Produktdetails
- Verlag: Ullstein Verlag
- ISBN-13: 9783548021355
- ISBN-10: 3548021352
- Artikelnr.: 24883254
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.09.2017Geld, Liebe, Cabriolet
Françoise Sagans Roman „Bonjour tristesse“, 1954 in Paris erschienen, entwarf Bilder vom
Zeitvertreib der Reichen. Jetzt gibt es den Welterfolg in neuer Übersetzung
FRANÇOISE SAGAN
VON GEORG KLEIN
Es ist bloß ein Büchlein, so leichtgewichtig, dass die Hand, die es während einer abendlichen Bettlektüre hält, keine Stütze braucht. Und eine versierte Leserin, ein routinierter Leser muss sich heute wie vor über sechzig Jahren, als der schmale Roman ein phänomenaler Erfolg wurde, kaum mehr als vier Stunden Muße nehmen, um an sein Ende zu gelangen.
Die Handlung ist schnell umrissen: Fünf Hauptfiguren verbringen einige Sommerwochen an der Côte d’Azur, irgendwo zwischen Nizza und Saint-Tropez. Die siebzehnjährige Ich-Erzählerin Cécile und ihr Vater, ein notorischer Frauenjäger Anfang vierzig, werden von dessen erheblich jüngerer Geliebten in die Ferien ans Meer begleitet. Dort lässt sich Cécile mit einem Jura-Studenten aus gutem Hause auf eine Liebschaft ein.
Unbedacht hat ihr Vater auch eine ehemalige Freundin seiner verstorbenen Frau, eine erfolgreiche Modeschöpferin, in die für zwei Monate gemietete Villa eingeladen. Als sie mit ihrem großen amerikanischen Cabriolet eintrifft, gerät das zwanglos ausbalancierte libidinöse Arrangement der beiden Paare ins Schlingern. „Ich bin mir sicher, dass die meisten meiner damaligen Vergnügungen dem Geld zu verdanken waren“, meint Cécile, und Legionen weit weniger betuchter Leser konnten und können sich vorstellen, wie ein solches Leben ausgesehen hat. Denn nicht nur die Literatur, sondern auch die Boulevardpresse und der Film, danach das Fernsehen und heutzutage die Regenbogensphären des Internets vermitteln ein Bild vom Zeitvertreib der Reichen.
Es ist jene Art Dasein, in dem Geld, weil man es bereits im Überfluss hat, allenfalls noch beiläufig durch irgendeinen schicken Beruf verdient wird. Während der Roman Mitte der Fünfzigerjahre ein Weltpublikum erreicht, kurvt auf der Leinwand Grace Kelly als Millionärstochter in „Über den Dächern von Nizza“ am Steuer einer offenen Luxuskarrosse über dieselben Küstenstraßen, auf denen auch Cécile zu den exklusiv geselligen Zusammenkünften ihrer Klasse gelangt.
Lieben die Angehörigen dieser High Society anders als unsereiner? Hat man dort womöglich einen besonderen Sex? Die Kulturindustrie lebt nicht zuletzt davon, dass sie uns das Gegenteil suggeriert. Auch wenn die im Liebeskampf verschwitzten Laken umgehend von einem diskreten Zimmermädchen gewechselt werden, soll das, was die Villenbewohner libidinös bewerkstelligen, in seinem Glücken wie in seinem Verunglücken dem ähneln, was denjenigen widerfährt, die zum Beispiel als Zimmermädchen ihr Geld verdienen. Denn unter dem Diktat von Amor und Venus werden wir angeblich alle auf eine fatale Weise gleich.
Wirklich? Elsa, die aktuelle Geliebte von Céciles Vater, ist eine Übergangsfigur, die an zwei gesellschaftlichen Bereichen, am recht weit Oben und am ziemlich weit Unten, Anteil hat. Ihre extravagante Schönheit ermöglicht es ihr, sich von wohlhabenden älteren Männern aushalten zu lassen. Cécile nennt sie „une demi-mondaine“, wofür in der ersten Übersetzung von Helga Treichl wie in der aktuellen Neuübertragung von Rainer Moritz auf die Bezeichnung „Halbweltdame“ zurückgegriffen wird. Beide Ausdrücke vermeiden zu sagen, worin sich die Sphäre der Reichen und Elsas Herkunftswelt überschneiden. Das gemeinsame Terrain ist einer jener gesellschaftlichen Märkte, auf denen sexuelle Attraktivität gegen Geld getauscht wird. Und gerade wenn Cécile Elsa dafür lobt, ihre jeweiligen Liebhaber nicht über Gebühr auszunehmen, wird deutlich, dass sie die rothaarige Schönheit für das hält, was im Roman „putain“ oder „fille de rue“ heißt und in der Neuübersetzung mit „Hure“, aber auch mit dem zeitgemäß derben „Nutte“ wiedergegeben wird.
