Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.06.2008Kalle nimmt hin
Neue Welle, alter Kahn: Johano Strasser lässt in seinem Roman "Bossa Nova" die Utopie vom einfachen Leben mit der kleinbürgerlichen Tristesse kollidieren.
Aus Vresen kommen Sie?" Romane, die mit einer solchen Frage beginnen und dann tatsächlich von wenig anderem handeln als von Vresen und vom Kleinstadtleben, im Untertitel einen "Provinzroman" zu nennen ist sicherlich klug. Wenn schon Kaff, dann wenigstens programmatisch. Der so dem Verdacht des Provinziellen vorbeugende Autor ist Johano Strasser, den man eher als Präsidenten des deutschen PEN-Zentrums und Verfasser politischer, sich einmischender Schriften kennt denn als Romancier. Zuletzt, im Jahre 2007, schrieb er über sein eigenes ereignisreiches Leben und lieferte linksgeprägte Zeitgeschichte gleich mit: "Als wir noch Götter waren im Mai".
Jetzt lässt der 1939 im niederländischen Leeuwarden geborene "Vordenker" der SPD die kleinen Ereignisse eines Städtchens, das Vresen heißt, aber auch ganz anders heißen könnte, vornehmlich am Stammtisch besprechen. Den Obertitel des Romans gibt der kecke Kneipenname ab: "Bossa Nova". Von wilden Rhythmen geschüttelt sind die Lebensläufe der Protagonisten aber nicht gerade. Unmerklich ist das Allende-Porträt mit Trauerflor verschwunden, das über dem Eingang hing, ist der revolutionäre Optimismus von einst dahin. "Wie unter Glas" sitzen sie da: Kalle und Karl, Alfred, Bernd, Manne, Joschi, älter gewordene Männer, die wehmütig Anekdoten von damals erzählen und das Verstreichen der Zeit an Leib und Geist kläglich spüren.
Ihre Gespräche beginnen mit "Wisst ihr noch?" und enden mit Sätzen wie "Wir müssen wieder". Manch einer will noch ein letztes Mal "ausbrechen". Alfred trennt sich von seinem Hund und lernt Spanisch. Manne will als Entwicklungshelfer nach Südafrika. Kalle reanimiert seine alte Zündapp. Bernd hat Krebs und stirbt. Später, manchmal zu spät, stellen sie fest, dass sie sich nie richtig unterhalten haben. Wenn einer sich Visionen des neuen Lebens hingibt, durchbebt es die anderen kurz. Beiläufig quittiert wird dann das Zurückkehren in die Runde, wenn aus den großen Plänen doch nichts geworden ist.
Die Frauen arrangieren sich lieber mit den Verhältnissen. Sie heißen Rita, Barbara, Elke oder Hella und planen hinter dem Rücken ihrer Männer die Modernisierung eines altmodischen Papierwarenladens. Im neuen "Paper Moon" kann man auch Tee trinken und lesen. Kalle, der Stoiker, wartet hier gern und vernachlässigt, aber doch verständnisvoll auf Elkes Feierabend. Kalle ist auch der Erzähler in diesem Roman. Seit dreißig Jahren ist er mit Elke verheiratet, die Kinder sind erwachsen und aus dem Haus. Nachts hört er "nichts außer Elkes Atem und dem Wind, der durch die Vorgartenbüsche fährt, nichts außer dem Geräusch der Leere". Dann stellt er sich bisweilen vor, jeder in Vresen hätte, ohne es zu wissen, eine Aufgabe "für eine höhere Instanz" zu erfüllen; die Stellung zu halten gegen einen Gegner, den keiner beim Namen zu nennen wagt.
Kalle spricht gerne für alle in jenem solidarischen "Wir", das den allgemeinen Lebenswiderspruch aus Trägheit, Aufbruch und Kontingenz zu ertragen hilft. Man mag in dieser ganz auf den kompetenten Laien abstellenden Erzählhaltung Strassers Ideal des Citoyen wiedererkennen. Kalle, der sich als "Randfigur" versteht, versucht zugleich, über den Rand der Literatur hinauszugelangen: "Unser Leben hat nichts Romanhaftes, nichts Dramatisches. Wir hier müssen sehen, wie wir ohne Regieanweisung durchs Leben kommen." Das letzte Kapitel heißt "Ich", und es ist das gelungenste, vielleicht, weil Kalle hier die angemaßte Kollektivperspektive aufgibt. Er berichtet von einer leisen Panik, die ihn angesichts des Verdachts überfällt, alles könnte nur ein Traum sein. Er klingelt in solchen Fällen bei den Nachbarn und beginnt ein Gespräch. Wieder opponiert damit die Figur gegen die Narration, deren Wirklichkeitssättigung Träumen schließlich nicht unähnlich ist: So erscheint die Provinz, ganz im alten Sinne, allmählich als Refugium, als Ort des Wahren im Falschen der Literatur.
