Die Philosophin Bettina Stangneth, die mit ihrem Buch über den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann («Eichmann vor Jerusalem») international die Debatte über das Böse neu entfacht hat, stellt eine unbequeme Frage: Haben wir wirklich das Recht zu jedem Gedanken oder braucht auch das Denken eine Ethik?
Die Gedanken sind frei und jeder, der selber zu denken lernt, wird so frei werden wie sie. Das glauben wir jedenfalls. Weil wir fest davon überzeugt sind, dass es einen Zusammenhang zwischen Denken und Moral gibt, fordern Philosophen seit dem 18. Jahrhundert dazu auf, alles zu bedenken, eigene Überzeugungen zu entwickeln und konsequent danach zu handeln. Wer denkt, so hoffen wir, der mordet nicht. Wer aufrichtig seinen Überzeugungen folgt, macht die Welt besser. Aber dann kam das 20. Jahrhundert und mit ihm der organisierte Massenmord, die Tat der denkenden Mörder. Und es kamen die Selbstmordattentäter, die alles andere als gedankenlos sind und dennoch töten.
Dieser elegantgeschriebene Essay erklärt und erweitert klassische Konzepte des Bösen, denn wer das Böse bekämpfen will, muss es zunächst einmal erkennen. Es kommt schon lange nicht mehr nur als dummer Barbar, sadistischer Schläger oder gedankenloser Bürokrat daher, sondern mit verführerisch schlüssigen Argumenten. So sehr wir es uns auch gewünscht haben: Für uns Menschen ist nichts jenseits von Gut und Böse. Noch nicht einmal das Denken.
Die Gedanken sind frei und jeder, der selber zu denken lernt, wird so frei werden wie sie. Das glauben wir jedenfalls. Weil wir fest davon überzeugt sind, dass es einen Zusammenhang zwischen Denken und Moral gibt, fordern Philosophen seit dem 18. Jahrhundert dazu auf, alles zu bedenken, eigene Überzeugungen zu entwickeln und konsequent danach zu handeln. Wer denkt, so hoffen wir, der mordet nicht. Wer aufrichtig seinen Überzeugungen folgt, macht die Welt besser. Aber dann kam das 20. Jahrhundert und mit ihm der organisierte Massenmord, die Tat der denkenden Mörder. Und es kamen die Selbstmordattentäter, die alles andere als gedankenlos sind und dennoch töten.
Dieser elegantgeschriebene Essay erklärt und erweitert klassische Konzepte des Bösen, denn wer das Böse bekämpfen will, muss es zunächst einmal erkennen. Es kommt schon lange nicht mehr nur als dummer Barbar, sadistischer Schläger oder gedankenloser Bürokrat daher, sondern mit verführerisch schlüssigen Argumenten. So sehr wir es uns auch gewünscht haben: Für uns Menschen ist nichts jenseits von Gut und Böse. Noch nicht einmal das Denken.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Mit großem Interesse hat Rezensentin Caroline Rehner Bettina Stangneths Studie "Böses Denken" gelesen. "Provokante" Thesen entdeckt die Kritikerin in diesem Plädoyer für mehr Moral, in dem die Philosophin erläutert, wie die Nationalsozialisten Moral und Vernunft rhetorisch auslöschten und den Menschen die Grundlage allgemeiner Werte entzogen. Mehr noch: Stangneth geht über Kant und Hannah Arendt hinaus, wenn sie in Frage stellt, dass Vernunft und Denken bessere Menschen machen können und mit Blick auf NS-Funktionäre darlegt, dass sich "vernünftiges Denken von der Ethik entkoppeln" und die Vernunft als Waffe gebraucht werden könne. Diesem Buch, das zur moralischen Selbstreflexion anregt, verzeiht die Rezensentin auch gern, dass die Stiche gegen heutige "böse Denkweisen" ein wenig dünn geraten.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2016Von Moral wird man niemals absentiert
Mit Kant und Hannah Arendt: Bettina Stangneth hat ein furioses Buch über die Entscheidung zum Bösen geschrieben
Kann man wirklich jemanden übel behandeln und danach schlicht sagen, dass dies ein moralisches Problem sei, habe man nicht gewusst? Und kontert der Einwand, Handlungen ließen sich auf rationalem Wege doch wohl stets ganz unterschiedlich bewerten, wirklich alle Versuche, einen konkreten Menschen für sein Tun verantwortlich zu machen - sowie für seine Einstellungen, aus denen schließlich Tun (oder Nichtstun) folgt? Nein, sagt die Hamburger Philosophin und Historikerin Bettina Stangneth und verwendet auf ihre Antwort ein ganzes, furios geschriebenes Buch.