Cécile verachtet Elsa nicht dafür, dass diese ihre Schönheit zu Markte trägt, sondern für etwas anderes. Als sie Elsa zum ersten Mal mit der dreizehn Jahre älteren Modeschöpferin Anne vergleicht, wird letztere als „une femme de tête“ charakterisiert. In der Erstübersetzung von Helga Treichl steht hierfür „eine Frau mit Geist“, Rainer Moritz hat sich nun für die ebenso sachliche wie elegante Prägung „eine Frau von Verstand“ entschieden. Die Qualitäten, die Cécile damit meint, sind genau das, was Elsa entbehrt. Unter ihrer prächtigen roten Mähne sitzt eben nicht, worüber ihre Konkurrentin souverän verfügt, die Fähigkeit, die Mitwelt kritisch und differenziert zu beurteilen und diesem Urteil auch sprachlich Ausdruck zu verleihen. Elsa ist in Céciles Augen, vereinfacht gesagt, ziemlich dumm, während sich Anne durch eine Klugheit auszeichnet, die sich gegebenenfalls auch durch ein brillantes Bonmot auszuweisen versteht.
Wie aber nennt man eine Siebzehnjährige, die eine derart intelligente, weltgewisse und stilsichere Frau durch eine raffiniert eingefädelte Intrige in Verzweiflung stürzen lässt, ja ihren Tod in einem Autounfall verschuldet? Ein hinterhältiges Luder? Eine halb gare Göre mit Killerinstinkt? „Bonjour tristesse“ ist ein Werk der Unterhaltungsliteratur und muss, um viele Leser bei der Stange zu halten, ein klares figürliches Identifikationsangebot machen. Cécile, Ich-Erzählerin und böswillige Regisseurin der Handlung, ist die einzige Gestalt, die hierfür infrage kommt. Sie ist verwöhnt, egoistisch, faul und wohl auch das, was man heutzutage magersüchtig nennt. Aber wir genießen das Kalkül, mit dem sie die anderen zu manipulieren beginnt, und erliegen der Eloquenz, mit der sich dieser Machterwerb in ihrem inneren Monolog spiegelt.
„Es ist eine Frage der Psychologie“, belehrt Cécile ihren Geliebten Cyril und die rothaarige Elsa, als sie beginnt, mit den beiden ein Komplott gegen Anne zu schmieden. Als Leser weiß man längst, wie doppelbödig die folgenden Erläuterungen sind. Denn wenn Cécile ihren beiden Gehilfen erklärt, wie leicht ihr Vater und Anne auszurechnen sind, ahnen jene nicht, dass ihre Zuarbeit Absichten gehorchen wird, die Cécile wohlweislich für sich behält.
„Dieser ganze herrliche Mechanismus der menschlichen Reflexe, diese Macht des Worts, plötzlich ahnte ich sie.“ Damit sind die Lügen und rhetorischen Tricks gemeint, mit denen Cécile ihren Vater, Anne, Elsa und Cyril über den Tisch zieht. Aber es gilt auch für den Leser, der sich von Françoise Sagans subtil süffigem, lückenlos glatt gestricktem Psychologismus mitreißen lässt. Auch in der Machart liegt Macht. Und zu wissen, dass Sagan bei der Niederschrift des Textes kaum älter als ihre Protagonistin war, verleiht der Versiertheit ihrer Seelenerklärung eine besondere Anziehungskraft und lädt dazu ein, sich auch mit der Figur der Autorin in eins zu setzen.
Worin aber liegt die „tristesse“, von der das Werk nicht nur in seinem Titel, sondern auch auf seiner ersten wie auf seiner letzten Seite spricht? Rainer Moritz entscheidet sich, „tristesse“ mit Trauer zu übersetzen. Und wenn damit die Trauer um die in den Unfalltod getriebene Anne gemeint wäre, würde dies ein gnädiges Licht auf die Protagonistin werfen. Ja, sogar wenn Cécile um die Unschuld ihrer einstigen Vergnügungen trauern sollte, stünde sie nicht allzu übel da. Allerdings könnte mit Tristesse auch eine wohlfeile Melancholie gemeint sein, die nahe dem l’ennui ihrer Klasse, nahe einer halb wehmütigen, halb lasziven Lebensunlust der gebildeten Privilegierten, angesiedelt ist. Dann wäre auch der zu einem geflügelten Wort gewordene Titel Teil eines Spiels, das unsere Fantasie seit über einem halben Jahrhundert zur imaginären Teilhabe an einem gestohlenen Luxus verführt.
Dieser ganze
herrliche Mechanismus
der menschlichen
Reflexe, diese
Macht des Worts,
plötzlich ahnte
ich sie.“
Marcel Prousts Princesse de Sagan inspirierte ihr Pseudonym: Françoise Sagan 1954 als 19-Jährige am Steuer ihres Jaguar.
Foto: Süddeutsche Zeitung Foto
Françoise Sagan: Bonjour tristesse. Aus dem Französischen von Rainer Moritz.
