Produktdetails
- Verlag: Kleinheinrich Buch- und Kunstverlag
- Seitenzahl: 840
- Erscheinungstermin: September 2022
- Deutsch
- Abmessung: 84mm x 174mm x 255mm
- Gewicht: 2498g
- ISBN-13: 9783945237595
- ISBN-10: 3945237599
- Artikelnr.: 63041893
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2023Schwer und weich und vor Zutrauen blind
Feuerzungenrasch: Eine bibliophile Kassette mit Prosa und Lyrik des eigenwilligen und zeitenthobenen Norwegers Tarjej Vesaas
Der Schriftsteller Tarjei Vesaas, geboren 1897 im südnorwegischen Vinje (etwa dreitausend Einwohner, Bevölkerungsdichte: ein bis zwei Einwohner pro Quadratkilometer), gestorben 1970 in Oslo, wurde mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen. Im Guggolz Verlag erschien 2019 der von den wenigen Rezensenten, die ihn beachteten, hochgelobte Roman "Das Eis-Schloss" (1963). Er erzählt von der schmerzhaften Freundschaft zweier Mädchen an der Schwelle zur Pubertät. Ein Jahr später brachte Guggolz "Die Vögel" (1957) heraus. Es ist die Geschichte von Mattis, dem 37 Jahre alten Helden, der geistig und seelisch ein Kind geblieben ist und an der Seite seiner Schwester Hede ein halbwegs geschütztes Leben führt. Bis er den Holzfäller nach Hause bringt. Dieser Mattis, so Tarjei Vesaas, sei eine Künstlerfigur. "Die Vögel" wurden in den deutschsprachigen Feuilletons gefeiert. Die Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel war für den Leipziger Buchpreis nominiert. Dann wurde es wieder ruhig um den eigenwilligen und zeitenthobenen Autor Vesaas.
Der Skandinavist Josef Kleinheinrich (der auch Inger Christensen und Tomas Tranströmer in seinem singulären Kunstbuchverlag herausbringt) hat nun eine bibliophile Kassette mit drei Büchern realisiert, die einen Einblick geben in Vesaas' Kosmos: Neben dem autobiographisch geprägten Alterswerk in Kurzprosa "Boot am Abend" (1968) enthält die Kassette Gedichte, "Nimm meine Hand", und Erzählungen, "Der wilde Reiter". Beide Bände wurden von Jan Fosse zusammengestellt. Übersetzt hat wiederum Schmidt-Henkel. Lektorat und Satz besorgte der frühere Verleger von Vesaas, Sebastian Guggolz. Der norwegische Maler Olav Christopher Jenssen gestaltete die wie aus Plakaten gefalteten Umschläge der Leinenbände und verband die drei Bücher mit aufeinander bezogenen Bilderserien in verschiedenen Techniken, abstrakte, mit dem Spachtel aufgetragene und geritzte Farblandschaften, gemalte Ölbild-Gesichter, die an Kinderarbeiten erinnern, Farbstiftpassagen wie Stickmuster-Vorlagen, in Brauntönen Pergamentenes, Collagiertes, Echos aus den Höhlen vergangener Kulturen. Diese Bilder sind erfüllte Pausen, Inseln des ausruhenden Schauens zwischen Vesaas' dichten Zeilen.
