Selten zuvor hat ein Bühnenkünstler seine eigene Geschichte mit solch einer Kraft und solch einem lodernden Feuer niedergeschrieben. Wie viele seiner Songs ("Thunder Road", "Badlands", "Darkness on the Edge of Town", "The River", "Born in the U.S.A.", "The Rising" oder "The Ghost of Tom Joad", um ein paar wenige zu erwähnen) ist Bruce Springsteens Autobiografie geprägt von der Lyrik eines einzigartigen Songwriters und der Weisheit eines Mannes, der ausgiebig über sein Leben nachgedacht hat.
Born to Run, Bruce Springsteen
Die Musiker-Autobiografie des Jahres
Bruce Springsteen, der in Kürze 67 Jahre alt wird, schreibt bereits seit sieben Jahren an seiner Autobiographie. 2009 nach dem Auftritt mit der E Street Band beim Super Bowl hat Bruce Springsteen damit begonnen seine Memoiren aufzuschreiben.
In Born to Run beschreibt Springsteen sein Aufwachsen in Freehold, New Jersey, inmitten der „Poesie, Angst und Dunkelheit“, die seine Fantasie zuließ. Er erinnert sich lebendig an sein Heranwachsen als Musiker, seine frühen Tage als Barmusiker Asbury Park und den Aufstieg der E Street Band. Mit entwaffnender Offenheit erzählt er von seinen persönlichen Kämpfen, die ihn zu seinem besten Werk inspiriert haben, und warum der Song Born to Run mehr enthüllt, als wir bisher angenommen haben.
Man merkt, dass Bruce Springsteen Freude daran hat über sich selbst zu schreiben. Eine Autobiographie heißt für den Musiker den Leser in seine Gedanken blicken zu lassen und genau das versucht er auf den 672 Seiten zu verwirklichen.
Bruce Springsteens Vorwort zu Born to Run
Ich komme aus einem Küstenstädtchen, in dem fast alles einen leichten Anstrich von Lug und Trug hat. Genau wie ich. Mit zwanzig war ich kein Rebell mit Rennwagen, sondern spielte auf den Straßen von Asbury Park Gitarre und war bereits ein durchaus anerkanntes Mitglied derer, die um der Wahrheit willen »lügen« … ein Musiker, Künstler mit kleinem k. Aber auf der Hand hatte ich vier klare Asse: meine Jugend, fast ein Jahrzehnt knochenharter Bar-Band-Erfahrung, eine Handvoll einheimischer Musiker, die auf mich eingespielt waren – und ich hatte eine Geschichte zu erzählen.
Dieses Buch ist eine Fortsetzung dieser Geschichte und zugleich die Suche nach ihren Ursprüngen. Den Rahmen bilden die Ereignisse in meinem Leben, von denen ich glaube, dass sie die Geschichte und meine Arbeit auf der Bühne geprägt haben.
Immer wieder werde ich von Fans gefragt: »Wie schaffst du das nur?« Auf den folgenden Seiten möchte ich versuchen, einen kleinen Einblick in das Wie, aber auch in das viel wichtigere Warum zu geben.
Rock’n’Roll-Rüstzeug
Veranlagung, Talent, Handwerkszeug, die Entwicklung einer Ästhetik, der man sich voll und ganz verschreiben kann, die reine Gier nach … Ruhm? Liebe? Bewunderung? Aufmerksamkeit? Frauen? Sex? Und, o ja … nach Kohle. Und dann natürlich … wenn du wirklich voll durchziehen willst, und zwar bis zum Anschlag … ein loderndes Feuer in dir, das einfach … das nicht mehr … ausgehen … darf.
Dies sind ein paar der Eigenschaften, die sich als nützlich erweisen, wenn du vor achtzigtausend (oder auch nur achtzig) kreischenden Rock’n’Roll-Fans stehst, die darauf warten, dass du den Zauberstab schwingst und eine tolle Show ablieferst. Dass du was aus deinem Zylinder ziehst, aus dem Nichts hervorzauberst, ihnen Sachen zeigst, die nicht von dieser Welt sind, irgendwas, was bis heute nur ein aus Songs gespeistes Gerücht gewesen ist, ehe die Gemeinde sich um dich versammelt hat.