Mit einem Nachwort von Sibylle Berg. Ullstein Verlag, Berlin 2017. 166 Seiten,
18 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Françoise Sagans Roman „Bonjour tristesse“, 1954 in Paris erschienen, entwarf Bilder vom
Zeitvertreib der Reichen. Jetzt gibt es den Welterfolg in neuer Übersetzung
FRANÇOISE SAGAN
VON GEORG KLEIN
Es ist bloß ein Büchlein, so leichtgewichtig, dass die Hand, die es während einer abendlichen Bettlektüre hält, keine Stütze braucht. Und eine versierte Leserin, ein routinierter Leser muss sich heute wie vor über sechzig Jahren, als der schmale Roman ein phänomenaler Erfolg wurde, kaum mehr als vier Stunden Muße nehmen, um an sein Ende zu gelangen.
Die Handlung ist schnell umrissen: Fünf Hauptfiguren verbringen einige Sommerwochen an der Côte d’Azur, irgendwo zwischen Nizza und Saint-Tropez. Die siebzehnjährige Ich-Erzählerin Cécile und ihr Vater, ein notorischer Frauenjäger Anfang vierzig, werden von dessen erheblich jüngerer Geliebten in die Ferien ans Meer begleitet. Dort lässt sich Cécile mit einem Jura-Studenten aus gutem Hause auf eine Liebschaft ein.
Unbedacht hat ihr Vater auch eine ehemalige Freundin seiner verstorbenen Frau, eine erfolgreiche Modeschöpferin, in die für zwei Monate gemietete Villa eingeladen. Als sie mit ihrem großen amerikanischen Cabriolet eintrifft, gerät das zwanglos ausbalancierte libidinöse Arrangement der beiden Paare ins Schlingern. „Ich bin mir sicher, dass die meisten meiner damaligen Vergnügungen dem Geld zu verdanken waren“, meint Cécile, und Legionen weit weniger betuchter Leser konnten und können sich vorstellen, wie ein solches Leben ausgesehen hat. Denn nicht nur die Literatur, sondern auch die Boulevardpresse und der Film, danach das Fernsehen und heutzutage die Regenbogensphären des Internets vermitteln ein Bild vom Zeitvertreib der Reichen.
Es ist jene Art Dasein, in dem Geld, weil man es bereits im Überfluss hat, allenfalls noch beiläufig durch irgendeinen schicken Beruf verdient wird. Während der Roman Mitte der Fünfzigerjahre ein Weltpublikum erreicht, kurvt auf der Leinwand Grace Kelly als Millionärstochter in „Über den Dächern von Nizza“ am Steuer einer offenen Luxuskarrosse über dieselben Küstenstraßen, auf denen auch Cécile zu den exklusiv geselligen Zusammenkünften ihrer Klasse gelangt.
Lieben die Angehörigen dieser High Society anders als unsereiner? Hat man dort womöglich einen besonderen Sex? Die Kulturindustrie lebt nicht zuletzt davon, dass sie uns das Gegenteil suggeriert. Auch wenn die im Liebeskampf verschwitzten Laken umgehend von einem diskreten Zimmermädchen gewechselt werden, soll das, was die Villenbewohner libidinös bewerkstelligen, in seinem Glücken wie in seinem Verunglücken dem ähneln, was denjenigen widerfährt, die zum Beispiel als Zimmermädchen ihr Geld verdienen. Denn unter dem Diktat von Amor und Venus werden wir angeblich alle auf eine fatale Weise gleich.
Wirklich? Elsa, die aktuelle Geliebte von Céciles Vater, ist eine Übergangsfigur, die an zwei gesellschaftlichen Bereichen, am recht weit Oben und am ziemlich weit Unten, Anteil hat. Ihre extravagante Schönheit ermöglicht es ihr, sich von wohlhabenden älteren Männern aushalten zu lassen. Cécile nennt sie „une demi-mondaine“, wofür in der ersten Übersetzung von Helga Treichl wie in der aktuellen Neuübertragung von Rainer Moritz auf die Bezeichnung „Halbweltdame“ zurückgegriffen wird. Beide Ausdrücke vermeiden zu sagen, worin sich die Sphäre der Reichen und Elsas Herkunftswelt überschneiden. Das gemeinsame Terrain ist einer jener gesellschaftlichen Märkte, auf denen sexuelle Attraktivität gegen Geld getauscht wird. Und gerade wenn Cécile Elsa dafür lobt, ihre jeweiligen Liebhaber nicht über Gebühr auszunehmen, wird deutlich, dass sie die rothaarige Schönheit für das hält, was im Roman „putain“ oder „fille de rue“ heißt und in der Neuübersetzung mit „Hure“, aber auch mit dem zeitgemäß derben „Nutte“ wiedergegeben wird.
Cécile verachtet Elsa nicht dafür, dass diese ihre Schönheit zu Markte trägt, sondern für etwas anderes. Als sie Elsa zum ersten Mal mit der dreizehn Jahre älteren Modeschöpferin Anne vergleicht, wird letztere als „une femme de tête“ charakterisiert. In der Erstübersetzung von Helga Treichl steht hierfür „eine Frau mit Geist“, Rainer Moritz hat sich nun für die ebenso sachliche wie elegante Prägung „eine Frau von Verstand“ entschieden. Die Qualitäten, die Cécile damit meint, sind genau das, was Elsa entbehrt. Unter ihrer prächtigen roten Mähne sitzt eben nicht, worüber ihre Konkurrentin souverän verfügt, die Fähigkeit, die Mitwelt kritisch und differenziert zu beurteilen und diesem Urteil auch sprachlich Ausdruck zu verleihen. Elsa ist in Céciles Augen, vereinfacht gesagt, ziemlich dumm, während sich Anne durch eine Klugheit auszeichnet, die sich gegebenenfalls auch durch ein brillantes Bonmot auszuweisen versteht.