Provinzprosa steht vor dem Problem, Stellung beziehen zu müssen. Entweder betont sie das Leiden an der Ödnis oder mit resignativem Stolz das Glück im Kleinen. Strasser - dagegen lässt sich nichts einwenden - legt ein Plädoyer für das Glück des "normalen" Lebens vor, doch ganz überzeugend wirkt das nicht, weil immer wieder die Gegenperspektive hineinspielt. Die Erzählung aus einem "vergessenen Winkel der Welt" ist grundiert mit Selbstmitleid, von dem sich das Lob der Ereignislosigkeit nur mühsam befreien kann. Distanzierend wirkt außerdem die jeden Informationsaustausch auf der Straße mitschneidende Sprache, in die sich Kalles Reflexionen und Kommentare einschalten wie ein Fußnotenapparat.
Die Betroffenheit des Ich-Erzählers und sein gleichzeitiger Anspruch, berichtend "beiseite" zu stehen, geraten einander oft unelegant in die Quere. Meistens löst er diese Bipolarität, indem er die Ansichten in konjunktivistische Großkonstruktionen aufbricht: "Bernd sagte, dass Barbara richtig aufgelebt sei, seit sie den Laden schmeiße. Ihr tue das richtig gut, die Arbeit, die Veranwortung . . ." Die ständige Sekundärvermittlung verstärkt nicht unbedingt das Interesse an dem ohnehin recht austauschbaren Personal des Romans. Die tägliche Not dieser Helden, sich der eigenen Existenz zu versichern, droht schließlich auf den Text selbst abzufärben und ihn kraftlos werden zu lassen.
ANJA HIRSCH
Johano Strasser: "Bossa Nova". Ein
Provinzroman. Pendo Verlag, München 2008. 171 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neue Welle, alter Kahn: Johano Strasser lässt in seinem Roman "Bossa Nova" die Utopie vom einfachen Leben mit der kleinbürgerlichen Tristesse kollidieren.
Aus Vresen kommen Sie?" Romane, die mit einer solchen Frage beginnen und dann tatsächlich von wenig anderem handeln als von Vresen und vom Kleinstadtleben, im Untertitel einen "Provinzroman" zu nennen ist sicherlich klug. Wenn schon Kaff, dann wenigstens programmatisch. Der so dem Verdacht des Provinziellen vorbeugende Autor ist Johano Strasser, den man eher als Präsidenten des deutschen PEN-Zentrums und Verfasser politischer, sich einmischender Schriften kennt denn als Romancier. Zuletzt, im Jahre 2007, schrieb er über sein eigenes ereignisreiches Leben und lieferte linksgeprägte Zeitgeschichte gleich mit: "Als wir noch Götter waren im Mai".
Jetzt lässt der 1939 im niederländischen Leeuwarden geborene "Vordenker" der SPD die kleinen Ereignisse eines Städtchens, das Vresen heißt, aber auch ganz anders heißen könnte, vornehmlich am Stammtisch besprechen. Den Obertitel des Romans gibt der kecke Kneipenname ab: "Bossa Nova". Von wilden Rhythmen geschüttelt sind die Lebensläufe der Protagonisten aber nicht gerade. Unmerklich ist das Allende-Porträt mit Trauerflor verschwunden, das über dem Eingang hing, ist der revolutionäre Optimismus von einst dahin. "Wie unter Glas" sitzen sie da: Kalle und Karl, Alfred, Bernd, Manne, Joschi, älter gewordene Männer, die wehmütig Anekdoten von damals erzählen und das Verstreichen der Zeit an Leib und Geist kläglich spüren.
Ihre Gespräche beginnen mit "Wisst ihr noch?" und enden mit Sätzen wie "Wir müssen wieder". Manch einer will noch ein letztes Mal "ausbrechen". Alfred trennt sich von seinem Hund und lernt Spanisch. Manne will als Entwicklungshelfer nach Südafrika. Kalle reanimiert seine alte Zündapp. Bernd hat Krebs und stirbt. Später, manchmal zu spät, stellen sie fest, dass sie sich nie richtig unterhalten haben. Wenn einer sich Visionen des neuen Lebens hingibt, durchbebt es die anderen kurz. Beiläufig quittiert wird dann das Zurückkehren in die Runde, wenn aus den großen Plänen doch nichts geworden ist.