"Boot am Abend" erschien zwei Jahre vor Vesaas' Tod. Der Autor lebte bis fast zuletzt zurückgezogen mit seiner Frau, der Lyrikerin und Kinder- und Jugendbuchautorin Halldis Moren (1907 bis 1995) in seiner Heimatgemeinde Vinje auf Hof Midtbø. Es ist sein leises, radikales Vermächtnis. "Wie es in der Erinnerung steht" intoniert noch eine nacherzählbare Geschichte, doch im Verlauf umspielen die Texte immer mehr innere Zustände, die der äußeren Realia nur noch als Anstöße bedürfen. Zunächst also das Kinderbild: Im abgelegenen Wald soll das Pferd den verschneiten Wirtschaftsweg bahnen und dann die gefällten Holzstämme aus dem Wald ziehen. Vater und Sohn gehen mit Schaufeln hinter dem Pferd her, machen den Weg frei. Eine anstrengende und immer auch vergebliche Arbeit. Denn es schneit wieder. Während sich der Junge in eine Gegenwelt von freundlichen Tieren, die ihn begleiten, hineinimaginiert ("Er will sie dahaben, das ist es. Dann sind sie auch da."), taucht der Vater ebenfalls in eigene Sehnsüchte ab. Und der Junge, der mit den verhalten unglücklichen Eltern lebt, ahnt, dass der Vater "hoffnungslos weit von seinem Traum entfernt ist". Das alles bleibt zart wie fallende kristalline Flocken, die leicht sind und doch in ihrer Fülle alles überdecken und erdrücken können. Nun strauchelt das Pferd und schlägt mit einem Hufeisen gegen das andere Bein. Das matschige Schneewasser verschmutzt die Wunde. Der Vater möchte sie mit "der salzigen Männerpisse" reinigen. Doch er kann nicht urinieren. Er befiehlt dem Sohn, es zu tun. Befiehlt. Und je schroffer er befiehlt, umso sicherer versagt auch der Junge. Und das Pferd, das dem Menschen ganz vertraut, leidet hilflos weiter. Abstrakter der Text "Durch die Moore und durch die Welt"; er lebt zunehmend von der magischen Korrespondenz der Außenwelt mit dem psychischen Empfinden. Ein Ich läuft übers Moor, spürt den "Eisgeschmack in der Luft", geht voran, als "hättest du schwarze Erde und vereiste Schneeflocken in dir drinnen. Darum bist du draußen und wanderst." Das Ich ist "genauso nackt wie das Moor". Und wie das Moor mit seinen Tiertritten, in denen sich das Wasser sammelt mit seinen "trüben Augen", spiegelt es die Welt. Auf einmal landen Kraniche und beginnen zu tanzen, sind fern und nähern sich, und das Ich gerät in die Glückserlösung einer Unio mystica mit diesen Vögeln. Doch die Verzauberung kippt, als es nach dem Bein eines Vogels greift, der ihm dann seinen Schnabel durchs Gesicht zieht. In "Der Treibende und die Spiegel" lässt sich ein Mann von der Klippe hinunter in die spiegelnden Wasser locken: "Komm, sagt es, und das ist das schönste Wort, das man hören kann." Und er ertrinkt auf faszinierend quälenden 17 Seiten, um im letzten Augenblick von einem Hund und einem Mann, der ihn vorsichtig ins Boot hebt, doch gerettet zu werden. "Der vergeudete Tag" inszeniert schließlich ein reines Seelendrama. Psychische Muster, Angst, Scham erscheinen losgelöst von konkreten Menschen. Da sind Stühle, da sind Schädel, da ist ein Keller mit Ratten, da ist ein Meer. Der vergeudete Tag ist ein Schamtag, weil die Schädel Unglück und Leid nicht verhindert haben. Sondern nur nickend dasaßen. Als starkes Realitätspartikel kommt die "Fleischerei Sirius" vor. Der Name (auch "Sirius", Hundsstern) erscheint, um verneint zu werden, und der Text kippt in die Beschwörung eines Gedichts: "Fleischerei Sirius / was ist das? / So etwas hat es / nie gegeben. / Fleischerei Sirius - / wer ist da verrückt / Ich sage, es gibt keinen Hund." Am Morgen kommen "blasse Frauen" und waschen die Stühle "rein wie Gold". Und das Abnicken geht weiter.
Der Erzählungsband "Der wilde Reiter" enthält klassische, oft spannungsgeladene Texte, deren psychologische Einfühlung an die Schmerzgrenze geht. Die Titelgeschichte zeigt ein Ehepaar auf dem Land, das plötzlich ("feuerzungenrasch") erkennt, dass ihr einziges Kind, Sohn Svein, krank ist. Man muss mit ihm in die Stadt. Bei "Stadt" denkt der Junge an das "Autoparadies" des Spielwarenladens und freut sich unbändig auf die Reise. Die Mutter bereitet den Frühstückstisch mit allem, was sie hat; sie befürchtet, ihr Kind nicht mehr wiederzusehen. Und der Junge ist zu aufgeregt, um zu essen. Die wissende Angst der Mutter, die hilflose Not des Vaters in der Fremde des Krankenhauses, die heiße Enttäuschung des Kindes, alles wird sinnlich nah und mit einer ungeheuren Empathie erzählt. Glücksmomente sind bei Vesaas oft an körperliche Arbeit gebunden (Holzrücken, Rudern, das Gersteschneiden von Hand). In "21 Jahre" fasst der scheue Bauernsohn am Tag seiner Volljährigkeit den Mut, sich mit der schönen Erntehelferin Hild zu verabreden. Sein älterer Bruder hatte offensiv um sie geworben. Aber Hild sagt Ja zu ihm, dem Scheuen. Dann war sie "schwer und weich und vor Zutrauen blind". Auch in den erfülltesten Momenten ist der Goldgrund all dieser Geschichten der Tod. Und die Evokationen der ländlichen Arbeit, der nordischen Wälder und Gewässer in Schnee und Hitze, der Tiere, des wechselnden Lichts, der Angst anerkennen den Tod, gerade indem sie ihm ein gesteigertes Leben entgegensetzen. Es ist die Sprache, in der Glaube, Liebe und Hoffnung zusammenkommen: "in den Heuschuppen oben war es, als hätte sich der Sommer dorthin verkrochen und würde heimliche Namen aufsagen". Und auch Mattis, ein beiläufiges Alter Ego des Autors, hat in "Der Dussel" einen Auftritt und bringt die Wörter "Handelsware" (für das zu Klaftern geschlagene Holz) und "Gottes Atem" (wenn die Laubkrone der Birke herunterbricht) zusammen. Und alle seine Gedanken "rundeten sich".
Vesaas hat erst spät begonnen, Gedichte zu schreiben. Es sind Meditationen, Mikrokosmen seiner Prosa, die der Lyrik immer nah ist. Wunderbare Liebesgedichte sind dabei. Das Ich, das hier spricht, weiß sich ausgesetzt ("Niemand kennt die Tiefen / im See namens Angst") und doch eingebettet in einem Einverständnis mit den Dingen, in ein umfassenderes Sein: "und die Bäume am Ufer sind keine Bäume, / sondern du und ich ganz still, / und das Ufer ist kein Ufer, / keine Grenze mehr." ANGELIKA OVERATH
Tarjei Vesaas:
"Boot am Abend;
Nimm meine Hand; Der Wilde Reiter". Prosa. Gedichte. Erzählungen.
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit Bildern
von Olav Christopher Jenssen. Kleinheinrich-
Verlag, Münster 2022.
3 Bd. in Kassette, 214 S., 136 S. und 190 S., geb., zus. 90,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Feuerzungenrasch: Eine bibliophile Kassette mit Prosa und Lyrik des eigenwilligen und zeitenthobenen Norwegers Tarjej Vesaas
Der Schriftsteller Tarjei Vesaas, geboren 1897 im südnorwegischen Vinje (etwa dreitausend Einwohner, Bevölkerungsdichte: ein bis zwei Einwohner pro Quadratkilometer), gestorben 1970 in Oslo, wurde mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen. Im Guggolz Verlag erschien 2019 der von den wenigen Rezensenten, die ihn beachteten, hochgelobte Roman "Das Eis-Schloss" (1963). Er erzählt von der schmerzhaften Freundschaft zweier Mädchen an der Schwelle zur Pubertät. Ein Jahr später brachte Guggolz "Die Vögel" (1957) heraus. Es ist die Geschichte von Mattis, dem 37 Jahre alten Helden, der geistig und seelisch ein Kind geblieben ist und an der Seite seiner Schwester Hede ein halbwegs geschütztes Leben führt. Bis er den Holzfäller nach Hause bringt. Dieser Mattis, so Tarjei Vesaas, sei eine Künstlerfigur. "Die Vögel" wurden in den deutschsprachigen Feuilletons gefeiert. Die Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel war für den Leipziger Buchpreis nominiert. Dann wurde es wieder ruhig um den eigenwilligen und zeitenthobenen Autor Vesaas.
Der Skandinavist Josef Kleinheinrich (der auch Inger Christensen und Tomas Tranströmer in seinem singulären Kunstbuchverlag herausbringt) hat nun eine bibliophile Kassette mit drei Büchern realisiert, die einen Einblick geben in Vesaas' Kosmos: Neben dem autobiographisch geprägten Alterswerk in Kurzprosa "Boot am Abend" (1968) enthält die Kassette Gedichte, "Nimm meine Hand", und Erzählungen, "Der wilde Reiter". Beide Bände wurden von Jan Fosse zusammengestellt. Übersetzt hat wiederum Schmidt-Henkel. Lektorat und Satz besorgte der frühere Verleger von Vesaas, Sebastian Guggolz. Der norwegische Maler Olav Christopher Jenssen gestaltete die wie aus Plakaten gefalteten Umschläge der Leinenbände und verband die drei Bücher mit aufeinander bezogenen Bilderserien in verschiedenen Techniken, abstrakte, mit dem Spachtel aufgetragene und geritzte Farblandschaften, gemalte Ölbild-Gesichter, die an Kinderarbeiten erinnern, Farbstiftpassagen wie Stickmuster-Vorlagen, in Brauntönen Pergamentenes, Collagiertes, Echos aus den Höhlen vergangener Kulturen. Diese Bilder sind erfüllte Pausen, Inseln des ausruhenden Schauens zwischen Vesaas' dichten Zeilen.