Wie aber nennt man eine Siebzehnjährige, die eine derart intelligente, weltgewisse und stilsichere Frau durch eine raffiniert eingefädelte Intrige in Verzweiflung stürzen lässt, ja ihren Tod in einem Autounfall verschuldet? Ein hinterhältiges Luder? Eine halb gare Göre mit Killerinstinkt? „Bonjour tristesse“ ist ein Werk der Unterhaltungsliteratur und muss, um viele Leser bei der Stange zu halten, ein klares figürliches Identifikationsangebot machen. Cécile, Ich-Erzählerin und böswillige Regisseurin der Handlung, ist die einzige Gestalt, die hierfür infrage kommt. Sie ist verwöhnt, egoistisch, faul und wohl auch das, was man heutzutage magersüchtig nennt. Aber wir genießen das Kalkül, mit dem sie die anderen zu manipulieren beginnt, und erliegen der Eloquenz, mit der sich dieser Machterwerb in ihrem inneren Monolog spiegelt.
„Es ist eine Frage der Psychologie“, belehrt Cécile ihren Geliebten Cyril und die rothaarige Elsa, als sie beginnt, mit den beiden ein Komplott gegen Anne zu schmieden. Als Leser weiß man längst, wie doppelbödig die folgenden Erläuterungen sind. Denn wenn Cécile ihren beiden Gehilfen erklärt, wie leicht ihr Vater und Anne auszurechnen sind, ahnen jene nicht, dass ihre Zuarbeit Absichten gehorchen wird, die Cécile wohlweislich für sich behält.
„Dieser ganze herrliche Mechanismus der menschlichen Reflexe, diese Macht des Worts, plötzlich ahnte ich sie.“ Damit sind die Lügen und rhetorischen Tricks gemeint, mit denen Cécile ihren Vater, Anne, Elsa und Cyril über den Tisch zieht. Aber es gilt auch für den Leser, der sich von Françoise Sagans subtil süffigem, lückenlos glatt gestricktem Psychologismus mitreißen lässt. Auch in der Machart liegt Macht. Und zu wissen, dass Sagan bei der Niederschrift des Textes kaum älter als ihre Protagonistin war, verleiht der Versiertheit ihrer Seelenerklärung eine besondere Anziehungskraft und lädt dazu ein, sich auch mit der Figur der Autorin in eins zu setzen.
Worin aber liegt die „tristesse“, von der das Werk nicht nur in seinem Titel, sondern auch auf seiner ersten wie auf seiner letzten Seite spricht? Rainer Moritz entscheidet sich, „tristesse“ mit Trauer zu übersetzen. Und wenn damit die Trauer um die in den Unfalltod getriebene Anne gemeint wäre, würde dies ein gnädiges Licht auf die Protagonistin werfen. Ja, sogar wenn Cécile um die Unschuld ihrer einstigen Vergnügungen trauern sollte, stünde sie nicht allzu übel da. Allerdings könnte mit Tristesse auch eine wohlfeile Melancholie gemeint sein, die nahe dem l’ennui ihrer Klasse, nahe einer halb wehmütigen, halb lasziven Lebensunlust der gebildeten Privilegierten, angesiedelt ist. Dann wäre auch der zu einem geflügelten Wort gewordene Titel Teil eines Spiels, das unsere Fantasie seit über einem halben Jahrhundert zur imaginären Teilhabe an einem gestohlenen Luxus verführt.
Dieser ganze
herrliche Mechanismus
der menschlichen
Reflexe, diese
Macht des Worts,
plötzlich ahnte
ich sie.“
Marcel Prousts Princesse de Sagan inspirierte ihr Pseudonym: Françoise Sagan 1954 als 19-Jährige am Steuer ihres Jaguar.
Foto: Süddeutsche Zeitung Foto
Françoise Sagan: Bonjour tristesse. Aus dem Französischen von Rainer Moritz.
Mit einem Nachwort von Sibylle Berg. Ullstein Verlag, Berlin 2017. 166 Seiten,
18 Euro. E-Book 14,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2017Schnell lieben, heftig, flüchtig
Der Roman war ein Skandal, das Leben seiner Autorin auch: Jetzt erscheint "Bonjour Tristesse" von Françoise Sagan endlich in einer neuen Übersetzung
Was für ein Buch, immer noch. Oder zum ersten Mal. Oder eben schon wieder, zum zweiten, dritten, vierten Mal. Denn egal, wie oft man "Bonjour Tristesse" liest: Jedes Mal kann man erst einmal nicht fassen, in welchem Ausmaß an diesem Debüt einfach alles stimmt, der Titel, der Stil, der Plot, die kurze Länge, ja selbst der Name der Autorin und ihr Alter: Neunzehn Jahre war Françoise Sagan, als sie es in nur wenigen Wochen schrieb, damals, 1954.