Die Frauen arrangieren sich lieber mit den Verhältnissen. Sie heißen Rita, Barbara, Elke oder Hella und planen hinter dem Rücken ihrer Männer die Modernisierung eines altmodischen Papierwarenladens. Im neuen "Paper Moon" kann man auch Tee trinken und lesen. Kalle, der Stoiker, wartet hier gern und vernachlässigt, aber doch verständnisvoll auf Elkes Feierabend. Kalle ist auch der Erzähler in diesem Roman. Seit dreißig Jahren ist er mit Elke verheiratet, die Kinder sind erwachsen und aus dem Haus. Nachts hört er "nichts außer Elkes Atem und dem Wind, der durch die Vorgartenbüsche fährt, nichts außer dem Geräusch der Leere". Dann stellt er sich bisweilen vor, jeder in Vresen hätte, ohne es zu wissen, eine Aufgabe "für eine höhere Instanz" zu erfüllen; die Stellung zu halten gegen einen Gegner, den keiner beim Namen zu nennen wagt.
Kalle spricht gerne für alle in jenem solidarischen "Wir", das den allgemeinen Lebenswiderspruch aus Trägheit, Aufbruch und Kontingenz zu ertragen hilft. Man mag in dieser ganz auf den kompetenten Laien abstellenden Erzählhaltung Strassers Ideal des Citoyen wiedererkennen. Kalle, der sich als "Randfigur" versteht, versucht zugleich, über den Rand der Literatur hinauszugelangen: "Unser Leben hat nichts Romanhaftes, nichts Dramatisches. Wir hier müssen sehen, wie wir ohne Regieanweisung durchs Leben kommen." Das letzte Kapitel heißt "Ich", und es ist das gelungenste, vielleicht, weil Kalle hier die angemaßte Kollektivperspektive aufgibt. Er berichtet von einer leisen Panik, die ihn angesichts des Verdachts überfällt, alles könnte nur ein Traum sein. Er klingelt in solchen Fällen bei den Nachbarn und beginnt ein Gespräch. Wieder opponiert damit die Figur gegen die Narration, deren Wirklichkeitssättigung Träumen schließlich nicht unähnlich ist: So erscheint die Provinz, ganz im alten Sinne, allmählich als Refugium, als Ort des Wahren im Falschen der Literatur.
Provinzprosa steht vor dem Problem, Stellung beziehen zu müssen. Entweder betont sie das Leiden an der Ödnis oder mit resignativem Stolz das Glück im Kleinen. Strasser - dagegen lässt sich nichts einwenden - legt ein Plädoyer für das Glück des "normalen" Lebens vor, doch ganz überzeugend wirkt das nicht, weil immer wieder die Gegenperspektive hineinspielt. Die Erzählung aus einem "vergessenen Winkel der Welt" ist grundiert mit Selbstmitleid, von dem sich das Lob der Ereignislosigkeit nur mühsam befreien kann. Distanzierend wirkt außerdem die jeden Informationsaustausch auf der Straße mitschneidende Sprache, in die sich Kalles Reflexionen und Kommentare einschalten wie ein Fußnotenapparat.
Die Betroffenheit des Ich-Erzählers und sein gleichzeitiger Anspruch, berichtend "beiseite" zu stehen, geraten einander oft unelegant in die Quere. Meistens löst er diese Bipolarität, indem er die Ansichten in konjunktivistische Großkonstruktionen aufbricht: "Bernd sagte, dass Barbara richtig aufgelebt sei, seit sie den Laden schmeiße. Ihr tue das richtig gut, die Arbeit, die Veranwortung . . ." Die ständige Sekundärvermittlung verstärkt nicht unbedingt das Interesse an dem ohnehin recht austauschbaren Personal des Romans. Die tägliche Not dieser Helden, sich der eigenen Existenz zu versichern, droht schließlich auf den Text selbst abzufärben und ihn kraftlos werden zu lassen.
