Sie kommen aus dem Dunkel der Anonymität und können zerstörerisch in das Leben eines Menschen eindringen: Droh- und Erpresserbriefe sind eine weit
verbreitete und sehr spezielle Art der Korrespondenz. Hier wird erstmals das Phänomen der bösen Briefe und ihre weit zurückreichende Geschichte beleuchtet:
Die Autoren analysieren die sprachlichen Strategien, mit denen die Opfer eingeschüchtert werden sollen und nehmen Einblick in das verborgene Archiv dieses dunklen Teils der Briefkultur. Entlang von tragischen, aber auch komischen Beispielen beschreiben sie das Maskenspiel der Täter ebenso wie das Gegenspiel der Kriminalisten, welche ihnen mit immer neuen Methoden auf die Schliche zu kommen versuchen. Bebildert mit ungewöhnlichen Fundstücken entsteht so das Panorama einer Brief- und Verbrechensgattung, die heute besonders aktuell erscheint. Denn die bösen Briefe bilden das Vorspiel zu den Interneterpressungen und Hasspostings der Gegenwart.
verbreitete und sehr spezielle Art der Korrespondenz. Hier wird erstmals das Phänomen der bösen Briefe und ihre weit zurückreichende Geschichte beleuchtet:
Die Autoren analysieren die sprachlichen Strategien, mit denen die Opfer eingeschüchtert werden sollen und nehmen Einblick in das verborgene Archiv dieses dunklen Teils der Briefkultur. Entlang von tragischen, aber auch komischen Beispielen beschreiben sie das Maskenspiel der Täter ebenso wie das Gegenspiel der Kriminalisten, welche ihnen mit immer neuen Methoden auf die Schliche zu kommen versuchen. Bebildert mit ungewöhnlichen Fundstücken entsteht so das Panorama einer Brief- und Verbrechensgattung, die heute besonders aktuell erscheint. Denn die bösen Briefe bilden das Vorspiel zu den Interneterpressungen und Hasspostings der Gegenwart.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Keine Tricks und kleine Scheine
Sie sind brutal, raffiniert, manchmal nur lächerlich: Ernst Strouhal und Christoph Winder lesen Droh- und Erpresserbriefe.
Von Hannes Hintermeier
Bezahlen Sie 500000,00 Euro in einer / durchsichtigen Tüte bringen sie die nach / zum Minigolf vor dem Eingang / gegenüber ist ein grüner Papierkorb tun sie / das Geld unter der Blauen Mülltüte Sie bis / Montag zeit bis 21.00 Uhr um das Geld auf / zutreiben und keine Tricks bei Verweigerung / wird an sonst ihr Autohaus + Fahrzeuge / deren Kunden zerstört. Keine Polizei ansonst / trefft es auch ihre Familie wir Beobachten Sie / Tag + Nacht". Wer einen Erpresserbrief wie diesen im Briefkasten hat, der hat vier Möglichkeiten - den Brief ignorieren, das Geld zahlen, zur Polizei gehen oder den Erpresser in Eigenregie stellen.
Der Wiener Kulturgeschichtler Ernst Strouhal und der Journalist Christoph Winder vermeiden es in ihrer Studie über "Böse Briefe", Empfehlungen abzugeben, welche Variante sie bevorzugen würden. So viel verraten sie: Drohbriefe schreiben oder mit Textschnipseln kleben, das sollte man heute nicht mehr - die Kriminaltechnik ist einfach zu fortgeschritten. Allein das Archiv des amerikanischen Secret Service kennt 11 500 Sorten von Tinten.
Den Autoren ist mit ihrer "Geschichte des Drohens und Erpressens" ein Wurf gelungen. Sie rücken mit vielen (leider teilweise von der zugehörigen Textstelle weit entfernten) Bildbeispielen einer Textsorte zu Leibe, die weiter verbreitet ist, als man annehmen möchte. Selten werden diese Fälle öffentlich, wenn es der Fall ist, entfalten sie eine enorme Breitenwirkung. Denn an dem Machtgefälle, das solche Briefe aufbauen, herrscht reges Interesse. So wie Gaffer bei Verkehrsunfällen keine Rettungsgasse bilden, weidet sich die Öffentlichkeit an Pikanterien und Brutalitäten, an Lebensgefahr und Millionensummen. Und es bleibt ja auch häufig nicht bei der Androhung. Jack the Ripper schickte einen Teil einer Niere, an den Folgen der Anthrax-Briefe starben fünf Menschen. Erstaunlich viele Fälle von Erpressung, Mord oder Entführung sind bis heute "cold cases".