Und wüsste man nicht, dass es vor "Bonjour Tristesse" schon ein paar andere Romane gegeben hatte, die in der gleichen Gegend vom gleichen tödlichen Herzschmerz erzählen, "Zärtlich ist die Nacht" von F. Scott Fitzgerald zum Beispiel: Man könnte denken, dass Françoise Sagan die Côte d'Azur überhaupt erst erfunden hat. Ihr Roman war gewissermaßen ein performativer Akt, der eine Welt in die Welt gesetzt hat, indem er sie in Worte fasste.
Eine Welt, nach der sich bis heute vor allem Menschen sehnen, die nicht Franzosen sind: Strand und steile Küstenstraßen, an deren Rändern sich Piniennadeln sammeln, Ferienhäuser am Meer, ausgelegt mit kühlen Fliesen, bevölkert von Männern und Frauen, die schnelle Autos fahren und schwarzen Kaffee und Orangen frühstücken und rauchen, als könnten sie anders nicht atmen. Und die sich umso unglücklicher machen, je schöner sie sind.
Es stimmt natürlich nicht, dass Sagan all das erfunden hätte, im Gegenteil: Sie hat sogar Elemente ihres eigenen, jungen Lebens in der Geschichte von Cécile verarbeitet. Und doch ist die identifikatorische Kraft ihres ersten Romans enorm gewesen, ist es bis heute geblieben: Dieses verzehrende Gefühl, jede Seite, die man gelesen hat, sofort nachleben zu wollen, selbst wenn die Geschichte von "Bonjour Tristesse" die eines unausweichlichen Unglücks ist. Nein, das ist es ja gerade, es ist genau dieses Unglück im Sonnenschein, dass so anziehend wirkt.
"Es war Sommer." Das ist ein typischer Satz aus "Bonjour Tristesse", stilistisch sparsam, setzt er aber mit autoritärer Selbstgewissheit die Szene. "Es war Sommer": In drei Worten ist da auf der dritten Seite des Romans schon alles gesagt, was man wissen muss, geschrieben im Bewusstsein, deswegen auch nicht mehr erklären zu müssen. Sommer, das heißt rechtsfreier Raum, der Mensch noch mal neu, in anderer Temperatur; Sommer, das heißt gefährliche Langeweile, die Wünsche hervorbringt, die man mit kühlerem Kopf vielleicht nicht hätte oder jedenfalls nicht auszuleben wagte.
Im Fall von Cécile ist es der Wunsch nach einem Leben ohne Konsequenz, "schnell lieben, heftig und flüchtig". Sagt sie jedenfalls. Handelt auch danach. Alles ist möglich, keinem tut was weh, jeder ist frei, also lieben wir, so weit wir es damit treiben können. Die Halbwaise Cécile lebt seit zwei Jahren bei ihrem Vater Raymond, die beiden sind über den Sommer am Mittelmeer, irgendwo bei Fréjus, Cécile küsst sich mit Cyril, Raymond hat seine junge Freundin Elsa mitgebracht, aber bald auch Anne eingeladen, die nicht mehr ganz so jung ist, aber von so einer kühlen Schönheit und Klugheit, dass Cécile nicht weiß, ob sie Anne lieben oder fürchten soll. Sie tut beides, und als dann ihr Vater plötzlich verkündet, Anne heiraten zu wollen, inszeniert sie eine Intrige, die tödlich endet.
Aber tut sie das? Inszeniert Cécile, handelt sie? Oder schaut sie sich, blinzelnd durch die Wassertropfen auf ihren Wimpern, Sand auf ihrer Haut, selbst fasziniert nur dabei zu, wie sie Elsa und Cyril benutzt, um Raymond eifersüchtig zu machen, damit der Anne so verletzt, dass sie geht? Sie geht dann für immer. Zurück bleiben der Vater und die Tochter, vereint in ewiger Siebzehnjährigkeit: "Man muss meinen Vater schützen", sagt Cécile irgendwann, "er ist ein großes Kind . . . ein großes Kind."
"Bonjour Tristesse" jetzt noch einmal zu lesen, in der neuen Übersetzung von Rainer Moritz, der zweiten überhaupt nach der ersten von Helga Treichl aus dem Jahr 1955, ist zwar nicht weniger aufwühlend und erregend als beim allerersten Mal. Und doch gibt diese neue Ausgabe einem jetzt auch die Chance, auf all das zu achten, was bislang, im Feuer der Überidentifikation (genauso leben, genauso lieben, Ferien für immer!), keine Rolle spielte. Zum Beispiel: Wer erzählt da eigentlich und von wo und wann aus? Wer schaut zurück auf einen tödlichen Sommer? Ist es Cécile, aber inzwischen so alt wie Cyril, sechsundzwanzig? Oder Cécile, Anfang vierzig wie Anne? Oder noch älter? Ist es der schreibende Versuch, alles noch einmal erleben zu dürfen, oder legt sie Rechenschaft ab?