ANJA HIRSCH
Johano Strasser: "Bossa Nova". Ein
Provinzroman. Pendo Verlag, München 2008. 171 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.03.2008Kalle macht die Zündapp flott
Und Johano Strasser schreibt „Bossa Nova”, einen Provinzroman
Provinzromane sind oft Erinnerungsbücher. Sie bedürfen der lebendigen Anschauung des Milieus, doch nur selten verharrt, wer ein solches Buch schreibt, bis zum Ende seiner Tage in den geschilderten Verhältnissen. Der 1939 in den Niederlanden geborene Politologe und Publizist Johano Strasser, der immer wieder einmal erzählende Prosa vorgelegt hat, ist viel in der Welt herumgekommen und lebt heute am Starnberger See. Auch das ist Provinz, nach soziologischen Erhebungen allerdings die reichste und glücklichste Deutschlands, was sie literarisch eher unergiebig macht. Außerdem liegt München, eine Metropole trotz allem, geographisch und lebensweltlich sehr nahe. Wohl deshalb hat Strasser für seinen Provinzroman „Bossa Nova” auf frühere Erfahrungen zurückgegriffen.
Zwar spielt die Geschichte in einer verschwommen konturierten Jetztzeit, aber der fiktive Ort Vresen hat mit Rotenburg an der Wümme, wo der Autor seine Schulzeit verbrachte, zumindest die strategisch günstige, gleichwohl extrem großstadtferne Position zwischen Hamburg, Bremen und Hannover gemeinsam. Rotenburg erlangte später traurige Berühmtheit durch einen Kannibalen, während in Strassers Vresen gegen Ende der sechziger Jahre ein „Paketmörder” sein Unwesen getrieben hat. Im Übrigen mag man es als Kunstmittel werten, dass auf lokale Charakteristika weitgehend verzichtet wird, ist doch in globalisierten Zeiten das auffälligste Merkmal deutscher Kleinstädte ihre zunehmende Verwechselbarkeit.
Hochgradig verwechselbar sind auch die Figuren, mit denen Strasser sein niedersächsisches Beinahe-Idyll bevölkert. Sie heißen Bernd und Barbara, Hella und Manne, Rita und Max, leben in mäßigem Wohlstand, haben Kinder großgezogen und können die Jahre bis zur Rente an zwei Händen abzählen. Kalle, der Ich-Erzähler, ist am Amtsgericht tätig, sein Kumpel Bernd ebenso, und für Fußball interessieren sich alle. Man trifft sich am Stammtisch im „Bossa Nova”, das seinen Namen der Leidenschaft des altlinken Kneipiers Karl für Südamerika verdankt, und die Frauen halten regelmäßig ihr Kaffeekränzchen. Hier nun kommt das zweite Kunstmittel ins Spiel: Ereignislosigkeit. Statt das Vorurteil zu widerlegen, dass in der Provinz nichts los sei, bastelt Strasser einen ganzen Roman daraus. Das ist ziemlich kühn. Waghalsig wird das Unternehmen dadurch, dass der Autor sich auch sprachlich in einer Sphäre einrichtet, die mit den Zitaten „Tach, Herr Wesemann” und „Ich war platt” vollkommen charakterisiert ist.
Genau genommen passiert natürlich doch das eine oder andere, auch nach dem Pokalsieg des TSV Vresen gegen Arminia Bielefeld, der als sensationellste aller Begebenheiten in die Stadtchronik eingegangen ist. Der Kioskbesitzer Alfred trennt sich von seinem Hund, prügelt sich mit dem italienischen Gastwirt Giulio und verkauft kurz darauf seinen Kiosk. Kalle macht seine alte Zündapp wieder flott und träumt von einer Fahrt über die Alpen. Am Fluss wird eine abgetrennte Hand gefunden. Max und Rita haben Ärger mit ihrer Tochter Silvie, ein dubioser Investor prellt Hunderte Kleinanleger, und Kalles Freund Bernd stirbt an Krebs.
Da kommt noch was
In der Realität eines normalen Menschenlebens wäre das aufregend genug, aber in Strassers Romanwelt ist alles Geschehen von einer Aura des Öden und Drögen derart umnebelt, dass man aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr herauskommt: So traurig-banal ist also das Leben. Selbst die Vorgänge, auf die sich die Behauptung „wunderbar komisch” im Umschlagtext beziehen dürfte, wirken lahm, wie kastriert. Die Szene am Bahnschalter, bei der eine Fahrt nach Holzminden sich als Projekt von hohem Komplexitätsgrad erweist, könnte eine x-beliebige Mehdorn-Glosse sein.
