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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2006

Erkenntnisschneisen
Übersicht über ein unübersichtliches Land: Bosnien-Herzegovina am Beginn des zweiten Nachkriegsjahrzehnts

In Bosnien-Hercegovina hat vor kurzem das zweite Nachkriegsjahrzehnt begonnen. In der ersten Dekade nach dem Ende des Krieges durch das Abkommen von Dayton 1995 hat es einige bemerkenswerte Fortschritte gegeben, etwa beim Wiederaufbau der Infrastruktur und der Eigentumsrückgabe an Vertriebene. Doch die zentrale politische Institution in dem Balkanland ist noch immer ein ausländischer "Gouverneur", auch wenn der CDU-Politiker Christian Schwarz-Schilling, der diesen Posten erst vor wenigen Tagen von dem Briten John Durham ("Paddy") Ashdown - er war der vierte Hohe Repräsentant - übernommen hat, der fünfte und letzte Hohe Repräsentant der Staatengemeinschaft in Sarajevo sein soll. Von Schwarz-Schilling wird erwartet, daß er sich und seine Rolle immer weiter zurücknimmt, damit die einheimischen Politiker mehr Verantwortung übernehmen müssen. "Ownership" heißt diese Politik im Diplomatendeutsch.

Zehn Jahre also stehen ausländische Truppen in Bosnien, bemühen sich Hilfsorganisationen und Diplomaten mit wechselndem Engagement und Erfolg um den Aufbau einer funktionierenden Gesellschaft, eines selbsttragenden Staates. Deshalb ist Bosnien-Hercegovina auch als Fallbeispiel interessant, obschon Vergleiche mit den Interventionen im Kosovo oder in Afghanistan natürlich schwierig sind. Fragen aber, die nicht nur Bosnien gelten, lassen sich stellen: Welche Fehler sind zu vermeiden, wenn ausländische Koalitionen sich am stockenden Getriebe eines gescheiterten Staates zu schaffen machen? Der vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebene "Wegweiser" zur Geschichte Bosniens bietet einen hilfreichen Einstieg in die Konfliktgeschichte eines im Wortsinne exzentrischen Landes, das vier Jahrhunderte im osmanischen und vier Jahrzehnte im habsburgischen Reich jeweils an der äußersten Peripherie und nur in Titos Jugoslawien für ein halbes Jahrhundert im Zentrum eines Staates lag.

Bemerkenswert ist das Kapitel zum Partisanenmythos, weil es sich auch mit der oft außer acht gelassenen Wirkung der modernen Populärkultur auf die Bewußtseinsbildung beschäftigt. Läßt sich unterschätzen, wie groß in Jugoslawien der Einfluß des verklärenden Partisanenfilms "Die Schlacht an der Neretva" (mit Yul Brynner, Orson Welles, Curd Jürgens und Hardy Krüger) gewesen ist? Der Partisanenmythos wurde im Titoismus als propagandistische Klammer zum Zusammenhalt des heterogenen Staates eingesetzt, der im übrigen auch seine Wirkung auf das Ausland nicht verfehlte. Dazu heißt es in diesem Buch: "Die westlichen Staaten scheuten sich lange Zeit, mit Bodentruppen im ehemaligen Jugoslawien einzugreifen, um die zunehmenden Gewaltexzesse vor allem in Bosnien-Herzegowina zu beenden. Ihnen war der Partisanenkrieg des Zweiten Weltkriegs noch zu gut in Erinnerung. Führende Politiker und Militärs fürchteten, in jahrelange, verlustreiche Kleinkämpfe verwickelt zu werden." So kam es nicht, doch warteten in den Schluchten der Drina andere Risiken auf jene, die nach dem Krieg meinten, das bosnische Kapitel sei nebenbei in zwei, drei Jahren zu erledigen.

MICHAEL MARTENS

Agilolf Keßelring (Hrsg.): Bosnien-Herzegowina. Wegweiser zur Geschichte. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2005. 168 S., 9,90 [Euro].

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