Sagans Roman gibt wenige direkte Hinweise darauf, "selbst heute noch", heißt es einmal, eine seltene Stelle, "kann ich mich nicht an diese Unsitte der Leute gewöhnen, dass sie einen anstarren, wenn sie mit einem sprechen" - dabei ist die Frage, wer spricht, zentral, um zu verstehen, wie schicksalhaft es war, was da geschah. Verschleiert Cécile, wie bewusst ihr war, was sie tat? Oder versteht sie - "selbst heute noch" - nicht, warum sie damals Schicksal spielte? So explosiv die Lebensfreiheit dieses Romans auch ist, wie explosiv wird sie erst 1954 gewirkt haben, neun Jahre nach dem Krieg, vierzehn vor 1968: "Bonjour Tristesse" ist eine Reflexion über menschliche Freiheit - und zugleich darüber, dass man gar nicht jung genug sein kann, um Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen.
Kann alles so sein. Steht da so zwischen den Zeilen und den Piniennadeln. Aber trotzdem, und das ist das Wunder dieses kurzen Romans und sein großer Reiz, trotzdem liest man ihn, wie man die "Swimming Pool"-Filme mit Alain Delon und Romy Schneider oder Charlotte Rampling und Ludivine Sagnier anschaut: hingerissen von der Sinnlichkeit, von der kalten Eleganz des Stils, von der kriminellen Energie der Liebe und der Leidenschaft des Egos.
Da gibt es diese atemlos angedeuteten Sexszenen, Cécile und Cyril auf einem Segelboot. Da gibt es Anne, die Cécile eine brennende Zigarette in den Mund steckt. Da gibt es diese Sätze: "Ich bin mir sicher, dass die meisten meiner damaligen Vergnügungen dem Geld zu verdanken waren: das Vergnügen, in einem schnellen Auto zu fahren, ein neues Kleid zu bekommen, Schallplatten zu kaufen, Bücher, Blumen." Oder: "Ich entdeckte das Vergnügen des Küssens. Ich gebe diesen Erinnerungen keine Namen: Jean, Hubert, Jacques. Namen, die allen jungen Mädchen geläufig sind." Oder: "Dieser Sommer hielt mich mit seiner ganzen Wucht im Sand fest, mit schweren Armen und ausgetrocknetem Mund", oder, der herrlichste von allen: "Ich war siebzehn in jenem Sommer und vollkommen glücklich."
Rainer Moritz, der neue, elegante Übersetzer, hat sich entschieden, das letzte Wort des Romans, "Tristesse", mit "Trauer" zu übersetzen, nicht mit "Traurigkeit", wie das Helga Treichl 1955 getan hatte - weil Trauer, wie Moritz, danach befragt, erklärt, "die moralischen Grundfragen des Romans stärker gewichtet, also dem nachträglichen Empfinden Céciles mehr Ernst gibt, als im Wort ,Traurigkeit' steckt." Beide Varianten seien allerdings möglich - und es ist genau dieses Flimmern der Bedeutung, was den Roman so unwiderstehlich macht. Cécile könnte traurig sein, dass dieser Sommer vorbei ist und nie wiederkommt - oder Anne betrauern, die sie letztlich in den Tod getrieben hat, als Komplizin der Lebensgeilheit ihres Vaters, der, weil er ein Mann ist, sich nimmt, was er kriegen kann, wer sollte ihn aufhalten. Cécile hat das auch versucht, aber wie wenig selbstverständlich das für eine junge Frau ist: Auch davon handelt "Bonjour Tristesse".
"Sagans Frauenfiguren Cécile und Anne waren für die fünfziger Jahre ein progressiv-feministischer Beitrag zu einem Wandel des Frauenbildes. Doch an dem Zweifel, Frauen als Männern gleichwertig zu betrachten, hat sich bis heute nichts geändert", schreibt die Schriftstellerin Sybille Berg in ihrem klugen Nachwort, das auch das freie, verschwenderische, schnelle Leben der Autorin Françoise Sagan feiert, die Drogen und Rennwagen liebte und ihrem Sohn nach ihrem Tod 2004 einen ordentlichen Berg Schulden hinterließ. "Egal, ob Frauen humorvoll, kämpferisch, selbstbewusst, mit faktischem Wissen und studiertem Intellekt in Erscheinung treten, es herrscht immer noch großes Befremden, dass sie reden können. Dass sie Ansprüche haben. Der Hass auf Frauen hält sich länger als jede Seuche." Bonjour Tristesse.