Sie erinnert ihre Leserinnen und Leser in aller Deutlichkeit daran: Moral beginnt nicht irgendwo anders und bei anderen, quasi weit draußen in der Allgemeinheit irgendwelcher zu bewertenden Verhältnisse, sondern hier, jetzt und vor allem bereits in unseren Einstellungen, der "Denkungsart", der wir uns überlassen. Stangneths Gewährsleute sind Hannah Arendt und Kant.
Auf Vernunftmangel oder emotionale Defizite lasse sich das Böse nicht schieben. Weder können wir Terrorbanden, Folterer, zynische Abzock-Betrügerfirmen oder Leute, die im Internet Hassbotschaften verschicken, für dumm erklären, noch fehlt es solchen Akteuren an Einfühlungsvermögen. Im Gegenteil, sie kennen die Schwächen ihrer Opfer sogar sehr genau. Überhaupt läuft Ursachenforschung leer. Wer mit der Lupe nach Infektionsstellen fürs Vorwerfbare, nach Bosheitsquellen sucht, wird nichts finden. Keineswegs jede schwere Kindheit führt in Straftaten, und auch wohlversorgte Menschen können skrupellos handeln.
Immanuel Kant schrieb trocken vom "radikal" Bösen: Es ist eine permanente Option, die uns trotz Verstand und Aufklärung von innen her fortwährend nahe bleibt. Zumeist entsteht moralisch Übles auch gar nicht, weil wir es absichtsvoll wollen, unsere Aufmerksamkeit wendet sich dem, was gut wäre, bloß gar nicht mehr ernsthaft zu. Wir werden gleichsam moralisch faul. Von "bösem Herzen" spricht diesbezüglich Kant.
Man kann dem Umgang mit dem eigenen Denken ausweichen, übersetzt Stangneth dies und interpretiert Arendts Buch über den Prozess gegen Adolf Eichmann als Studie dazu, wie die Berufung auf "Nichtwissen" als Rechtfertigungsgrund in diesem Zusammenhang funktioniert: Das Abschalten, das Gar-nicht-erst-für-moralrelevant-halten, schreibt man sich selbst nicht zu, weil man die eigene "Vernunft" überhaupt erst diesseits von Moral beginnen lässt. Während Kant, so Stangneth, "fragt, wie es möglich ist, dass wir wissentlich etwas Böses tun, frage Hannah Arendt, wie es möglich ist, unwissentlich etwas Böses zu tun". Arendts Antwort lautet: Der gedankenlose Täter erinnert keine Böswilligkeit und verweigert so auch, sich an unterlassene eigene moralische Anstrengungen zu erinnern.
Stangneth zieht den Bogen vom NS-Täter zu dschihadistischer Radikalisierung und Internethass. "Menschen neigen dazu, sich unwesentliche Fragen zu stellen und sich so hingebungsvoll mit banalem Zeug zu beschäftigen, dass Moral gar nicht mehr in den Blick kommt." Daneben sind es aber Gesten der Selbstimmunisierung auch des wissenschaftlichen Denkens gegen Moralität, gegen die Stangneths Buch zu Felde zieht.
Der Gedanke, von Menschen sei zu erwarten, dass sie "gut" - fair, zugewandt und zugunsten des Zusammenlebens verständig - sein wollen, wird nicht zuletzt in der Philosophie selbst demontiert. Wie das Kantische böse Herz kenne auch das "akademische Böse" drei Stufen. Das Kokettieren mit vermeintlich gänzlich neutralisierten Sichtweisen auf das, was ernstlich unerträglich ist und nicht geschehen sollte; den Glauben, Theorie komme gänzlich ohne Ethik aus; die womöglich sogar absichtsvolle Kultivierung von Falschheit und Feindbildern.
"Denken ist nicht wie Stolpern", so formuliert die streitbare Autorin, soll heißen: Ich falle nicht in Einsichten hinein, sondern sie zu haben und zu formulieren ist letztlich auch ein moralisch stimmig zu verantwortender Akt. Auch Theorie wandelt auf moralisch schmalen Pfaden, und Theoretiker, die bequem bloß auf das Firmenschild "Wissenschaft" verweisen, sollten sich für das Handeln, das aus einer bestimmten Denkungsart folgt, jederzeit als verantwortlich erkennen. Das Buch ist glänzend geschrieben und provoziert mit Witz wie bitterem Ernst. Es löst, indem es Vernunft auf die Maxime einer umfassenden Stimmigkeit, die es stets zu prüfen gälte, festlegt, nicht alle Probleme, die es anspricht. Aber es zwingt uns ausdrücklich, und zwar Philosophen wie Nichtphilosophen gleichermaßen, in jene Abgründe hineinzublicken, die der Programmbegriff "Aufklärung" zu überbrücken sucht. Herrscht an der Gabelung von Moral und (bloßer) Theorie, an der man gern dem reinen, dem theoretischen Denken huldigt, ihrerseits noch einmal eine Moral, durch welche Theorie auf Moral verpflichtet bleibt? Und wenn uns Stangneths schwungvoller Moralismus nicht überzeugt: Welche Alternativen kennen wir nicht nur, sondern können wir wollen? Ganz sicher sind das Fragen, die man nicht am Schreibtisch wegräsoniert.
PETRA GEHRING
Bettina Stangneth: "Böses Denken".
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Kant und Hannah Arendt: Bettina Stangneth hat ein furioses Buch über die Entscheidung zum Bösen geschrieben
Kann man wirklich jemanden übel behandeln und danach schlicht sagen, dass dies ein moralisches Problem sei, habe man nicht gewusst? Und kontert der Einwand, Handlungen ließen sich auf rationalem Wege doch wohl stets ganz unterschiedlich bewerten, wirklich alle Versuche, einen konkreten Menschen für sein Tun verantwortlich zu machen - sowie für seine Einstellungen, aus denen schließlich Tun (oder Nichtstun) folgt? Nein, sagt die Hamburger Philosophin und Historikerin Bettina Stangneth und verwendet auf ihre Antwort ein ganzes, furios geschriebenes Buch.
Sie erinnert ihre Leserinnen und Leser in aller Deutlichkeit daran: Moral beginnt nicht irgendwo anders und bei anderen, quasi weit draußen in der Allgemeinheit irgendwelcher zu bewertenden Verhältnisse, sondern hier, jetzt und vor allem bereits in unseren Einstellungen, der "Denkungsart", der wir uns überlassen. Stangneths Gewährsleute sind Hannah Arendt und Kant.
Auf Vernunftmangel oder emotionale Defizite lasse sich das Böse nicht schieben. Weder können wir Terrorbanden, Folterer, zynische Abzock-Betrügerfirmen oder Leute, die im Internet Hassbotschaften verschicken, für dumm erklären, noch fehlt es solchen Akteuren an Einfühlungsvermögen. Im Gegenteil, sie kennen die Schwächen ihrer Opfer sogar sehr genau. Überhaupt läuft Ursachenforschung leer. Wer mit der Lupe nach Infektionsstellen fürs Vorwerfbare, nach Bosheitsquellen sucht, wird nichts finden. Keineswegs jede schwere Kindheit führt in Straftaten, und auch wohlversorgte Menschen können skrupellos handeln.
Immanuel Kant schrieb trocken vom "radikal" Bösen: Es ist eine permanente Option, die uns trotz Verstand und Aufklärung von innen her fortwährend nahe bleibt. Zumeist entsteht moralisch Übles auch gar nicht, weil wir es absichtsvoll wollen, unsere Aufmerksamkeit wendet sich dem, was gut wäre, bloß gar nicht mehr ernsthaft zu. Wir werden gleichsam moralisch faul. Von "bösem Herzen" spricht diesbezüglich Kant.