Wer den Flachland-Naturalismus solchermaßen auf die Spitze treibt, der muss sich etwas dabei denken. Man kennt den langjährigen PEN-Präsidenten Strasser als aufrechten Sozialdemokraten der schrägeren Sorte und als geradlinigen Menschenfreund. Ist es sein Anliegen, endlich dem unverkünstelten Leben einen literarischen Auftritt zu verschaffen? Er hat sogar noch Höheres im Sinn: In letzter Zeit, berichtet der Erzähler, liege er nachts oft wach, und dann spiele er mit dem Gedanken, „dass da noch etwas kommen muss, etwas Bedeutendes, etwas, das uns mit einem Schlag offenbart, wozu es uns gibt. Vielleicht, denke ich, haben wir hier, ohne es zu wissen, eine Aufgabe zu erfüllen, eine Aufgabe, die von Belang ist, nicht nur für uns, sondern für eine höhere Instanz.” Am Schluss wird diese Idee noch einmal aufgenommen: „Vielleicht ist alles im Grunde ganz einmalig, unwiederholbar, vielleicht wissen wir gar nicht, wer wir sind und was wir tun, und unser Leben ist gar nicht das, was wir gewöhnlich Leben nennen, sondern etwas ganz anderes, etwas ganz und gar Unbegreifliches.”
Literatur kann in der Tat die Grenze durchlässig machen, die das Banale vom Metaphysischen trennt. Zu welchen Höhen ein Provinzroman sich dabei emporzuschwingen vermag, hat zum Beispiel Eckhard Henscheids „Mätresse des Bischofs” gezeigt. Johano Strasser aber ist auf seiner Sinnsuche erst einmal in der Tiefebene hängengeblieben. KRISTINA MAIDT-ZINKE
JOHANO STRASSER: Bossa Nova. Ein Provinzroman. Pendo Verlag, München 2008. 171 Seiten, 16,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Und Johano Strasser schreibt „Bossa Nova”, einen Provinzroman
Provinzromane sind oft Erinnerungsbücher. Sie bedürfen der lebendigen Anschauung des Milieus, doch nur selten verharrt, wer ein solches Buch schreibt, bis zum Ende seiner Tage in den geschilderten Verhältnissen. Der 1939 in den Niederlanden geborene Politologe und Publizist Johano Strasser, der immer wieder einmal erzählende Prosa vorgelegt hat, ist viel in der Welt herumgekommen und lebt heute am Starnberger See. Auch das ist Provinz, nach soziologischen Erhebungen allerdings die reichste und glücklichste Deutschlands, was sie literarisch eher unergiebig macht. Außerdem liegt München, eine Metropole trotz allem, geographisch und lebensweltlich sehr nahe. Wohl deshalb hat Strasser für seinen Provinzroman „Bossa Nova” auf frühere Erfahrungen zurückgegriffen.
Zwar spielt die Geschichte in einer verschwommen konturierten Jetztzeit, aber der fiktive Ort Vresen hat mit Rotenburg an der Wümme, wo der Autor seine Schulzeit verbrachte, zumindest die strategisch günstige, gleichwohl extrem großstadtferne Position zwischen Hamburg, Bremen und Hannover gemeinsam. Rotenburg erlangte später traurige Berühmtheit durch einen Kannibalen, während in Strassers Vresen gegen Ende der sechziger Jahre ein „Paketmörder” sein Unwesen getrieben hat. Im Übrigen mag man es als Kunstmittel werten, dass auf lokale Charakteristika weitgehend verzichtet wird, ist doch in globalisierten Zeiten das auffälligste Merkmal deutscher Kleinstädte ihre zunehmende Verwechselbarkeit.
Hochgradig verwechselbar sind auch die Figuren, mit denen Strasser sein niedersächsisches Beinahe-Idyll bevölkert. Sie heißen Bernd und Barbara, Hella und Manne, Rita und Max, leben in mäßigem Wohlstand, haben Kinder großgezogen und können die Jahre bis zur Rente an zwei Händen abzählen. Kalle, der Ich-Erzähler, ist am Amtsgericht tätig, sein Kumpel Bernd ebenso, und für Fußball interessieren sich alle. Man trifft sich am Stammtisch im „Bossa Nova”, das seinen Namen der Leidenschaft des altlinken Kneipiers Karl für Südamerika verdankt, und die Frauen halten regelmäßig ihr Kaffeekränzchen. Hier nun kommt das zweite Kunstmittel ins Spiel: Ereignislosigkeit. Statt das Vorurteil zu widerlegen, dass in der Provinz nichts los sei, bastelt Strasser einen ganzen Roman daraus. Das ist ziemlich kühn. Waghalsig wird das Unternehmen dadurch, dass der Autor sich auch sprachlich in einer Sphäre einrichtet, die mit den Zitaten „Tach, Herr Wesemann” und „Ich war platt” vollkommen charakterisiert ist.