Im deutschsprachigen Raum sind die Bekennerschreiben der Roten Armee Fraktion, die Attentate des Österreichers Fritz Fuchs, der sich als "Bajuwarische Befreiungsarmee" ausgab, Entführungen von Industriellen wie Oetker oder Reemtsma ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Ein weltweites Phänomen, wie die Autoren mit Ausblicken nach Japan und in die Vereinigten Staaten zeigen. Man denke an die Entführung des Lindberg-Babys oder zahlreiche rassistisch motivierte Anschläge. Der Bürgerrechtler Martin Luther King wurde sogar zum Selbstmord aufgefordert, ansonsten würde man seine Teilnahme an einer Orgie öffentlich machen. Eine Kopie des Drohbriefs fand sich später in den Unterlagen eines Stellvertreters von FBI-Chef J. Edgar Hoover.
Ein knapper Durchgang durch die Kriminalistik zeigt, wie lange Zeit unwissenschaftliche Methoden angewendet wurden, mit zweifelhaften Resultaten. Graphologie, Graphometrie und Schrift deutende Psychoanalyse sind heute von Profiling und forensischer Linguistik abgelöst, aber reine Wissenschaft ist die Verbrecherjagd noch immer nicht. Im Kern hat sich über die Jahrhunderte so viel nicht geändert. Das zeigte sich, als die Autoren im Bundeskriminalamt in Wiesbaden tausend Einzelbriefe und Briefserien aus den Jahren 2000 bis 2010 sichten konnten, die allerdings vorab anonymisiert wurden. Der eingangs zitierte Brief aus dem Jahr 2005 stammt auch aus diesem Textkorpus; seine mangelhafte Grammatik und Rechtschreibung ist typisch für das Genre und beruht entweder auf mangelnder Bildung oder auf Verstellung.
Immer aber zielen solche Briefe auf maximale Wirkung, auf Einschüchterung und Angst. Umgekehrt verraten sie viel über die Verfasser und ihre Feigheit. Den Briefen hafte "stets auch ein Moment des Narzisstischen, der Regression und des Kindlichen an", lautet der Befund. Manche Erpresser bettelten um Aufmerksamkeit, manche Bekennerschreiben von Anschlägen oder Amokläufen schwelgten in Allmachtsphantasien. Dennoch gibt es unter den Erpressten immer wieder Standhafte, die sich nicht zum Opfer machen lassen. Der Tenor Enrico Caruso etwa ignorierte die Zahlungsaufforderung der Mafia kurzerhand.
Und heute? Ist alles noch viel schlimmer, man könnte auch sagen: zeitgerechter. Denn wie alle Briefkultur ist auch diese ein Spiegel der Epoche. Und so wird im Internet aus den sexuellen Erpressungsversuchen von Kurtisanen, die im achtzehnten Jahrhundert mit der Veröffentlichung ihrer Memoiren drohten, der Revenge-Porn mit bewegten Bildern. Auch der Produkterpresser, der derzeit Babynahrung vergiftet, hat Konkurrenz bekommen durch Hacker-Angriffe auf Firmen- oder Behördenrechner: Eines Morgens wacht die IT-Abteilung auf und stellt fest, dass alle Daten gekapert sind und nur nach Zahlung eines Lösegeldes freigegeben werden. Ein Geschäftsmodell mit Milliardenumsatz. Kein Wunder also, dass sich durch das Internet "die Zahl der Erpressungen in den letzten Jahren vervielfacht" hat. Gute Zeiten für Erpresser.
Ernst Strouhal und Christoph Winder: "Böse Briefe". Eine Geschichte des Drohens und Erpressens.
Christian Brandstätter Verlag, Wien/München 2017. 224 S., Abb., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sie sind brutal, raffiniert, manchmal nur lächerlich: Ernst Strouhal und Christoph Winder lesen Droh- und Erpresserbriefe.
Von Hannes Hintermeier
Bezahlen Sie 500000,00 Euro in einer / durchsichtigen Tüte bringen sie die nach / zum Minigolf vor dem Eingang / gegenüber ist ein grüner Papierkorb tun sie / das Geld unter der Blauen Mülltüte Sie bis / Montag zeit bis 21.00 Uhr um das Geld auf / zutreiben und keine Tricks bei Verweigerung / wird an sonst ihr Autohaus + Fahrzeuge / deren Kunden zerstört. Keine Polizei ansonst / trefft es auch ihre Familie wir Beobachten Sie / Tag + Nacht". Wer einen Erpresserbrief wie diesen im Briefkasten hat, der hat vier Möglichkeiten - den Brief ignorieren, das Geld zahlen, zur Polizei gehen oder den Erpresser in Eigenregie stellen.
Der Wiener Kulturgeschichtler Ernst Strouhal und der Journalist Christoph Winder vermeiden es in ihrer Studie über "Böse Briefe", Empfehlungen abzugeben, welche Variante sie bevorzugen würden. So viel verraten sie: Drohbriefe schreiben oder mit Textschnipseln kleben, das sollte man heute nicht mehr - die Kriminaltechnik ist einfach zu fortgeschritten. Allein das Archiv des amerikanischen Secret Service kennt 11 500 Sorten von Tinten.
