»Bostjans Flug« ist der Roman einer slowenischen Kindheit und Jugend, die unauslöschlich von Verlust geprägt wird. Die wichtigsten Stationen der Geschichte, die sich in einer unvergleichlichen Szenenfolge räumlich und zeitlich miteinander verflechten und in Johann Strutz' kongenialer Übersetzung zu einem erschütternden, ästhetisch faszinierenden Ganzen verbinden, sind: Verschleppung und Deportation der Mutter und ihr Tod im Konzentrationslager, während der Vater in der Deutschen Wehrmacht dient; Heimkehr und zweite Heirat des Vaters; die in mythisch-magische Dimensionen reichende Welt der sterbenden Großmutter; Einsamkeit und Trauer des jugendlichen Bostjan - und die rettende Begegnung mit der ersten Liebe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.2012Lina wiedersehen oder sterben
Der in Kärnten lebende Schriftsteller Florjan Lipus ist hierzulande nahezu unbekannt. Das muss sich ändern. Sein Roman "Bostjans Flug" ist ein Sprachkunstwerk, das vom Verlust und dem Wiederfinden der Worte erzählt.
Überflüssig und nutzlos ist die Schönheit in den Bergen, überflüssig und nutzlos wie Gelehrsamkeit und Schulunterricht. Und auch für Liebe und Zärtlichkeit ist hier oben kein Platz, beim Heiraten nicht und auch nicht bei den Kindern, die seltener gestreichelt werden als das Vieh. In der rauhen dörflichen Gemeinschaft der Kärntner Slowenen, wie sie Florjan Lipus in seinem Roman "Bostjans Flug" beschreibt, herrscht ein zähes, undurchlässiges Schweigen.
Ein Wink mit dem Werkzeug, ein Heben des Kopfes gelten mehr als Gespräch und Unterhaltung. "Arbeit, die Arbeit war die Triebfeder des Umgangs miteinander, war der Gruß und das unverrückbare Maß für die Wahl und Stärke der Worte. Kein Wunder, wenn hierherum alle schweigen, es schweigen Fleisch und Holz, weil sie das wenige bereits gesagt haben, das ihnen die Vorfahren noch übrig ließen." Auch Bostjans aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrter Vater, der gar nicht weiß, für was er eigentlich den Kopf hingehalten hat, zieht sich in sein Schweigen zurück und verlangt dasselbe von allen anderen.
Was aber, wenn in dieser Welt der Mühsal plötzlich einer von Schönheit geschlagen, von der Liebe überrumpelt wird? Wenn er beim Gang durch den Wald einem Mädchen begegnet und von einer Krankheit heimgesucht wird, von der nur sie ihn heilen kann? Bostjan weiß mit einem Mal, warum er überhaupt am Leben ist und dass es fortan nur noch zwei Möglichkeiten gibt: Lina wiederzusehen oder zu sterben. Das Glück des Wiedersehens beschränkt sich freilich auf die sonntäglichen Gottesdienste, unter den wachsamen Augen der tugendhaften Dörflerinnen und des sittenstrengen Pfarrers, wo er ihr Gesicht unter den Kopftüchern sucht und sein Herz bei ihrem Anblick weich wird "wie eine abgelegene Frucht".
Es ist ein Wunder, wie aus dieser Welt der Sprachlosigkeit und Wortverlorenheit ein Sprachkunstwerk entsteht, für das Florjan Lipus und sein Übersetzer Johann Strutz nicht genug zu rühmen sind. Die Sätze fließen ineinander, verbinden sich zu einem Erzählrhythmus, einem Sprachgewebe, das aus sich heraus lebt, die Geschichte gleichsam in die Luft hebt und sie trägt. In seiner Prosa, deren Stil an Texte des großen polnischen Autors Bruno Schulz denken lässt, erweist sich Lipus als Meister der harten Fügung von sprachlicher Behutsamkeit und sprachlichem Furor. Die Genauigkeit seiner Beschreibungen belässt den Dingen ihre Magie und verstellt gerade nicht den Blick auf die sogenannte Wirklichkeit, auf Niedertracht und Bosheit, auf die Wichte und die verkümmerten Seelen.