Meine Aufgabe ist es zu beweisen, dass dieses ewig flüchtige, nie uneingeschränkt glaubhafte Wir lebendig ist. Das ist mein Zaubertrick. Und wie bei allen guten Zaubertricks muss erst mal das Set-up stimmen. Also los …
“The Boss“ erzählt sein Leben
Seit 1973 ist Bruce Springsteen, genannt „The Boss“ im Musikgeschäft. Sein Album Born to Run erschien im August 1975 und feiert dieses Jahr 41. Geburtstag. Passend dazu erscheint nun die Autobiographie von Bruce Springsteen mit dem gleichnamigen Titel Born to Run.
Bestens geeignet zum Selbstlesen oder zum Verschenken an Weihnachten: Born to Run von Bruce Springsteen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Um Bruce Springsteens Autobiografie "Born to Run" gebührend zu würdigen, druckt die SZ die erste Seite des Feuilletons Artikel von Richard Ford aus der New York Times. Ford ist ein großer Springsteen-Fan und deswegen in aller Ausführlichkeit, aber auch recht umständlich darum bemüht, die Einzigartigkeit des Bosses in Worte zu fassen. Verstehen kann man das - zumal in der hastigen Übersetzung nur bedingt. Klar macht Ford jedoch so viel: In "Born to Run" steht kaum etwas Neues, aber das in "guter solider Prosa": Springsteen erzählt von seinem brodelnden Elternhaus mit einem irischen Säufer als Vater und einer italienischen Mutter, von den harten Verhältnissen in New Jersey und vom Ehrgeiz, da herauszukommen und zwar groß. Geradezu grotesk findet Ford das Selbstbewusstsein dieses Musikers, der allerdings für mindestens zwei Generationen die Hintergrundmusik ihres Lebens geschrieben hat, ohne Noten lesen zu können. Ford liest Springsteens Buch wie einen "Liebesbrief an seine Heerscharen". Legt die CD ein und erkennt die Kunst im Krach.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2016Der Motor, der Treibstoff und der Horror
Der große amerikanische Rockmusiker Bruce Springsteen schreibt ein Buch über sein Leben - und seinen Vater
Bruce Springsteen hat in seiner fast fünfzigjährigen Karriere immer und immer und immer wieder Autobiographien geschrieben, aber jetzt zum ersten Mal in Form eines Buchs. Die anderen Autobiographien - "Bobby Jean", "Growin' up", "10th Avenue Freeze-Out", "Thunder Road" - waren Rocksongs, kaum mehr als drei, vier Minuten lang, die aber jedes Mal alles enthielten, was Springsteen ausmacht: Woher er kam, wohin er wollte, wer seine Freunde sind, was ihn antreibt und umtreibt und was er liebt und hasst. Wer diese Songs mitsingen kann, automatisch die Arme in die Luft schmeißt, sobald eine Zeile wie "I Stood Stone-like at Midnight" ertönt oder in Tränen ausbricht, sobald "My Hometown" vorbei ist, der wird im fast siebenhundertseitigen "Born to Run", das in dieser Woche erschienen ist, jede Menge Motive wiedererkennen.
Dieses Buch fügt nämlich vieles zusammen, was einem vertraut ist, wenn einem dieser Springsteen vertraut ist. Und es bestärkt, im neuen, nicht elektrisch verstärkten Format, was man immer schon von ihm wusste: dass Bruce Springsteen ein Entertainer ist. Dass er Humor hat. Dass er Cars und Girls liebt und Amerika und dessen Mythen. Und vor allem, dass er schreiben kann. Denn das muss man, um Zeilen wie "The screen door slams / Mary's dress waves" schreiben zu können, sieben Worte, mit denen "Thunder Road" von 1975 beginnt - aber mit dem auch jeder große amerikanische Roman beginnen könnte.