TOBIAS RÜTHER
Françoise Sagan: "Bonjour Tristesse". Roman. Aus dem Französischen von Rainer Moritz. Mit einem Nachwort von Sybille Berg. Ullstein, 176 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Roman war ein Skandal, das Leben seiner Autorin auch: Jetzt erscheint "Bonjour Tristesse" von Françoise Sagan endlich in einer neuen Übersetzung
Was für ein Buch, immer noch. Oder zum ersten Mal. Oder eben schon wieder, zum zweiten, dritten, vierten Mal. Denn egal, wie oft man "Bonjour Tristesse" liest: Jedes Mal kann man erst einmal nicht fassen, in welchem Ausmaß an diesem Debüt einfach alles stimmt, der Titel, der Stil, der Plot, die kurze Länge, ja selbst der Name der Autorin und ihr Alter: Neunzehn Jahre war Françoise Sagan, als sie es in nur wenigen Wochen schrieb, damals, 1954.
Und wüsste man nicht, dass es vor "Bonjour Tristesse" schon ein paar andere Romane gegeben hatte, die in der gleichen Gegend vom gleichen tödlichen Herzschmerz erzählen, "Zärtlich ist die Nacht" von F. Scott Fitzgerald zum Beispiel: Man könnte denken, dass Françoise Sagan die Côte d'Azur überhaupt erst erfunden hat. Ihr Roman war gewissermaßen ein performativer Akt, der eine Welt in die Welt gesetzt hat, indem er sie in Worte fasste.
Eine Welt, nach der sich bis heute vor allem Menschen sehnen, die nicht Franzosen sind: Strand und steile Küstenstraßen, an deren Rändern sich Piniennadeln sammeln, Ferienhäuser am Meer, ausgelegt mit kühlen Fliesen, bevölkert von Männern und Frauen, die schnelle Autos fahren und schwarzen Kaffee und Orangen frühstücken und rauchen, als könnten sie anders nicht atmen. Und die sich umso unglücklicher machen, je schöner sie sind.
Es stimmt natürlich nicht, dass Sagan all das erfunden hätte, im Gegenteil: Sie hat sogar Elemente ihres eigenen, jungen Lebens in der Geschichte von Cécile verarbeitet. Und doch ist die identifikatorische Kraft ihres ersten Romans enorm gewesen, ist es bis heute geblieben: Dieses verzehrende Gefühl, jede Seite, die man gelesen hat, sofort nachleben zu wollen, selbst wenn die Geschichte von "Bonjour Tristesse" die eines unausweichlichen Unglücks ist. Nein, das ist es ja gerade, es ist genau dieses Unglück im Sonnenschein, dass so anziehend wirkt.
"Es war Sommer." Das ist ein typischer Satz aus "Bonjour Tristesse", stilistisch sparsam, setzt er aber mit autoritärer Selbstgewissheit die Szene. "Es war Sommer": In drei Worten ist da auf der dritten Seite des Romans schon alles gesagt, was man wissen muss, geschrieben im Bewusstsein, deswegen auch nicht mehr erklären zu müssen. Sommer, das heißt rechtsfreier Raum, der Mensch noch mal neu, in anderer Temperatur; Sommer, das heißt gefährliche Langeweile, die Wünsche hervorbringt, die man mit kühlerem Kopf vielleicht nicht hätte oder jedenfalls nicht auszuleben wagte.
Im Fall von Cécile ist es der Wunsch nach einem Leben ohne Konsequenz, "schnell lieben, heftig und flüchtig". Sagt sie jedenfalls. Handelt auch danach. Alles ist möglich, keinem tut was weh, jeder ist frei, also lieben wir, so weit wir es damit treiben können. Die Halbwaise Cécile lebt seit zwei Jahren bei ihrem Vater Raymond, die beiden sind über den Sommer am Mittelmeer, irgendwo bei Fréjus, Cécile küsst sich mit Cyril, Raymond hat seine junge Freundin Elsa mitgebracht, aber bald auch Anne eingeladen, die nicht mehr ganz so jung ist, aber von so einer kühlen Schönheit und Klugheit, dass Cécile nicht weiß, ob sie Anne lieben oder fürchten soll. Sie tut beides, und als dann ihr Vater plötzlich verkündet, Anne heiraten zu wollen, inszeniert sie eine Intrige, die tödlich endet.
Aber tut sie das? Inszeniert Cécile, handelt sie? Oder schaut sie sich, blinzelnd durch die Wassertropfen auf ihren Wimpern, Sand auf ihrer Haut, selbst fasziniert nur dabei zu, wie sie Elsa und Cyril benutzt, um Raymond eifersüchtig zu machen, damit der Anne so verletzt, dass sie geht? Sie geht dann für immer. Zurück bleiben der Vater und die Tochter, vereint in ewiger Siebzehnjährigkeit: "Man muss meinen Vater schützen", sagt Cécile irgendwann, "er ist ein großes Kind . . . ein großes Kind."
"Bonjour Tristesse" jetzt noch einmal zu lesen, in der neuen Übersetzung von Rainer Moritz, der zweiten überhaupt nach der ersten von Helga Treichl aus dem Jahr 1955, ist zwar nicht weniger aufwühlend und erregend als beim allerersten Mal. Und doch gibt diese neue Ausgabe einem jetzt auch die Chance, auf all das zu achten, was bislang, im Feuer der Überidentifikation (genauso leben, genauso lieben, Ferien für immer!), keine Rolle spielte. Zum Beispiel: Wer erzählt da eigentlich und von wo und wann aus? Wer schaut zurück auf einen tödlichen Sommer? Ist es Cécile, aber inzwischen so alt wie Cyril, sechsundzwanzig? Oder Cécile, Anfang vierzig wie Anne? Oder noch älter? Ist es der schreibende Versuch, alles noch einmal erleben zu dürfen, oder legt sie Rechenschaft ab?