Die poetische Kraft des schmalen, um ein Nachwort von Peter Handke und Manuskriptfaksimiles ergänzten Bandes speist sich auch aus dem biographischen Ursprung dieses Schreibens, der nahezu alle Bücher von Lipus bestimmt. Nicht nur Herkunft und Lebensraum haben Autor und Hauptfigur gemeinsam, auch Lipus' Mutter wurde, weil sie vermeintliche Partisanen bewirtete, vom Brotbacken weg verhaftet und im KZ umgebracht. Es gehört zu den berührendsten Passagen des Buches, wie der Halbwüchsige Florjan sich auf die Suche macht, sich bis zu den Gendarmen durchfragt und später, auf dem sonst Glück verheißenden Weg, plötzlich den Tod, das Zugrundegehen der Mutter spürt, die ihm aus der Ferne ihre Stunde mitteilt: "Der Boden gefror an seinen Sohlen, es war keine Kraft mehr in den Beinen, kein Schritt mehr unter den Füßen. Ein schwarzer Fleck senkte sich auf seine Augen und machte ihn einige Momente lang blind, doch in dieser Dunkelheit, hinter dem Fleck, erschien die leuchtende Gestalt der Mutter. Lange dauerte ihr Sterben, begann immer vom Ende her, langsam wurde ihr der Tod verabreicht, und noch ehe sie weg war, schleppte er sich ins Haus."
Früh schon ist Bostjan beschlagen auf dem Feld des Sterbens, denn Krieg und Tod sind allgegenwärtig in dieser Gegend, in der die Verstorbenen mit den Lebenden am Tisch sitzen. Auch der Geist der Großmutter schwebt als Nebel über dem Haus und steht dem Enkel bei. Wie schon in Maja Haderlaps Roman "Engel des Vergessens" oder in Peter Handkes Stück "Der Sturm", beide ebenfalls in Kärnten spielend, sind die Frauen Figuren der Rettung in einer Welt der Unterdrückung und des Duckmäusertums, des Sich-Fügens und Gefügig-Machens.
Mit Lina nimmt die Trauer ein Ende, kehrt Bostjan unter die Lebenden zurück. Als er endlich zu ihr findet, sich eines Nachts auf den Weg macht und an ihr Fenster klopft, geht zwar ihr Vater noch einmal als Verhinderer dazwischen, der Bann aber ist gebrochen, die "beredte Schrift" von Bostjans heißen Handflächen bleibt "auf der Außenwand ihrer Kammer stehen". Auch die Wortkargkeit ist nun kein Hindernis mehr - zwar "flossen die Worte spärlich, langsam, doch sie flossen". Er, der seinen Leib bis dahin nur durch Prügel gespürt hatte, wird plötzlich aufgeladen von ihrem Dasein, von ihrer Gegenwart: "Es wetterleuchtete zwischen ihnen, eine flüssige Substanz nahm sie auf, setzte ein Strömen von Hand zu Hand in Gang und von den Händen über den ganzen Körper." Beim Ausschreiten auf der Straße erfährt Bostjan seinen gänzlich veränderten Zustand, überholt sich selbst und wechselt vom Gehen in jenes Fliegen, nach dem der Roman benannt ist: "Das zeigt sich an der Länge seiner Schritte, die in gebogener Linie und wie spielerisch in die Höhe jagen, zeigt sich daran, wie lang es dauert, bis der Bogen wieder den Boden berührt, und obgleich er ihn berührt, wirkt es, als berühre er ihn nicht. Es ist zu sehen, wie die Beine in die Höhe streben und wie die Anziehungskraft der Erde schwächer wird, wie alles Erdige abfällt."
Man möchte immerfort zitieren aus diesem großartigen Buch, dessen Autor trotz namhafter Fürsprecher und einiger Preise hierzulande immer noch zu den zu Entdeckenden gehört. Möge die Neuausgabe seines erstmals 2005 auf Deutsch erschienenen Romans "Bostjans Flug" dies endlich ändern.
MATTHIAS WEICHELT
Florjan Lipus: "Bostjans Flug". Roman.
Aus dem Slowenischen von Johann Strutz. Nachwort von Peter Handke. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 167 S., Abb., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der in Kärnten lebende Schriftsteller Florjan Lipus ist hierzulande nahezu unbekannt. Das muss sich ändern. Sein Roman "Bostjans Flug" ist ein Sprachkunstwerk, das vom Verlust und dem Wiederfinden der Worte erzählt.
Überflüssig und nutzlos ist die Schönheit in den Bergen, überflüssig und nutzlos wie Gelehrsamkeit und Schulunterricht. Und auch für Liebe und Zärtlichkeit ist hier oben kein Platz, beim Heiraten nicht und auch nicht bei den Kindern, die seltener gestreichelt werden als das Vieh. In der rauhen dörflichen Gemeinschaft der Kärntner Slowenen, wie sie Florjan Lipus in seinem Roman "Bostjans Flug" beschreibt, herrscht ein zähes, undurchlässiges Schweigen.