Aber "Born to Run" erzählt gleichzeitig vom Katholiken Springsteen. Und wie sehr ihn das prägte, ahnte man nicht. Ein Katholik, der lange keinen Führerschein hatte und erst spät zu fahren lernte, was angesichts der Autoquote in Springsteens Songs wirklich irre ist. Das Buch erzählt, je länger, umso offenherziger von einem Künstler, der nicht zur Ruhe kommt und vor allen Bindungen davonläuft, gleichzeitig aber die Kontrolle über so gut wie alles wahren will. Vom Kind einer Familie, in der die manische Depression steckt "wie Gimmicks in einer Cornflakes-Schachtel".
Bruce Springsteen - hundert Millionen verkaufte Platten, "Oscar"-Preisträger - wurde vor siebenundsechzig Jahren geboren, die Mutter ist italienisch-amerikanisch, der Vater irisch-amerikanisch. Der Junge wächst mit zwei Schwestern in Freehold auf, einer Kleinstadt an der Küste von New Jersey. Die Identität von New Jersey speist sich aus zwei Dingen: einmal, am Ufer gegenüber von New York City zu liegen - und dann daraus, die Heimat von Frank Sinatra und Bruce Springsteen zu sein. Wenn man es in eine Autometapher packen will, wie sie für Springsteens Songs so typisch sind, dann sehen die Leute aus New Jersey immer nur die Rücklichter von etwas Großem, an dem sie immer nah dran bleiben, ohne je aufzuschließen. Das kann eine große Kraft sein.
Aber Bruce Springsteens Kraft ist zunächst einmal die Musik. Er ist genau im richtigen Alter, um von den Beatles und Dylan erwischt zu werden - und von den sozialen und kulturellen Umbrüchen, deren Soundtrack sie schrieben. Alles beginnt aber auch für Springsteen mit Elvis Presley: "Es war ein Mann", schreibt er, "der es nicht nur kommen sah, sondern der selbst war, was kam." Noch so ein Satz, über den manch ein hauptberuflicher Autor echt froh wäre.
"Mit allem, was im Radio und im Land abging", schreibt Springsteen jedenfalls über die fünfziger und sechziger Jahre, "gab es genug wilden Treibstoff, der für einen armen Jungen ein ganzes Leben lang ausreichen würde." Wie wichtig diese frühe Zeit für sein ganzes Leben war, erkennt man auch daran, dass Springsteen weit mehr als die Hälfte seines Buchs auf dieses erste Drittel seiner Karriere verwendet, auf den langen Weg bis zum Debüt, "Greetings from Asbury Park, N. J." von 1973: ein Weg, der über billige Gitarren führt und miese Bands und Auftritte, die noch schlechter bezahlt als besucht waren. Was dann aber folgt, ist keineswegs ein Durchbruch. Denn nach der ersten und der zweiten Platte entscheidet erst die dritte wirklich darüber, dass er es geschafft hat: "Born to Run" von 1975. Es hätte gut sein können, dass man niemals wieder von Bruce Springsteen hört.
Dass man ihm auf dem langen Weg durch die Bars und Clubs von New Jersey und die wechselnden Besetzungen seiner Gruppen folgt, liegt an der Stimme des Erzählers: Springsteen ist ein Entertainer auch hier. Seine Konzerte mit der E Street Band dauern bis heute mehr als drei Stunden, seine Arbeitsmoral ist famos (die anderen in der E Street Band, gesteht er, habe er immer dazu "gezwungen", so lange durchzuhalten). Und so kommt es gar nicht in Frage, hier nur Daten abzuspulen. Er schenkt einem im schönen Wechsel Pathos und Erkenntnis ("Musik aus dem Radio ist wie ein gemeinschaftlicher Fiebertraum, eine kollektive Halluzination, ein mit Millionen geteiltes Geheimnis, ein Flüstern im Ohr eines ganzen Landes") und Humor, dass man laut lachen muss: über den dicklichen Sänger einer seiner Jugendbands, dem schon die Haare ausgehen, weswegen sie nach Konzerten gefragt wurden, warum denn nur ihr Dad mitspiele; oder über die riesige Gibson-Gitarre, die Springsteen erbt und die so seltsam aggressiv klingt, bis ihn jemand für den tollen Trick lobt, Sologitarre auf einem Bass zu spielen.
