Über Adelsfamilien herrschen in der Öffentlichkeit vielfach verzerrte, widersprüchliche und unvollständige Ansichten. Sie sind von nostalgischer Sicht verklärt oder glorifiziert. Die Frage aber, wie es etwa dem böhmischen Adel nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie erging, wurdeselten gestellt.Lobkowicz - Mensdorff-Pouilly - Borek-Dohalsky - Schwarzenberg - Kinsky - Schlik - Sternberg - Czernin - Strachwitz - von Bubna und Lititz - Wratislaw - Hruby und Gelenj - klingende Namen großer böhmischer Adelsgeschlechter, deren Schicksale während der politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts vielfach unbekannt geblieben sind. Der Publizist und Fotograf Vladimír Votýpka hatte noch in kommunistischer Zeit im Rahmen einer Recherche über denkmalgeschützte Objekte in Böhmen und Mähren die Möglichkeit, hinter die Kulissen der herrlichsten Schlosseinrichtungen zu blicken, wohin ansonsten nur ganz wenige Besucher gelangen. Was er entdeckte waren zahlreiche Kunstgegenstände, historische Möbel und ganze Bibliotheken, die jahrhundertelang sorgfältig gepflegt worden waren, sich nun aber in chaotischem Zustand befanden. Er begann die Geschichte der ehemaligen Bewohner, der adeligen Familien, aufzuschreiben. Es gelang ihm dabei, wichtige Vertreter des böhmischen Adels ausfindig zu machen und die politisch und persönlich so stark bewegten Jahre gemeinsam mit ihnen zu rekonstruieren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2007Abglanz und Wehmut
Böhmischer Adel nach dem Zweiten Weltkrieg
"Ich musste hier bleiben, als schlechtes Gewissen des Regimes." So antwortete Depold Czernin dem Journalisten Vladimír Votýpka auf seine Frage, warum er auch nach 1948 und nach 1968 in der Tschechoslowakei geblieben sei. Dieses Gespräch bildet mit neun weiteren, die zwischen 1970 und 1972 entstanden sind, den Kern von Votýpkas Publikation. Ihm ging es darum, "den Abglanz von Erinnerungen und die Vergänglichkeit des menschlichen Atems festzuhalten". In den Familiengeschichten des böhmischen Adels, darunter Träger so berühmter Namen wie Schwarzenberg, Lobkowitz oder Kinsky, verbindet sich ein Gang durch die böhmisch-tschechische Geschichte der vergangenen Jahrhunderte mit der Schilderung dessen, was Adel - nicht zuletzt auch in seinem Selbstverständnis - ausmacht: die Verbindung zum Geschlecht über Genealogie und Wappen, der ausgeprägte Bezug zur Familie und den Schlössern als ihrem Sitz, eine Verbundenheit zu Land, Natur und Jagd, die Bewahrung von Tradition und eines distinkten Habitus der zurückhaltenden Vornehmheit, der Würde und Selbstdisziplin.
Zentral sind für Votýpka die Erfahrungen seiner Gesprächspartner und deren Eltern im 20. Jahrhundert: Fast alle berichten darüber, dass die Güter während der Protektoratszeit von 1938 bis 1945 unter Zwangsverwaltung gestellt wurden und dass Hochschulstudien nicht abgeschlossen werden konnten, weil die Betreffenden sich weigerten, die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Manche wurden verhaftet, von vier Brüdern aus dem Geschlecht der Borek-Dohalsky starben zwei in deutschen Konzentrationslagern - inhaftiert wegen Unterstützung des tschechischen Widerstandes.
Erschreckend parallel gestalteten sich auch die Schicksale nach dem Ende des Krieges, vor allem nach der kommunistischen Machtübernahme 1948: Zumeist beschloss der Familienrat, dass zumindest der älteste der Söhne im Lande blieb. Wer nicht emigrierte, dem sollte bald die Verstaatlichung des Besitzes und die Vertreibung aus dem angestammten Schloss bevorstehen. Die Mehrzahl der Männer wurde verhaftet, oft unter fadenscheinigen Vorwänden. Ihre Strafen leisteten sie unter schwierigsten Bedingungen ab - manche im Uranbergbau. Nach der Entlassung standen ihnen nur manuelle Arbeiten offen, im Forstwesen, im Straßenbau oder als Tankwart. Dass Karl Strachwitz es bis zum "schwarzen Adel" der Lokomotivführer brachte oder Georg Sternberg elf Jahre als Kastellan Touristen in seinem enteigneten Schloss führte, gehörte schon zu den großen Ausnahmen. Wehmut schimmert in den Berichten durch, wenn die ehemaligen Schlossbewohner die Enteignungen beschreiben, den rücksichtslosen, zerstörerischen Umgang mit Gebäuden und Mobilien und immer wieder auch die Bereicherung durch die Bevölkerung der Umgegend, der man sich doch verbunden fühlte.