Sagans Roman gibt wenige direkte Hinweise darauf, "selbst heute noch", heißt es einmal, eine seltene Stelle, "kann ich mich nicht an diese Unsitte der Leute gewöhnen, dass sie einen anstarren, wenn sie mit einem sprechen" - dabei ist die Frage, wer spricht, zentral, um zu verstehen, wie schicksalhaft es war, was da geschah. Verschleiert Cécile, wie bewusst ihr war, was sie tat? Oder versteht sie - "selbst heute noch" - nicht, warum sie damals Schicksal spielte? So explosiv die Lebensfreiheit dieses Romans auch ist, wie explosiv wird sie erst 1954 gewirkt haben, neun Jahre nach dem Krieg, vierzehn vor 1968: "Bonjour Tristesse" ist eine Reflexion über menschliche Freiheit - und zugleich darüber, dass man gar nicht jung genug sein kann, um Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen.
Kann alles so sein. Steht da so zwischen den Zeilen und den Piniennadeln. Aber trotzdem, und das ist das Wunder dieses kurzen Romans und sein großer Reiz, trotzdem liest man ihn, wie man die "Swimming Pool"-Filme mit Alain Delon und Romy Schneider oder Charlotte Rampling und Ludivine Sagnier anschaut: hingerissen von der Sinnlichkeit, von der kalten Eleganz des Stils, von der kriminellen Energie der Liebe und der Leidenschaft des Egos.
Da gibt es diese atemlos angedeuteten Sexszenen, Cécile und Cyril auf einem Segelboot. Da gibt es Anne, die Cécile eine brennende Zigarette in den Mund steckt. Da gibt es diese Sätze: "Ich bin mir sicher, dass die meisten meiner damaligen Vergnügungen dem Geld zu verdanken waren: das Vergnügen, in einem schnellen Auto zu fahren, ein neues Kleid zu bekommen, Schallplatten zu kaufen, Bücher, Blumen." Oder: "Ich entdeckte das Vergnügen des Küssens. Ich gebe diesen Erinnerungen keine Namen: Jean, Hubert, Jacques. Namen, die allen jungen Mädchen geläufig sind." Oder: "Dieser Sommer hielt mich mit seiner ganzen Wucht im Sand fest, mit schweren Armen und ausgetrocknetem Mund", oder, der herrlichste von allen: "Ich war siebzehn in jenem Sommer und vollkommen glücklich."
Rainer Moritz, der neue, elegante Übersetzer, hat sich entschieden, das letzte Wort des Romans, "Tristesse", mit "Trauer" zu übersetzen, nicht mit "Traurigkeit", wie das Helga Treichl 1955 getan hatte - weil Trauer, wie Moritz, danach befragt, erklärt, "die moralischen Grundfragen des Romans stärker gewichtet, also dem nachträglichen Empfinden Céciles mehr Ernst gibt, als im Wort ,Traurigkeit' steckt." Beide Varianten seien allerdings möglich - und es ist genau dieses Flimmern der Bedeutung, was den Roman so unwiderstehlich macht. Cécile könnte traurig sein, dass dieser Sommer vorbei ist und nie wiederkommt - oder Anne betrauern, die sie letztlich in den Tod getrieben hat, als Komplizin der Lebensgeilheit ihres Vaters, der, weil er ein Mann ist, sich nimmt, was er kriegen kann, wer sollte ihn aufhalten. Cécile hat das auch versucht, aber wie wenig selbstverständlich das für eine junge Frau ist: Auch davon handelt "Bonjour Tristesse".
"Sagans Frauenfiguren Cécile und Anne waren für die fünfziger Jahre ein progressiv-feministischer Beitrag zu einem Wandel des Frauenbildes. Doch an dem Zweifel, Frauen als Männern gleichwertig zu betrachten, hat sich bis heute nichts geändert", schreibt die Schriftstellerin Sybille Berg in ihrem klugen Nachwort, das auch das freie, verschwenderische, schnelle Leben der Autorin Françoise Sagan feiert, die Drogen und Rennwagen liebte und ihrem Sohn nach ihrem Tod 2004 einen ordentlichen Berg Schulden hinterließ. "Egal, ob Frauen humorvoll, kämpferisch, selbstbewusst, mit faktischem Wissen und studiertem Intellekt in Erscheinung treten, es herrscht immer noch großes Befremden, dass sie reden können. Dass sie Ansprüche haben. Der Hass auf Frauen hält sich länger als jede Seuche." Bonjour Tristesse.
TOBIAS RÜTHER
Françoise Sagan: "Bonjour Tristesse". Roman. Aus dem Französischen von Rainer Moritz. Mit einem Nachwort von Sybille Berg. Ullstein, 176 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main