Selbstironie, Sprachgewalt und das richtige Gespür für Pointen, das ist das eine. Das andere ist, dass sich diese frühen Jahre lesen wie ein großer amerikanischer Roman: die italienische Großmutter, die mehr als achtzig Jahre lang in Amerika lebt, ohne einen Satz Englisch zu sprechen. Die Straße, in die er noch Jahre später zurückkehrte, nachts, rastlos: 68 South Street, Freehold, New Jersey, eine der wichtigsten Adressen der Popgeschichte. Die Rotbuche vorm Haus. Das eisige Kinderzimmer im ersten Stock, das mit der Abwärme aus dem Küchenherd darunter geheizt wird. Die gütige Nonne auf der katholischen Grundschule. Der väterliche Freund, in dessen Surfbrettfabrik Bruce einzieht, auch, weil seine erste richtige Band, Steel Mill, hier probt. Die obdachlosen Nächte am Strand. Die elegante Mutter, die beschließt, den cholerischen, trinkenden, stillen, schwierigen Vater zu lieben, was immer auch geschieht. Der Abend, an dem der neunjährige Bruce den Vater mit einem Baseballschläger zwischen die Schultern haut, damit er aufhört, die Mutter anzuschreien. Und dieser Vater.
Douglas Springsteen ist die andere Hauptfigur des Buchs. Wie entscheidend der lebenslange Konflikt mit dem Vater war, konnte man immer schon auf Springsteen-Platten hören, vor allem auf jenem epochalen Livealbum, das Auftritte zwischen 1975 und 1985 umfasste, Songs, die Springsteen ständig für Anekdoten aus dem Leben mit seinem Dad unterbrach oder sie sogar damit begann: Wie die, als er ausgemustert wird und nicht nach Vietnam muss, weil seine Haare zu lang sind, ebenjene Haare, die den Vater zum Wahnsinn treiben - und der Vater nur "that's good" dazu sagt.
Diese Geschichte erzählt Springsteen jetzt noch einmal - aber er erzählt eben vor allem von seinem Leben in den Spuren des Vaters. Denn fühlte es sich auch noch so an, als würde der rebellische Sohn vor dem trinkenden, herrischen, schweigenden Vater davonlaufen: Er folgte ihm eigentlich immer nur.
Bruce Springsteen hat sein Leben lang immer wieder Songs darüber geschrieben, abzuhauen, vom Traum der Straße, die offen vor einem liegt, der Tank voll, das Mädchen auf dem Beifahrersitz, die Nacht lang: "Born to Run" handelt davon, "Thunder Road", "Rosalita". Seinen ersten Plattenvertrag hat er auf einer Motorhaube unterschrieben. Als Kind gab er bei Gewittern erst Ruhe, wenn seine Eltern ihn ins Auto packten: "Ich würde für den gesamten Rest meines Lebens über Autos schreiben."
Aber noch bevor Bruce selbst ausziehen kann, zieht sein Vater aus - nimmt seine Frau und geht westwärts. Da ist Bruce neunzehn. Der Vater hat ein Haus in Kalifornien, lange bevor der Sohn eines hat, etwas Besseres als den Tod in New Jersey würde er überall finden. Der Sohn verlässt also nicht, er ist ein Verlassener: Die Fuck-off-Emphase einiger seiner besten Texte ("It's a town full of losers and I'm pulling outta here to win") ist also eigentlich herausgebrüllte Trauer.