Genau genommen passiert natürlich doch das eine oder andere, auch nach dem Pokalsieg des TSV Vresen gegen Arminia Bielefeld, der als sensationellste aller Begebenheiten in die Stadtchronik eingegangen ist. Der Kioskbesitzer Alfred trennt sich von seinem Hund, prügelt sich mit dem italienischen Gastwirt Giulio und verkauft kurz darauf seinen Kiosk. Kalle macht seine alte Zündapp wieder flott und träumt von einer Fahrt über die Alpen. Am Fluss wird eine abgetrennte Hand gefunden. Max und Rita haben Ärger mit ihrer Tochter Silvie, ein dubioser Investor prellt Hunderte Kleinanleger, und Kalles Freund Bernd stirbt an Krebs.
Da kommt noch was
In der Realität eines normalen Menschenlebens wäre das aufregend genug, aber in Strassers Romanwelt ist alles Geschehen von einer Aura des Öden und Drögen derart umnebelt, dass man aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr herauskommt: So traurig-banal ist also das Leben. Selbst die Vorgänge, auf die sich die Behauptung „wunderbar komisch” im Umschlagtext beziehen dürfte, wirken lahm, wie kastriert. Die Szene am Bahnschalter, bei der eine Fahrt nach Holzminden sich als Projekt von hohem Komplexitätsgrad erweist, könnte eine x-beliebige Mehdorn-Glosse sein.
Wer den Flachland-Naturalismus solchermaßen auf die Spitze treibt, der muss sich etwas dabei denken. Man kennt den langjährigen PEN-Präsidenten Strasser als aufrechten Sozialdemokraten der schrägeren Sorte und als geradlinigen Menschenfreund. Ist es sein Anliegen, endlich dem unverkünstelten Leben einen literarischen Auftritt zu verschaffen? Er hat sogar noch Höheres im Sinn: In letzter Zeit, berichtet der Erzähler, liege er nachts oft wach, und dann spiele er mit dem Gedanken, „dass da noch etwas kommen muss, etwas Bedeutendes, etwas, das uns mit einem Schlag offenbart, wozu es uns gibt. Vielleicht, denke ich, haben wir hier, ohne es zu wissen, eine Aufgabe zu erfüllen, eine Aufgabe, die von Belang ist, nicht nur für uns, sondern für eine höhere Instanz.” Am Schluss wird diese Idee noch einmal aufgenommen: „Vielleicht ist alles im Grunde ganz einmalig, unwiederholbar, vielleicht wissen wir gar nicht, wer wir sind und was wir tun, und unser Leben ist gar nicht das, was wir gewöhnlich Leben nennen, sondern etwas ganz anderes, etwas ganz und gar Unbegreifliches.”
Literatur kann in der Tat die Grenze durchlässig machen, die das Banale vom Metaphysischen trennt. Zu welchen Höhen ein Provinzroman sich dabei emporzuschwingen vermag, hat zum Beispiel Eckhard Henscheids „Mätresse des Bischofs” gezeigt. Johano Strasser aber ist auf seiner Sinnsuche erst einmal in der Tiefebene hängengeblieben. KRISTINA MAIDT-ZINKE
JOHANO STRASSER: Bossa Nova. Ein Provinzroman. Pendo Verlag, München 2008. 171 Seiten, 16,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein Buch aus der "Tiefebene", urteilt Kristina Maidt-Zinke über Johano Strassers Roman über gepflegte Ereignislosigkeit mit Stammtisch und Zündapp. Damit spielt sie allerdings nicht so sehr auf das provinzielle Setting an, das "hochgradig verwechselbare" Personal, sondern vor allem auf die vertane Chance, dem Ganzen eine höhere Note zu verpassen. Der Wille dazu ist für die Rezensentin allerdings erkennbar. Allein die "Aura des Öden" scheint ihr zu stark, als dass sich der Autor aufschwingen könnte, sprachlich, komödiantisch oder eben metaphysisch - wie "zum Beispiel Eckhard Henscheid".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH