Schon seit Jahren zieht es die Schriftstellerin Mara auf die kleine kroatische Insel, deren Geruch nach Sonne, Meer, Salz und Rosmarin sie ebenso liebt wie das launische Wechselspiel der Winde. Doch dieser Sommer ist anders: Stürmischer als sonst weht die Bora, und auch Maras Leben ist aus dem Gleichgewicht geraten. Eines Morgens kommt Andrej auf die Insel, ein Fotograf ohne festen Wohnsitz, der rastlos durch die Welt reist. Seine Eltern sind wie so viele Bewohner der Insel in den 60er-Jahren vor dem Tito-Regime geflüchtet und nach Hoboken, New Jersey, ausgewandert. Mara und Andrej beginnen, sich zu umkreisen, kommen sich näher, doch als Mara immer tiefer in die Geschichte von Andrejs Familie vordringt, die von Entwurzelung und der Sehnsucht nach dem Ankommen erzählt, müssen beide eine Entscheidung treffen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2015Jeder ist seine eigene Insel
Ruth Cerha weiß in "Bora", woher der Wind weht
Von jeher wurden Inseln heilsame Kräfte zugeschrieben, weil sie zur Begrenzung und Besinnung verhelfen. So will auch die Wiener Schriftstellerin Mara den Sommer auf einem kroatischen Eiland verbringen, um eine wieder einmal gescheiterte Beziehung und eventuell auch ihre brachliegende Inspiration zu überwinden. Ihre Ich-Erzählung lässt zunächst kein Klischee aus. Morgens am Hafen frischen Fisch kaufen, ihn mit gehackten Kräutern zubereiten, Wein trinken, schwimmen gehen, Spaziergänge zu den weißen Felsen, ein Kaffee und ein Schwätzchen mit den Einheimischen über die Bora, den böigen Fallwind aus den Bergen, der "die Boote über das Meer treibt wie Nussschalen, am Hemd zerrt und die Leute verrückt macht".
Wie unvermeidlich erscheint, während sie weht, ein fremder Mann, doch kommt er mit dem Boot, das gewöhnlich nur die Einheimischen benutzen. Sein Anblick verwirrt die Schriftstellerin derart, dass sie zu ziemlich aparten Metaphern greift. Sie riecht "Unheil, angerichtet durch die Geschwätzigkeit von Nasen und Augen und Mündern und womöglich noch ganz anderen Körperteilen". Soll heißen, sie verliebt sich gegen ihre ungute Vorahnung auf der Stelle, doch bald scheint alles wie handwerklich zu passen: "Andrej wuchs in mein Inselleben hinein wie eine Schraube, die sich in ein Gewinde dreht." Später kommt noch Elektrotechnik hinzu, die Liebe erscheint als Glühbirne, deren "Leuchtfaden" beiderseits mit Strom versorgt wird. Wenn Mara aber zweifelt, kommt die weniger geschraubte ältere Metaphorik des Windes als Atem der Natur und Schicksal ins Spiel. Die Bora erhebt sich wie bestellt und weht alle Schwere fort.
Durch Andrej verwandelt sich das Bild der Insel. Es stellt sich heraus, dass er Kind einer Familie ist, die wie viele andere während der Tito-Zeit nach Hoboken, New Jersey ausgewandert ist. Maras Bemühen, das Seltsame an dem Geliebten zu verstehen, setzt sie nun auch als Schriftstellerin auf die Spur einer Migrationsbewegung, die über den Jugoslawien-Krieg und die aktuelle Flüchtlingsproblematik weitgehend in den Hintergrund gerückt worden ist. Nicht so bei den verbliebenen Inselbewohnern, sie sind stolz auf ihre Auswanderer, jährlich im Sommer wird der Emigrant's Day als Fest begangen.
Im Mittelteil des Romans wird das Geschehen aus Andrejs Perspektive geschildert. Dabei kommt die Widersprüchlichkeit zur Sprache, in der sich die zweite Generation der Auswanderer befindet. Andrej ist gebürtiger Amerikaner und als Fotograf weltläufig, beim Besuch in Kroatien aber taucht er ein "in die dichte, dampfende Atmosphäre von Familie, Essen, Wein, Vergessen", und doch bleibt eine Fremdheit. Heimat ist für ihn nur ein Wunschtraum seiner Eltern. Maras wegen bleibt er länger auf der Insel als gewöhnlich, doch denkt er immer an einen Wind, der ihn fortreißen wird, "egal wohin".
Auf der Insel verbringt auch der Bildhauer Harry den Sommer. Er arbeitet an der Skulptur eines Pärchens, das sich entscheiden soll und es nicht kann. Bei Mara und Andrej gibt es bald nichts mehr zu entscheiden. Je näher sie sich kommen, desto deutlicher wird, dass sie auf verschiedene Weise schon über ihre Beziehung hinaus sind. Sie teilen Vorlieben in der Popmusik, und doch sind die Tonspuren ihres Lebens zu verschieden. Einmal scheinen sie dennoch an Bindung zu denken und fragen sich gegenseitig, ob sie sich Kinder wünschen. Mara weicht aus und schiebt ihren eventuellen Kinderwunsch auf den herannahenden vierzigsten Geburtstag, also auf den Ruf der Natur, die angeblich niemals betrügt, wie Andrej, Rousseau zitierend, behauptet. Der unstete Weltenbummler, der bald nach Bosnien reisen wird, um die Proteste gegen die Regierung in Tuzla mit der Kamera zu beobachten, aber begründet seine Ablehnung nach längerem Schweigen mit einem Satz wie von seiner Mutter Ana: "Kinder brauchen ein Zuhause."
Nach Andrejs Abreise überträgt die unvermindert metaphernfreudige Mara ihre Gefühle auf die Insel: "Ich sank in sie hinein wie in den Körper eines Geliebten, den man jeden Tag ein wenig mehr erforscht, auch wenn man ihn schon sehr gut kennt." Nach alldem, was sie erfahren hat, kann sie nun verstehen, dass die Insel für die älteren Ausgewanderten zum Symbol geworden ist "für alles, was sie in diesem Leben vermissten". Ein Grund mehr, deren Geschichte zu überliefern. Obwohl Andrej und seine Mutter sie ermutigt haben, befallen Mara aber gelegentlich Skrupel, ob sie sich denn für einen Roman aneignen darf, was sie im persönlichen Gespräch von ihnen erfahren hat. Doch hofft sie, dass ihre Geschichte auf etwas verweisen wird, das größer ist als ihr persönlicher Bezug.
Maras Geschichte ist natürlich die, welche der Leser gerade liest. Der dritte Roman der 1963 in Wien geborenen Ruth Cerha ist trotz der historischen Problematik vor allem eine bewegende Liebesgeschichte. Sie lässt sich gut und leicht am Strand lesen, erinnert aber sehr ernsthaft daran, dass so eine Insel mehr ist als ein Urlaubsgelände.
FRIEDMAR APEL
Ruth Cerha: "Bora". Eine Geschichte vom Wind. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2015. 254 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ruth Cerha weiß in "Bora", woher der Wind weht
Von jeher wurden Inseln heilsame Kräfte zugeschrieben, weil sie zur Begrenzung und Besinnung verhelfen. So will auch die Wiener Schriftstellerin Mara den Sommer auf einem kroatischen Eiland verbringen, um eine wieder einmal gescheiterte Beziehung und eventuell auch ihre brachliegende Inspiration zu überwinden. Ihre Ich-Erzählung lässt zunächst kein Klischee aus. Morgens am Hafen frischen Fisch kaufen, ihn mit gehackten Kräutern zubereiten, Wein trinken, schwimmen gehen, Spaziergänge zu den weißen Felsen, ein Kaffee und ein Schwätzchen mit den Einheimischen über die Bora, den böigen Fallwind aus den Bergen, der "die Boote über das Meer treibt wie Nussschalen, am Hemd zerrt und die Leute verrückt macht".
Wie unvermeidlich erscheint, während sie weht, ein fremder Mann, doch kommt er mit dem Boot, das gewöhnlich nur die Einheimischen benutzen. Sein Anblick verwirrt die Schriftstellerin derart, dass sie zu ziemlich aparten Metaphern greift. Sie riecht "Unheil, angerichtet durch die Geschwätzigkeit von Nasen und Augen und Mündern und womöglich noch ganz anderen Körperteilen". Soll heißen, sie verliebt sich gegen ihre ungute Vorahnung auf der Stelle, doch bald scheint alles wie handwerklich zu passen: "Andrej wuchs in mein Inselleben hinein wie eine Schraube, die sich in ein Gewinde dreht." Später kommt noch Elektrotechnik hinzu, die Liebe erscheint als Glühbirne, deren "Leuchtfaden" beiderseits mit Strom versorgt wird. Wenn Mara aber zweifelt, kommt die weniger geschraubte ältere Metaphorik des Windes als Atem der Natur und Schicksal ins Spiel. Die Bora erhebt sich wie bestellt und weht alle Schwere fort.