Da Votýpka vor der "Wende" keine Chance hatte, seine Reportagen zu veröffentlichen, wanderten sie zunächst für unbestimmte Zeit in die Schublade, bevor er sie, durch weitere Interviews in den frühen neunziger Jahren ergänzt, publizieren konnte. Diese Teile des Buches trennt ein Kapitel über die tschechoslowakische Vermögensverwaltung, - ein erschütternder Bericht über Desinteresse, Verwahrlosung und Zerstörung von Kulturgut von europäischem Rang. So konnten 1969 bei einer Überprüfung des als Museum klassifizierten Schlosses Sázava von ursprünglich 591 inventarisierten Stücken nur noch 49 aufgefunden werden. Dies war kein Einzelfall - die Bestrafung der Verantwortlichen dagegen schon. So wird deutlich, warum Votýpka sich als Chronist den Adel ausgesucht hat: Nachdrücklich plädiert er für den Erhalt von Kulturgütern, weil sie den Menschen das Gefühl der Verbundenheit mit einer Gesellschaft und mit einem Ort zu geben vermögen und dadurch helfen können, die moderne Entfremdung zu überwinden.
Die Verbundenheit des Adels zu Region und Menschen im Gegensatz zu den entfremdenden Praktiken des Sozialismus ist das eigentliche Thema dieses Buches. Damit reiht es sich ein in die gesellschaftliche Aufarbeitung der tschechoslowakischen Geschichte der Jahre 1948 bis 1989 und in eine andauernde Diskussion um die Reintegration des böhmischen Adels in die tschechische Nationalgeschichte.
TATJANA TÖNSMEYER
Vladimír Votýpka: Böhmischer Adel. Familiengeschichten. Aus dem Tschechischen von Walter und Simin Reichel. Böhlau Verlag, Wien 2007. 383 S., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Böhmischer Adel nach dem Zweiten Weltkrieg
"Ich musste hier bleiben, als schlechtes Gewissen des Regimes." So antwortete Depold Czernin dem Journalisten Vladimír Votýpka auf seine Frage, warum er auch nach 1948 und nach 1968 in der Tschechoslowakei geblieben sei. Dieses Gespräch bildet mit neun weiteren, die zwischen 1970 und 1972 entstanden sind, den Kern von Votýpkas Publikation. Ihm ging es darum, "den Abglanz von Erinnerungen und die Vergänglichkeit des menschlichen Atems festzuhalten". In den Familiengeschichten des böhmischen Adels, darunter Träger so berühmter Namen wie Schwarzenberg, Lobkowitz oder Kinsky, verbindet sich ein Gang durch die böhmisch-tschechische Geschichte der vergangenen Jahrhunderte mit der Schilderung dessen, was Adel - nicht zuletzt auch in seinem Selbstverständnis - ausmacht: die Verbindung zum Geschlecht über Genealogie und Wappen, der ausgeprägte Bezug zur Familie und den Schlössern als ihrem Sitz, eine Verbundenheit zu Land, Natur und Jagd, die Bewahrung von Tradition und eines distinkten Habitus der zurückhaltenden Vornehmheit, der Würde und Selbstdisziplin.
Zentral sind für Votýpka die Erfahrungen seiner Gesprächspartner und deren Eltern im 20. Jahrhundert: Fast alle berichten darüber, dass die Güter während der Protektoratszeit von 1938 bis 1945 unter Zwangsverwaltung gestellt wurden und dass Hochschulstudien nicht abgeschlossen werden konnten, weil die Betreffenden sich weigerten, die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Manche wurden verhaftet, von vier Brüdern aus dem Geschlecht der Borek-Dohalsky starben zwei in deutschen Konzentrationslagern - inhaftiert wegen Unterstützung des tschechischen Widerstandes.