Als Springsteen dann 1978 sein Kleine-Leute-Meisterwerk "Darkness on the Edge of Town" schreibt, den Nachfolger des sentimental-optimistischen "Born to Run", fährt er nachts die Straßen von Freehold ab, immer wieder am Elternhaus vorbei. "Wer bin ich? Wer sind wir? Was und wo ist unsere Heimat? Was macht Männlichkeit und Erwachsensein aus?", fragt er sich. "Ich wollte wissen, was es hieß, Amerikaner zu sein."
Und noch etwas später, als ihn selbst die Depressionen einholen, die seinen Vater ein Leben lang nicht losgelassen haben, geht er - wie der Vater vor ihm, der zwanghaft auf und davon fuhr - auf Roadtrips: "Das Einzige", schreibt Springsteen, "was mir die Last von den Schultern nehmen konnte, war mit mehr als hundert Meilen die Stunde auf zwei Rädern dahinzudonnern." Geboren, um davonzurennen: kein Triumphalismus, eher eine Diagnose.
Diese Autobiographie - geschrieben mit der Ehrlichkeitswucht eines typischen Springsteen-Songs und gerichtet an "uns", seine Fans, die er braucht wie seine Gitarren den Strom - ändert nicht das Bild, das man vom Künstler Springsteen hat. Sie macht aber diese ungeheuere Anziehungskraft, die von ihm ausgeht, noch viel größer und rätselhafter. Ein Mann stärkster Affekte, manisch-depressiv offenbar, der Millionen aus der Seele singt: phänomenal. Es war aber ja immer schon kompliziert mit Springsteen. Seine Songs sind missverstanden und politisch missbraucht worden, ganze Kapitel handeln jetzt davon: Selten, dass ein Künstler so offen um die Interpretationshoheit über seine eigenen Werke kämpft. Nicht nur um das brüchige, trotzige "Born in the USA" aus dem Reagan-Wahljahr 1984, das von einem Vietnam-Veteranen erzählt, der in seiner Heimat ein zweites Mal verlorengeht. Auch um "American Skin" von 1999, ein Song über schwarze Opfer weißer Polizeigewalt, der aber eben, typisch Springsteen, von starker Ambivalenz lebt; davon, sich nicht auf eine Seite zu schlagen, ohne die andere verstehen zu wollen.
Bruce Springsteen ist ein Boss darin, seine Suche nach Antworten auf letzte Fragen in einer gewaltigen Show zu verstecken. Das verbindet ihn mit Stephen King und Steven Spielberg, die das in ihren Büchern und Filmen genauso gut können. Man fühlt sich phantastisch unterhalten, man staunt über die Tricks und die Eleganz und fragt sich, warum sich in die gute Laune nur immer so eine Spur von Traurigkeit mischt. Woher sie bei Springsteen kommt, verrät dieses Buch.
TOBIAS RÜTHER.
Bruce Springsteen, "Born to Run. Die Autobiografie". Übersetzt von Teja Schwaner, Daniel Müller, Alexander Wagner und Urban Hofstetter. Heyne, 672 Seiten, 27,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der große amerikanische Rockmusiker Bruce Springsteen schreibt ein Buch über sein Leben - und seinen Vater
Bruce Springsteen hat in seiner fast fünfzigjährigen Karriere immer und immer und immer wieder Autobiographien geschrieben, aber jetzt zum ersten Mal in Form eines Buchs. Die anderen Autobiographien - "Bobby Jean", "Growin' up", "10th Avenue Freeze-Out", "Thunder Road" - waren Rocksongs, kaum mehr als drei, vier Minuten lang, die aber jedes Mal alles enthielten, was Springsteen ausmacht: Woher er kam, wohin er wollte, wer seine Freunde sind, was ihn antreibt und umtreibt und was er liebt und hasst. Wer diese Songs mitsingen kann, automatisch die Arme in die Luft schmeißt, sobald eine Zeile wie "I Stood Stone-like at Midnight" ertönt oder in Tränen ausbricht, sobald "My Hometown" vorbei ist, der wird im fast siebenhundertseitigen "Born to Run", das in dieser Woche erschienen ist, jede Menge Motive wiedererkennen.