"Boot am Abend" erschien zwei Jahre vor Vesaas' Tod. Der Autor lebte bis fast zuletzt zurückgezogen mit seiner Frau, der Lyrikerin und Kinder- und Jugendbuchautorin Halldis Moren (1907 bis 1995) in seiner Heimatgemeinde Vinje auf Hof Midtbø. Es ist sein leises, radikales Vermächtnis. "Wie es in der Erinnerung steht" intoniert noch eine nacherzählbare Geschichte, doch im Verlauf umspielen die Texte immer mehr innere Zustände, die der äußeren Realia nur noch als Anstöße bedürfen. Zunächst also das Kinderbild: Im abgelegenen Wald soll das Pferd den verschneiten Wirtschaftsweg bahnen und dann die gefällten Holzstämme aus dem Wald ziehen. Vater und Sohn gehen mit Schaufeln hinter dem Pferd her, machen den Weg frei. Eine anstrengende und immer auch vergebliche Arbeit. Denn es schneit wieder. Während sich der Junge in eine Gegenwelt von freundlichen Tieren, die ihn begleiten, hineinimaginiert ("Er will sie dahaben, das ist es. Dann sind sie auch da."), taucht der Vater ebenfalls in eigene Sehnsüchte ab. Und der Junge, der mit den verhalten unglücklichen Eltern lebt, ahnt, dass der Vater "hoffnungslos weit von seinem Traum entfernt ist". Das alles bleibt zart wie fallende kristalline Flocken, die leicht sind und doch in ihrer Fülle alles überdecken und erdrücken können. Nun strauchelt das Pferd und schlägt mit einem Hufeisen gegen das andere Bein. Das matschige Schneewasser verschmutzt die Wunde. Der Vater möchte sie mit "der salzigen Männerpisse" reinigen. Doch er kann nicht urinieren. Er befiehlt dem Sohn, es zu tun. Befiehlt. Und je schroffer er befiehlt, umso sicherer versagt auch der Junge. Und das Pferd, das dem Menschen ganz vertraut, leidet hilflos weiter. Abstrakter der Text "Durch die Moore und durch die Welt"; er lebt zunehmend von der magischen Korrespondenz der Außenwelt mit dem psychischen Empfinden. Ein Ich läuft übers Moor, spürt den "Eisgeschmack in der Luft", geht voran, als "hättest du schwarze Erde und vereiste Schneeflocken in dir drinnen. Darum bist du draußen und wanderst." Das Ich ist "genauso nackt wie das Moor". Und wie das Moor mit seinen Tiertritten, in denen sich das Wasser sammelt mit seinen "trüben Augen", spiegelt es die Welt. Auf einmal landen Kraniche und beginnen zu tanzen, sind fern und nähern sich, und das Ich gerät in die Glückserlösung einer Unio mystica mit diesen Vögeln. Doch die Verzauberung kippt, als es nach dem Bein eines Vogels greift, der ihm dann seinen Schnabel durchs Gesicht zieht. In "Der Treibende und die Spiegel" lässt sich ein Mann von der Klippe hinunter in die spiegelnden Wasser locken: "Komm, sagt es, und das ist das schönste Wort, das man hören kann." Und er ertrinkt auf faszinierend quälenden 17 Seiten, um im letzten Augenblick von einem Hund und einem Mann, der ihn vorsichtig ins Boot hebt, doch gerettet zu werden. "Der vergeudete Tag" inszeniert schließlich ein reines Seelendrama. Psychische Muster, Angst, Scham erscheinen losgelöst von konkreten Menschen. Da sind Stühle, da sind Schädel, da ist ein Keller mit Ratten, da ist ein Meer. Der vergeudete Tag ist ein Schamtag, weil die Schädel Unglück und Leid nicht verhindert haben. Sondern nur nickend dasaßen. Als starkes Realitätspartikel kommt die "Fleischerei Sirius" vor. Der Name (auch "Sirius", Hundsstern) erscheint, um verneint zu werden, und der Text kippt in die Beschwörung eines Gedichts: "Fleischerei Sirius / was ist das? / So etwas hat es / nie gegeben. / Fleischerei Sirius - / wer ist da verrückt / Ich sage, es gibt keinen Hund." Am Morgen kommen "blasse Frauen" und waschen die Stühle "rein wie Gold". Und das Abnicken geht weiter.