Erschreckend parallel gestalteten sich auch die Schicksale nach dem Ende des Krieges, vor allem nach der kommunistischen Machtübernahme 1948: Zumeist beschloss der Familienrat, dass zumindest der älteste der Söhne im Lande blieb. Wer nicht emigrierte, dem sollte bald die Verstaatlichung des Besitzes und die Vertreibung aus dem angestammten Schloss bevorstehen. Die Mehrzahl der Männer wurde verhaftet, oft unter fadenscheinigen Vorwänden. Ihre Strafen leisteten sie unter schwierigsten Bedingungen ab - manche im Uranbergbau. Nach der Entlassung standen ihnen nur manuelle Arbeiten offen, im Forstwesen, im Straßenbau oder als Tankwart. Dass Karl Strachwitz es bis zum "schwarzen Adel" der Lokomotivführer brachte oder Georg Sternberg elf Jahre als Kastellan Touristen in seinem enteigneten Schloss führte, gehörte schon zu den großen Ausnahmen. Wehmut schimmert in den Berichten durch, wenn die ehemaligen Schlossbewohner die Enteignungen beschreiben, den rücksichtslosen, zerstörerischen Umgang mit Gebäuden und Mobilien und immer wieder auch die Bereicherung durch die Bevölkerung der Umgegend, der man sich doch verbunden fühlte.
Da Votýpka vor der "Wende" keine Chance hatte, seine Reportagen zu veröffentlichen, wanderten sie zunächst für unbestimmte Zeit in die Schublade, bevor er sie, durch weitere Interviews in den frühen neunziger Jahren ergänzt, publizieren konnte. Diese Teile des Buches trennt ein Kapitel über die tschechoslowakische Vermögensverwaltung, - ein erschütternder Bericht über Desinteresse, Verwahrlosung und Zerstörung von Kulturgut von europäischem Rang. So konnten 1969 bei einer Überprüfung des als Museum klassifizierten Schlosses Sázava von ursprünglich 591 inventarisierten Stücken nur noch 49 aufgefunden werden. Dies war kein Einzelfall - die Bestrafung der Verantwortlichen dagegen schon. So wird deutlich, warum Votýpka sich als Chronist den Adel ausgesucht hat: Nachdrücklich plädiert er für den Erhalt von Kulturgütern, weil sie den Menschen das Gefühl der Verbundenheit mit einer Gesellschaft und mit einem Ort zu geben vermögen und dadurch helfen können, die moderne Entfremdung zu überwinden.
Die Verbundenheit des Adels zu Region und Menschen im Gegensatz zu den entfremdenden Praktiken des Sozialismus ist das eigentliche Thema dieses Buches. Damit reiht es sich ein in die gesellschaftliche Aufarbeitung der tschechoslowakischen Geschichte der Jahre 1948 bis 1989 und in eine andauernde Diskussion um die Reintegration des böhmischen Adels in die tschechische Nationalgeschichte.
TATJANA TÖNSMEYER
Vladimír Votýpka: Böhmischer Adel. Familiengeschichten. Aus dem Tschechischen von Walter und Simin Reichel. Böhlau Verlag, Wien 2007. 383 S., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein interessantes Kapitel der neueren tschechoslowakischen Geschichte erblickt Rezensentin Tatjana Tönsmeyer in Vladimir Votypkas Buch über den böhmischen Adel nach dem Zweiten Weltkrieg. Den Kern des Buchs machen für sie zehn Gespräche aus, die der Autor zwischen 1970 und 1972 mit Vertretern von böhmischen Adelsfamilien führen konnte. Die Familiengeschichten erzählen in ihren Augen von der böhmisch-tschechischen Geschichte der vergangenen Jahrhunderte und auch davon, was den Adel ausmachte. In den Mittelpunkt des Buchs rücken für sie die Schicksale dieser Familien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn der kommunistischen Machtübernahme, mit der Verstaatlichung ihres Besitzes, Vertreibung und Haftstrafen einhergingen. Besonders hebt Tönsmeyer das Kapitel über die tschechoslowakische Vermögensverwaltung hervor, die sie einen "erschütternden Bericht" über Desinteresse, Verwahrlosung und Zerstörung von Kulturgut von europäischem Rang nennt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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