Dieses Buch fügt nämlich vieles zusammen, was einem vertraut ist, wenn einem dieser Springsteen vertraut ist. Und es bestärkt, im neuen, nicht elektrisch verstärkten Format, was man immer schon von ihm wusste: dass Bruce Springsteen ein Entertainer ist. Dass er Humor hat. Dass er Cars und Girls liebt und Amerika und dessen Mythen. Und vor allem, dass er schreiben kann. Denn das muss man, um Zeilen wie "The screen door slams / Mary's dress waves" schreiben zu können, sieben Worte, mit denen "Thunder Road" von 1975 beginnt - aber mit dem auch jeder große amerikanische Roman beginnen könnte.
Aber "Born to Run" erzählt gleichzeitig vom Katholiken Springsteen. Und wie sehr ihn das prägte, ahnte man nicht. Ein Katholik, der lange keinen Führerschein hatte und erst spät zu fahren lernte, was angesichts der Autoquote in Springsteens Songs wirklich irre ist. Das Buch erzählt, je länger, umso offenherziger von einem Künstler, der nicht zur Ruhe kommt und vor allen Bindungen davonläuft, gleichzeitig aber die Kontrolle über so gut wie alles wahren will. Vom Kind einer Familie, in der die manische Depression steckt "wie Gimmicks in einer Cornflakes-Schachtel".
Bruce Springsteen - hundert Millionen verkaufte Platten, "Oscar"-Preisträger - wurde vor siebenundsechzig Jahren geboren, die Mutter ist italienisch-amerikanisch, der Vater irisch-amerikanisch. Der Junge wächst mit zwei Schwestern in Freehold auf, einer Kleinstadt an der Küste von New Jersey. Die Identität von New Jersey speist sich aus zwei Dingen: einmal, am Ufer gegenüber von New York City zu liegen - und dann daraus, die Heimat von Frank Sinatra und Bruce Springsteen zu sein. Wenn man es in eine Autometapher packen will, wie sie für Springsteens Songs so typisch sind, dann sehen die Leute aus New Jersey immer nur die Rücklichter von etwas Großem, an dem sie immer nah dran bleiben, ohne je aufzuschließen. Das kann eine große Kraft sein.
Aber Bruce Springsteens Kraft ist zunächst einmal die Musik. Er ist genau im richtigen Alter, um von den Beatles und Dylan erwischt zu werden - und von den sozialen und kulturellen Umbrüchen, deren Soundtrack sie schrieben. Alles beginnt aber auch für Springsteen mit Elvis Presley: "Es war ein Mann", schreibt er, "der es nicht nur kommen sah, sondern der selbst war, was kam." Noch so ein Satz, über den manch ein hauptberuflicher Autor echt froh wäre.
"Mit allem, was im Radio und im Land abging", schreibt Springsteen jedenfalls über die fünfziger und sechziger Jahre, "gab es genug wilden Treibstoff, der für einen armen Jungen ein ganzes Leben lang ausreichen würde." Wie wichtig diese frühe Zeit für sein ganzes Leben war, erkennt man auch daran, dass Springsteen weit mehr als die Hälfte seines Buchs auf dieses erste Drittel seiner Karriere verwendet, auf den langen Weg bis zum Debüt, "Greetings from Asbury Park, N. J." von 1973: ein Weg, der über billige Gitarren führt und miese Bands und Auftritte, die noch schlechter bezahlt als besucht waren. Was dann aber folgt, ist keineswegs ein Durchbruch. Denn nach der ersten und der zweiten Platte entscheidet erst die dritte wirklich darüber, dass er es geschafft hat: "Born to Run" von 1975. Es hätte gut sein können, dass man niemals wieder von Bruce Springsteen hört.