Den Autoren ist mit ihrer "Geschichte des Drohens und Erpressens" ein Wurf gelungen. Sie rücken mit vielen (leider teilweise von der zugehörigen Textstelle weit entfernten) Bildbeispielen einer Textsorte zu Leibe, die weiter verbreitet ist, als man annehmen möchte. Selten werden diese Fälle öffentlich, wenn es der Fall ist, entfalten sie eine enorme Breitenwirkung. Denn an dem Machtgefälle, das solche Briefe aufbauen, herrscht reges Interesse. So wie Gaffer bei Verkehrsunfällen keine Rettungsgasse bilden, weidet sich die Öffentlichkeit an Pikanterien und Brutalitäten, an Lebensgefahr und Millionensummen. Und es bleibt ja auch häufig nicht bei der Androhung. Jack the Ripper schickte einen Teil einer Niere, an den Folgen der Anthrax-Briefe starben fünf Menschen. Erstaunlich viele Fälle von Erpressung, Mord oder Entführung sind bis heute "cold cases".
Im deutschsprachigen Raum sind die Bekennerschreiben der Roten Armee Fraktion, die Attentate des Österreichers Fritz Fuchs, der sich als "Bajuwarische Befreiungsarmee" ausgab, Entführungen von Industriellen wie Oetker oder Reemtsma ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Ein weltweites Phänomen, wie die Autoren mit Ausblicken nach Japan und in die Vereinigten Staaten zeigen. Man denke an die Entführung des Lindberg-Babys oder zahlreiche rassistisch motivierte Anschläge. Der Bürgerrechtler Martin Luther King wurde sogar zum Selbstmord aufgefordert, ansonsten würde man seine Teilnahme an einer Orgie öffentlich machen. Eine Kopie des Drohbriefs fand sich später in den Unterlagen eines Stellvertreters von FBI-Chef J. Edgar Hoover.
Ein knapper Durchgang durch die Kriminalistik zeigt, wie lange Zeit unwissenschaftliche Methoden angewendet wurden, mit zweifelhaften Resultaten. Graphologie, Graphometrie und Schrift deutende Psychoanalyse sind heute von Profiling und forensischer Linguistik abgelöst, aber reine Wissenschaft ist die Verbrecherjagd noch immer nicht. Im Kern hat sich über die Jahrhunderte so viel nicht geändert. Das zeigte sich, als die Autoren im Bundeskriminalamt in Wiesbaden tausend Einzelbriefe und Briefserien aus den Jahren 2000 bis 2010 sichten konnten, die allerdings vorab anonymisiert wurden. Der eingangs zitierte Brief aus dem Jahr 2005 stammt auch aus diesem Textkorpus; seine mangelhafte Grammatik und Rechtschreibung ist typisch für das Genre und beruht entweder auf mangelnder Bildung oder auf Verstellung.
Immer aber zielen solche Briefe auf maximale Wirkung, auf Einschüchterung und Angst. Umgekehrt verraten sie viel über die Verfasser und ihre Feigheit. Den Briefen hafte "stets auch ein Moment des Narzisstischen, der Regression und des Kindlichen an", lautet der Befund. Manche Erpresser bettelten um Aufmerksamkeit, manche Bekennerschreiben von Anschlägen oder Amokläufen schwelgten in Allmachtsphantasien. Dennoch gibt es unter den Erpressten immer wieder Standhafte, die sich nicht zum Opfer machen lassen. Der Tenor Enrico Caruso etwa ignorierte die Zahlungsaufforderung der Mafia kurzerhand.
Und heute? Ist alles noch viel schlimmer, man könnte auch sagen: zeitgerechter. Denn wie alle Briefkultur ist auch diese ein Spiegel der Epoche. Und so wird im Internet aus den sexuellen Erpressungsversuchen von Kurtisanen, die im achtzehnten Jahrhundert mit der Veröffentlichung ihrer Memoiren drohten, der Revenge-Porn mit bewegten Bildern. Auch der Produkterpresser, der derzeit Babynahrung vergiftet, hat Konkurrenz bekommen durch Hacker-Angriffe auf Firmen- oder Behördenrechner: Eines Morgens wacht die IT-Abteilung auf und stellt fest, dass alle Daten gekapert sind und nur nach Zahlung eines Lösegeldes freigegeben werden. Ein Geschäftsmodell mit Milliardenumsatz. Kein Wunder also, dass sich durch das Internet "die Zahl der Erpressungen in den letzten Jahren vervielfacht" hat. Gute Zeiten für Erpresser.
Ernst Strouhal und Christoph Winder: "Böse Briefe". Eine Geschichte des Drohens und Erpressens.
Christian Brandstätter Verlag, Wien/München 2017. 224 S., Abb., geb., 34,90 [Euro].
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"Schon von der Aufmachung ein elektrisierendes Buch ... sehr schön gemacht!" Dirk Stermann & Christoph Grissemann, Willkommen Österreich