Produktdetails
- Verlag: Steidl
- Erscheinungstermin: 15. Februar 2008
- Englisch
- Abmessung: 230mm x 245mm
- Gewicht: 628g
- ISBN-13: 9783865213761
- ISBN-10: 3865213766
- Artikelnr.: 23457615
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2008Alles ist Gegenwart
Das Indien des einundzwanzigsten Jahrhunderts interessiert die amerikanische Fotografin Betsy Karel nicht. Sie sucht in Bombay die Magie vergangener Zeiten und findet sie an jeder Straßenecke - weil sie gar nicht vergehen kann.
Nostalgisch zu werden ist ein Kunststück in Indien. Denn Zeit wird dort nie gut und alt und vage genug zur Verklärung. Indien ist ein Universum aus Zyklen und Wiedergeburten, in dem alles zu Gegenwart wird, ein Kosmos ohne Ende und Anfang, in dem das Gesetz der Gleichzeitigkeit herrscht und kein Platz für die Tagträumereien der Diachronie ist. Das aber stört die in New York geborene Fotografin Betsy Karel nicht. Sie gibt im Vorwort ihres Buches unbekümmert zu, dass ihr Herz an einem literarischen Indien hänge und ganz besonders an jenem Bombay aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, das vielen indischen Familienromanen als schillernde Kulisse diente. Das Land der Softwarekönige und Stahlmagnaten, die künftige Supermacht würdigt sie keines Blickes, und so nennt sie die Stadt auch konsequent bei ihrem alten britischen Namen Bombay, obwohl ihre Einwohner seit vielen Jahren nur noch die Bezeichnung Mumbai verwenden. Mumbai klingt nicht nach Teatime und Empire, nicht nach Gin Tonic im Polo Club und Wachpersonal mit Turban. "Bombay Jadoo" hingegen ist der adäquate Titel für eine Huldigung des Molochs in Maharashtra mit dem selbstbetrügerischen Blick der Nostalgie: koloniale Reminiszenz, garniert mit dem Hindu-Wort für Magie.
So viel sture Wehmut, so viel melancholischer Starrsinn ist bewundernswert. Und Karels Konsequenz kennt kein Pardon: Sie isoliert nur solche Szenen aus dem Alltag, die aus ihrem geliebten Bücher-Bombay stammen könnten. Nichts Schändliches aus der heutigen Zeit verhunzt auch nur eine einzige ihrer Fotografien, kein Auto, das nicht ein putziger Ambassador wäre, kein Mobiltelefon, kein Ronaldinho-Leibchen. Dabei muss sie noch nicht einmal die Wirklichkeit zensieren, denn Mumbais Modernität, all die smarten Finanzmenschen und prätentiösen Hochhäuser, sind nur Schaumkronen in einem Ozean der Beharrung und Traditionsheiligkeit. Niemals verleugnet Indien seine Wurzeln, niemals schämt es sich ihrer, niemals käme es auf den Gedanken, sie im Höhenrausch abzuschneiden. So wirkt Mumbai auf die Besucher aus dem Westen irritierend wie ein Januskopf, gleichzeitig neu und alt, fortschrittlich und ewiggestrig, online vernetzt und sphärisch verbunden mit den dreißig Millionen Göttern des Hinduismus.
Deshalb zeigen Karels Bilder eine Welt, die nicht dem Untergang geweiht, sondern bis heute jedem Indien-Fahrer vertraut ist: die plappernden Alten mit Wickelrock im Park, die gordischen Verkehrsknäuel, die Garküchen und Rikscha-Werkstätten am Straßenrand, die prähistorischen Vorortzüge, die Kinder mit den dicken Kajal-Balken unter den Augen. Und deshalb verfälscht Karel Indien nicht zu sentimentalem Kitsch. Stattdessen zeigt sie, ohne es zu wollen, die einzigartige Koexistenz von Fortschritt und Vergangenheit in diesem Land. Sie blickt zurück und sieht das Jetzt. Sie träumt und ist wach. Wo sonst ist das möglich?
JAKOB STROBEL Y SERRA
"Bombay Jadoo" von Betsy Karel. Steidl Verlag, Göttingen 2007. 90 Seiten, zahlreiche Schwarzweißfotografien. Gebunden, 32 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Indien des einundzwanzigsten Jahrhunderts interessiert die amerikanische Fotografin Betsy Karel nicht. Sie sucht in Bombay die Magie vergangener Zeiten und findet sie an jeder Straßenecke - weil sie gar nicht vergehen kann.
Nostalgisch zu werden ist ein Kunststück in Indien. Denn Zeit wird dort nie gut und alt und vage genug zur Verklärung. Indien ist ein Universum aus Zyklen und Wiedergeburten, in dem alles zu Gegenwart wird, ein Kosmos ohne Ende und Anfang, in dem das Gesetz der Gleichzeitigkeit herrscht und kein Platz für die Tagträumereien der Diachronie ist. Das aber stört die in New York geborene Fotografin Betsy Karel nicht. Sie gibt im Vorwort ihres Buches unbekümmert zu, dass ihr Herz an einem literarischen Indien hänge und ganz besonders an jenem Bombay aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, das vielen indischen Familienromanen als schillernde Kulisse diente. Das Land der Softwarekönige und Stahlmagnaten, die künftige Supermacht würdigt sie keines Blickes, und so nennt sie die Stadt auch konsequent bei ihrem alten britischen Namen Bombay, obwohl ihre Einwohner seit vielen Jahren nur noch die Bezeichnung Mumbai verwenden. Mumbai klingt nicht nach Teatime und Empire, nicht nach Gin Tonic im Polo Club und Wachpersonal mit Turban. "Bombay Jadoo" hingegen ist der adäquate Titel für eine Huldigung des Molochs in Maharashtra mit dem selbstbetrügerischen Blick der Nostalgie: koloniale Reminiszenz, garniert mit dem Hindu-Wort für Magie.
So viel sture Wehmut, so viel melancholischer Starrsinn ist bewundernswert. Und Karels Konsequenz kennt kein Pardon: Sie isoliert nur solche Szenen aus dem Alltag, die aus ihrem geliebten Bücher-Bombay stammen könnten. Nichts Schändliches aus der heutigen Zeit verhunzt auch nur eine einzige ihrer Fotografien, kein Auto, das nicht ein putziger Ambassador wäre, kein Mobiltelefon, kein Ronaldinho-Leibchen. Dabei muss sie noch nicht einmal die Wirklichkeit zensieren, denn Mumbais Modernität, all die smarten Finanzmenschen und prätentiösen Hochhäuser, sind nur Schaumkronen in einem Ozean der Beharrung und Traditionsheiligkeit. Niemals verleugnet Indien seine Wurzeln, niemals schämt es sich ihrer, niemals käme es auf den Gedanken, sie im Höhenrausch abzuschneiden. So wirkt Mumbai auf die Besucher aus dem Westen irritierend wie ein Januskopf, gleichzeitig neu und alt, fortschrittlich und ewiggestrig, online vernetzt und sphärisch verbunden mit den dreißig Millionen Göttern des Hinduismus.
Deshalb zeigen Karels Bilder eine Welt, die nicht dem Untergang geweiht, sondern bis heute jedem Indien-Fahrer vertraut ist: die plappernden Alten mit Wickelrock im Park, die gordischen Verkehrsknäuel, die Garküchen und Rikscha-Werkstätten am Straßenrand, die prähistorischen Vorortzüge, die Kinder mit den dicken Kajal-Balken unter den Augen. Und deshalb verfälscht Karel Indien nicht zu sentimentalem Kitsch. Stattdessen zeigt sie, ohne es zu wollen, die einzigartige Koexistenz von Fortschritt und Vergangenheit in diesem Land. Sie blickt zurück und sieht das Jetzt. Sie träumt und ist wach. Wo sonst ist das möglich?
JAKOB STROBEL Y SERRA
"Bombay Jadoo" von Betsy Karel. Steidl Verlag, Göttingen 2007. 90 Seiten, zahlreiche Schwarzweißfotografien. Gebunden, 32 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main