Der Erzählungsband "Der wilde Reiter" enthält klassische, oft spannungsgeladene Texte, deren psychologische Einfühlung an die Schmerzgrenze geht. Die Titelgeschichte zeigt ein Ehepaar auf dem Land, das plötzlich ("feuerzungenrasch") erkennt, dass ihr einziges Kind, Sohn Svein, krank ist. Man muss mit ihm in die Stadt. Bei "Stadt" denkt der Junge an das "Autoparadies" des Spielwarenladens und freut sich unbändig auf die Reise. Die Mutter bereitet den Frühstückstisch mit allem, was sie hat; sie befürchtet, ihr Kind nicht mehr wiederzusehen. Und der Junge ist zu aufgeregt, um zu essen. Die wissende Angst der Mutter, die hilflose Not des Vaters in der Fremde des Krankenhauses, die heiße Enttäuschung des Kindes, alles wird sinnlich nah und mit einer ungeheuren Empathie erzählt. Glücksmomente sind bei Vesaas oft an körperliche Arbeit gebunden (Holzrücken, Rudern, das Gersteschneiden von Hand). In "21 Jahre" fasst der scheue Bauernsohn am Tag seiner Volljährigkeit den Mut, sich mit der schönen Erntehelferin Hild zu verabreden. Sein älterer Bruder hatte offensiv um sie geworben. Aber Hild sagt Ja zu ihm, dem Scheuen. Dann war sie "schwer und weich und vor Zutrauen blind". Auch in den erfülltesten Momenten ist der Goldgrund all dieser Geschichten der Tod. Und die Evokationen der ländlichen Arbeit, der nordischen Wälder und Gewässer in Schnee und Hitze, der Tiere, des wechselnden Lichts, der Angst anerkennen den Tod, gerade indem sie ihm ein gesteigertes Leben entgegensetzen. Es ist die Sprache, in der Glaube, Liebe und Hoffnung zusammenkommen: "in den Heuschuppen oben war es, als hätte sich der Sommer dorthin verkrochen und würde heimliche Namen aufsagen". Und auch Mattis, ein beiläufiges Alter Ego des Autors, hat in "Der Dussel" einen Auftritt und bringt die Wörter "Handelsware" (für das zu Klaftern geschlagene Holz) und "Gottes Atem" (wenn die Laubkrone der Birke herunterbricht) zusammen. Und alle seine Gedanken "rundeten sich".
Vesaas hat erst spät begonnen, Gedichte zu schreiben. Es sind Meditationen, Mikrokosmen seiner Prosa, die der Lyrik immer nah ist. Wunderbare Liebesgedichte sind dabei. Das Ich, das hier spricht, weiß sich ausgesetzt ("Niemand kennt die Tiefen / im See namens Angst") und doch eingebettet in einem Einverständnis mit den Dingen, in ein umfassenderes Sein: "und die Bäume am Ufer sind keine Bäume, / sondern du und ich ganz still, / und das Ufer ist kein Ufer, / keine Grenze mehr." ANGELIKA OVERATH
Tarjei Vesaas:
"Boot am Abend;
Nimm meine Hand; Der Wilde Reiter". Prosa. Gedichte. Erzählungen.
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit Bildern
von Olav Christopher Jenssen. Kleinheinrich-
Verlag, Münster 2022.
3 Bd. in Kassette, 214 S., 136 S. und 190 S., geb., zus. 90,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Angelika Overath entdeckt mit Freude die Texte des norwegischen Autors Tarjei Vesaas wieder, die nun in drei Bänden erschienen sind. Die vom norwegischen Künstler Olav Christopher Jenssen kunstvoll gestaltete Kassette enthält "Boot am Abend", das autobiografische Spätwerk des Autors in kurzer Prosa, sowie Gedichte und Erzählungen, informiert die Rezensentin. Thematisch drehen sich Vesaas Texte um das Aufwachsen und Leben in der abgelegenen nordischen Natur, so Overath: ein Kindheitserlebnis mit dem Vater im verschneiten Wald, ländliche Arbeit, die erste große Liebe eines Bauernsohnes. Teilweise verlassen die Texte den linearen Handlungsstrang und umkreisen die inneren Zustände ihrer Figuren. Das alles wird mit viel Sinnlichkeit und Empathie erzählt, schwärmt die Rezensentin. Die in unterschiedlichen Techniken angefertigten Bilder von Jenssen stellen dabei "Inseln des ausruhenden Schauens" zwischen den Texten dar.
© Perlentaucher Medien GmbH
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