Durch Andrej verwandelt sich das Bild der Insel. Es stellt sich heraus, dass er Kind einer Familie ist, die wie viele andere während der Tito-Zeit nach Hoboken, New Jersey ausgewandert ist. Maras Bemühen, das Seltsame an dem Geliebten zu verstehen, setzt sie nun auch als Schriftstellerin auf die Spur einer Migrationsbewegung, die über den Jugoslawien-Krieg und die aktuelle Flüchtlingsproblematik weitgehend in den Hintergrund gerückt worden ist. Nicht so bei den verbliebenen Inselbewohnern, sie sind stolz auf ihre Auswanderer, jährlich im Sommer wird der Emigrant's Day als Fest begangen.
Im Mittelteil des Romans wird das Geschehen aus Andrejs Perspektive geschildert. Dabei kommt die Widersprüchlichkeit zur Sprache, in der sich die zweite Generation der Auswanderer befindet. Andrej ist gebürtiger Amerikaner und als Fotograf weltläufig, beim Besuch in Kroatien aber taucht er ein "in die dichte, dampfende Atmosphäre von Familie, Essen, Wein, Vergessen", und doch bleibt eine Fremdheit. Heimat ist für ihn nur ein Wunschtraum seiner Eltern. Maras wegen bleibt er länger auf der Insel als gewöhnlich, doch denkt er immer an einen Wind, der ihn fortreißen wird, "egal wohin".
Auf der Insel verbringt auch der Bildhauer Harry den Sommer. Er arbeitet an der Skulptur eines Pärchens, das sich entscheiden soll und es nicht kann. Bei Mara und Andrej gibt es bald nichts mehr zu entscheiden. Je näher sie sich kommen, desto deutlicher wird, dass sie auf verschiedene Weise schon über ihre Beziehung hinaus sind. Sie teilen Vorlieben in der Popmusik, und doch sind die Tonspuren ihres Lebens zu verschieden. Einmal scheinen sie dennoch an Bindung zu denken und fragen sich gegenseitig, ob sie sich Kinder wünschen. Mara weicht aus und schiebt ihren eventuellen Kinderwunsch auf den herannahenden vierzigsten Geburtstag, also auf den Ruf der Natur, die angeblich niemals betrügt, wie Andrej, Rousseau zitierend, behauptet. Der unstete Weltenbummler, der bald nach Bosnien reisen wird, um die Proteste gegen die Regierung in Tuzla mit der Kamera zu beobachten, aber begründet seine Ablehnung nach längerem Schweigen mit einem Satz wie von seiner Mutter Ana: "Kinder brauchen ein Zuhause."
Nach Andrejs Abreise überträgt die unvermindert metaphernfreudige Mara ihre Gefühle auf die Insel: "Ich sank in sie hinein wie in den Körper eines Geliebten, den man jeden Tag ein wenig mehr erforscht, auch wenn man ihn schon sehr gut kennt." Nach alldem, was sie erfahren hat, kann sie nun verstehen, dass die Insel für die älteren Ausgewanderten zum Symbol geworden ist "für alles, was sie in diesem Leben vermissten". Ein Grund mehr, deren Geschichte zu überliefern. Obwohl Andrej und seine Mutter sie ermutigt haben, befallen Mara aber gelegentlich Skrupel, ob sie sich denn für einen Roman aneignen darf, was sie im persönlichen Gespräch von ihnen erfahren hat. Doch hofft sie, dass ihre Geschichte auf etwas verweisen wird, das größer ist als ihr persönlicher Bezug.
Maras Geschichte ist natürlich die, welche der Leser gerade liest. Der dritte Roman der 1963 in Wien geborenen Ruth Cerha ist trotz der historischen Problematik vor allem eine bewegende Liebesgeschichte. Sie lässt sich gut und leicht am Strand lesen, erinnert aber sehr ernsthaft daran, dass so eine Insel mehr ist als ein Urlaubsgelände.
FRIEDMAR APEL
Ruth Cerha: "Bora". Eine Geschichte vom Wind. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2015. 254 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main