Dass man ihm auf dem langen Weg durch die Bars und Clubs von New Jersey und die wechselnden Besetzungen seiner Gruppen folgt, liegt an der Stimme des Erzählers: Springsteen ist ein Entertainer auch hier. Seine Konzerte mit der E Street Band dauern bis heute mehr als drei Stunden, seine Arbeitsmoral ist famos (die anderen in der E Street Band, gesteht er, habe er immer dazu "gezwungen", so lange durchzuhalten). Und so kommt es gar nicht in Frage, hier nur Daten abzuspulen. Er schenkt einem im schönen Wechsel Pathos und Erkenntnis ("Musik aus dem Radio ist wie ein gemeinschaftlicher Fiebertraum, eine kollektive Halluzination, ein mit Millionen geteiltes Geheimnis, ein Flüstern im Ohr eines ganzen Landes") und Humor, dass man laut lachen muss: über den dicklichen Sänger einer seiner Jugendbands, dem schon die Haare ausgehen, weswegen sie nach Konzerten gefragt wurden, warum denn nur ihr Dad mitspiele; oder über die riesige Gibson-Gitarre, die Springsteen erbt und die so seltsam aggressiv klingt, bis ihn jemand für den tollen Trick lobt, Sologitarre auf einem Bass zu spielen.
Selbstironie, Sprachgewalt und das richtige Gespür für Pointen, das ist das eine. Das andere ist, dass sich diese frühen Jahre lesen wie ein großer amerikanischer Roman: die italienische Großmutter, die mehr als achtzig Jahre lang in Amerika lebt, ohne einen Satz Englisch zu sprechen. Die Straße, in die er noch Jahre später zurückkehrte, nachts, rastlos: 68 South Street, Freehold, New Jersey, eine der wichtigsten Adressen der Popgeschichte. Die Rotbuche vorm Haus. Das eisige Kinderzimmer im ersten Stock, das mit der Abwärme aus dem Küchenherd darunter geheizt wird. Die gütige Nonne auf der katholischen Grundschule. Der väterliche Freund, in dessen Surfbrettfabrik Bruce einzieht, auch, weil seine erste richtige Band, Steel Mill, hier probt. Die obdachlosen Nächte am Strand. Die elegante Mutter, die beschließt, den cholerischen, trinkenden, stillen, schwierigen Vater zu lieben, was immer auch geschieht. Der Abend, an dem der neunjährige Bruce den Vater mit einem Baseballschläger zwischen die Schultern haut, damit er aufhört, die Mutter anzuschreien. Und dieser Vater.
Douglas Springsteen ist die andere Hauptfigur des Buchs. Wie entscheidend der lebenslange Konflikt mit dem Vater war, konnte man immer schon auf Springsteen-Platten hören, vor allem auf jenem epochalen Livealbum, das Auftritte zwischen 1975 und 1985 umfasste, Songs, die Springsteen ständig für Anekdoten aus dem Leben mit seinem Dad unterbrach oder sie sogar damit begann: Wie die, als er ausgemustert wird und nicht nach Vietnam muss, weil seine Haare zu lang sind, ebenjene Haare, die den Vater zum Wahnsinn treiben - und der Vater nur "that's good" dazu sagt.
Diese Geschichte erzählt Springsteen jetzt noch einmal - aber er erzählt eben vor allem von seinem Leben in den Spuren des Vaters. Denn fühlte es sich auch noch so an, als würde der rebellische Sohn vor dem trinkenden, herrischen, schweigenden Vater davonlaufen: Er folgte ihm eigentlich immer nur.
Bruce Springsteen hat sein Leben lang immer wieder Songs darüber geschrieben, abzuhauen, vom Traum der Straße, die offen vor einem liegt, der Tank voll, das Mädchen auf dem Beifahrersitz, die Nacht lang: "Born to Run" handelt davon, "Thunder Road", "Rosalita". Seinen ersten Plattenvertrag hat er auf einer Motorhaube unterschrieben. Als Kind gab er bei Gewittern erst Ruhe, wenn seine Eltern ihn ins Auto packten: "Ich würde für den gesamten Rest meines Lebens über Autos schreiben."
