib mir was zu lesen, ich möcht' was schreiben."
SABINE BERKING
Peter Demetz: "Böhmen böhmisch". Essays. Mit einem Vorwort von Karl Schwarzenberg. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006. 170 S., geb. 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sabine Berking beschreibt Peter Demetz als einen der letzten Vertreter der untergegangenen "multikulturellen" böhmischen Welt und sieht auch in dem jüngsten Essayband wieder Prag, der Heimatstadt des Emeritus, in historischen Streiflichtern ein Denkmal gesetzt. Berking bewundert den eleganten Stil und die völlig uneitle "Gelehrsamkeit", die aus den Essays spricht und folgt mit Genuss den Ausflügen in die Kultur- und Geistesgeschichte Tschechiens. Dabei werde der Autor von der Frage umgetrieben, was denn eine Nation ausmache und komme zu dem Schluss, dass dafür "Sprache oder Ethnie" keinesfalls determinierend sein sollten, erklärt die Rezensentin. Am besten hat ihr die Erzählung von einer deutschsprachigen Buchhandlung gefallen, in der sich ein Kreis junger Schriftsteller gebildet hatte, die verbotenerweise expressionistische Gedichte verlegten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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