Man kann dem Umgang mit dem eigenen Denken ausweichen, übersetzt Stangneth dies und interpretiert Arendts Buch über den Prozess gegen Adolf Eichmann als Studie dazu, wie die Berufung auf "Nichtwissen" als Rechtfertigungsgrund in diesem Zusammenhang funktioniert: Das Abschalten, das Gar-nicht-erst-für-moralrelevant-halten, schreibt man sich selbst nicht zu, weil man die eigene "Vernunft" überhaupt erst diesseits von Moral beginnen lässt. Während Kant, so Stangneth, "fragt, wie es möglich ist, dass wir wissentlich etwas Böses tun, frage Hannah Arendt, wie es möglich ist, unwissentlich etwas Böses zu tun". Arendts Antwort lautet: Der gedankenlose Täter erinnert keine Böswilligkeit und verweigert so auch, sich an unterlassene eigene moralische Anstrengungen zu erinnern.
Stangneth zieht den Bogen vom NS-Täter zu dschihadistischer Radikalisierung und Internethass. "Menschen neigen dazu, sich unwesentliche Fragen zu stellen und sich so hingebungsvoll mit banalem Zeug zu beschäftigen, dass Moral gar nicht mehr in den Blick kommt." Daneben sind es aber Gesten der Selbstimmunisierung auch des wissenschaftlichen Denkens gegen Moralität, gegen die Stangneths Buch zu Felde zieht.
Der Gedanke, von Menschen sei zu erwarten, dass sie "gut" - fair, zugewandt und zugunsten des Zusammenlebens verständig - sein wollen, wird nicht zuletzt in der Philosophie selbst demontiert. Wie das Kantische böse Herz kenne auch das "akademische Böse" drei Stufen. Das Kokettieren mit vermeintlich gänzlich neutralisierten Sichtweisen auf das, was ernstlich unerträglich ist und nicht geschehen sollte; den Glauben, Theorie komme gänzlich ohne Ethik aus; die womöglich sogar absichtsvolle Kultivierung von Falschheit und Feindbildern.
"Denken ist nicht wie Stolpern", so formuliert die streitbare Autorin, soll heißen: Ich falle nicht in Einsichten hinein, sondern sie zu haben und zu formulieren ist letztlich auch ein moralisch stimmig zu verantwortender Akt. Auch Theorie wandelt auf moralisch schmalen Pfaden, und Theoretiker, die bequem bloß auf das Firmenschild "Wissenschaft" verweisen, sollten sich für das Handeln, das aus einer bestimmten Denkungsart folgt, jederzeit als verantwortlich erkennen. Das Buch ist glänzend geschrieben und provoziert mit Witz wie bitterem Ernst. Es löst, indem es Vernunft auf die Maxime einer umfassenden Stimmigkeit, die es stets zu prüfen gälte, festlegt, nicht alle Probleme, die es anspricht. Aber es zwingt uns ausdrücklich, und zwar Philosophen wie Nichtphilosophen gleichermaßen, in jene Abgründe hineinzublicken, die der Programmbegriff "Aufklärung" zu überbrücken sucht. Herrscht an der Gabelung von Moral und (bloßer) Theorie, an der man gern dem reinen, dem theoretischen Denken huldigt, ihrerseits noch einmal eine Moral, durch welche Theorie auf Moral verpflichtet bleibt? Und wenn uns Stangneths schwungvoller Moralismus nicht überzeugt: Welche Alternativen kennen wir nicht nur, sondern können wir wollen? Ganz sicher sind das Fragen, die man nicht am Schreibtisch wegräsoniert.
PETRA GEHRING
Bettina Stangneth: "Böses Denken".
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016. 256 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein furioses Buch über die Entscheidung zum Bösen ... Das Buch ist glänzend geschrieben und provoziert mit Witz wie bitterem Ernst. Petra Gehring FAZ.NET