Aber noch bevor Bruce selbst ausziehen kann, zieht sein Vater aus - nimmt seine Frau und geht westwärts. Da ist Bruce neunzehn. Der Vater hat ein Haus in Kalifornien, lange bevor der Sohn eines hat, etwas Besseres als den Tod in New Jersey würde er überall finden. Der Sohn verlässt also nicht, er ist ein Verlassener: Die Fuck-off-Emphase einiger seiner besten Texte ("It's a town full of losers and I'm pulling outta here to win") ist also eigentlich herausgebrüllte Trauer.
Als Springsteen dann 1978 sein Kleine-Leute-Meisterwerk "Darkness on the Edge of Town" schreibt, den Nachfolger des sentimental-optimistischen "Born to Run", fährt er nachts die Straßen von Freehold ab, immer wieder am Elternhaus vorbei. "Wer bin ich? Wer sind wir? Was und wo ist unsere Heimat? Was macht Männlichkeit und Erwachsensein aus?", fragt er sich. "Ich wollte wissen, was es hieß, Amerikaner zu sein."
Und noch etwas später, als ihn selbst die Depressionen einholen, die seinen Vater ein Leben lang nicht losgelassen haben, geht er - wie der Vater vor ihm, der zwanghaft auf und davon fuhr - auf Roadtrips: "Das Einzige", schreibt Springsteen, "was mir die Last von den Schultern nehmen konnte, war mit mehr als hundert Meilen die Stunde auf zwei Rädern dahinzudonnern." Geboren, um davonzurennen: kein Triumphalismus, eher eine Diagnose.
Diese Autobiographie - geschrieben mit der Ehrlichkeitswucht eines typischen Springsteen-Songs und gerichtet an "uns", seine Fans, die er braucht wie seine Gitarren den Strom - ändert nicht das Bild, das man vom Künstler Springsteen hat. Sie macht aber diese ungeheuere Anziehungskraft, die von ihm ausgeht, noch viel größer und rätselhafter. Ein Mann stärkster Affekte, manisch-depressiv offenbar, der Millionen aus der Seele singt: phänomenal. Es war aber ja immer schon kompliziert mit Springsteen. Seine Songs sind missverstanden und politisch missbraucht worden, ganze Kapitel handeln jetzt davon: Selten, dass ein Künstler so offen um die Interpretationshoheit über seine eigenen Werke kämpft. Nicht nur um das brüchige, trotzige "Born in the USA" aus dem Reagan-Wahljahr 1984, das von einem Vietnam-Veteranen erzählt, der in seiner Heimat ein zweites Mal verlorengeht. Auch um "American Skin" von 1999, ein Song über schwarze Opfer weißer Polizeigewalt, der aber eben, typisch Springsteen, von starker Ambivalenz lebt; davon, sich nicht auf eine Seite zu schlagen, ohne die andere verstehen zu wollen.
Bruce Springsteen ist ein Boss darin, seine Suche nach Antworten auf letzte Fragen in einer gewaltigen Show zu verstecken. Das verbindet ihn mit Stephen King und Steven Spielberg, die das in ihren Büchern und Filmen genauso gut können. Man fühlt sich phantastisch unterhalten, man staunt über die Tricks und die Eleganz und fragt sich, warum sich in die gute Laune nur immer so eine Spur von Traurigkeit mischt. Woher sie bei Springsteen kommt, verrät dieses Buch.
TOBIAS RÜTHER.
Bruce Springsteen, "Born to Run. Die Autobiografie". Übersetzt von Teja Schwaner, Daniel Müller, Alexander Wagner und Urban Hofstetter. Heyne, 672 Seiten, 27,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein Buch, das so fesselnd und episch ist wie ein Konzert von Springsteen." Thomas Hüetlin in Der Spiegel