Ein Wink mit dem Werkzeug, ein Heben des Kopfes gelten mehr als Gespräch und Unterhaltung. "Arbeit, die Arbeit war die Triebfeder des Umgangs miteinander, war der Gruß und das unverrückbare Maß für die Wahl und Stärke der Worte. Kein Wunder, wenn hierherum alle schweigen, es schweigen Fleisch und Holz, weil sie das wenige bereits gesagt haben, das ihnen die Vorfahren noch übrig ließen." Auch Bostjans aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrter Vater, der gar nicht weiß, für was er eigentlich den Kopf hingehalten hat, zieht sich in sein Schweigen zurück und verlangt dasselbe von allen anderen.
Was aber, wenn in dieser Welt der Mühsal plötzlich einer von Schönheit geschlagen, von der Liebe überrumpelt wird? Wenn er beim Gang durch den Wald einem Mädchen begegnet und von einer Krankheit heimgesucht wird, von der nur sie ihn heilen kann? Bostjan weiß mit einem Mal, warum er überhaupt am Leben ist und dass es fortan nur noch zwei Möglichkeiten gibt: Lina wiederzusehen oder zu sterben. Das Glück des Wiedersehens beschränkt sich freilich auf die sonntäglichen Gottesdienste, unter den wachsamen Augen der tugendhaften Dörflerinnen und des sittenstrengen Pfarrers, wo er ihr Gesicht unter den Kopftüchern sucht und sein Herz bei ihrem Anblick weich wird "wie eine abgelegene Frucht".
Es ist ein Wunder, wie aus dieser Welt der Sprachlosigkeit und Wortverlorenheit ein Sprachkunstwerk entsteht, für das Florjan Lipus und sein Übersetzer Johann Strutz nicht genug zu rühmen sind. Die Sätze fließen ineinander, verbinden sich zu einem Erzählrhythmus, einem Sprachgewebe, das aus sich heraus lebt, die Geschichte gleichsam in die Luft hebt und sie trägt. In seiner Prosa, deren Stil an Texte des großen polnischen Autors Bruno Schulz denken lässt, erweist sich Lipus als Meister der harten Fügung von sprachlicher Behutsamkeit und sprachlichem Furor. Die Genauigkeit seiner Beschreibungen belässt den Dingen ihre Magie und verstellt gerade nicht den Blick auf die sogenannte Wirklichkeit, auf Niedertracht und Bosheit, auf die Wichte und die verkümmerten Seelen.
Die poetische Kraft des schmalen, um ein Nachwort von Peter Handke und Manuskriptfaksimiles ergänzten Bandes speist sich auch aus dem biographischen Ursprung dieses Schreibens, der nahezu alle Bücher von Lipus bestimmt. Nicht nur Herkunft und Lebensraum haben Autor und Hauptfigur gemeinsam, auch Lipus' Mutter wurde, weil sie vermeintliche Partisanen bewirtete, vom Brotbacken weg verhaftet und im KZ umgebracht. Es gehört zu den berührendsten Passagen des Buches, wie der Halbwüchsige Florjan sich auf die Suche macht, sich bis zu den Gendarmen durchfragt und später, auf dem sonst Glück verheißenden Weg, plötzlich den Tod, das Zugrundegehen der Mutter spürt, die ihm aus der Ferne ihre Stunde mitteilt: "Der Boden gefror an seinen Sohlen, es war keine Kraft mehr in den Beinen, kein Schritt mehr unter den Füßen. Ein schwarzer Fleck senkte sich auf seine Augen und machte ihn einige Momente lang blind, doch in dieser Dunkelheit, hinter dem Fleck, erschien die leuchtende Gestalt der Mutter. Lange dauerte ihr Sterben, begann immer vom Ende her, langsam wurde ihr der Tod verabreicht, und noch ehe sie weg war, schleppte er sich ins Haus."
Früh schon ist Bostjan beschlagen auf dem Feld des Sterbens, denn Krieg und Tod sind allgegenwärtig in dieser Gegend, in der die Verstorbenen mit den Lebenden am Tisch sitzen. Auch der Geist der Großmutter schwebt als Nebel über dem Haus und steht dem Enkel bei. Wie schon in Maja Haderlaps Roman "Engel des Vergessens" oder in Peter Handkes Stück "Der Sturm", beide ebenfalls in Kärnten spielend, sind die Frauen Figuren der Rettung in einer Welt der Unterdrückung und des Duckmäusertums, des Sich-Fügens und Gefügig-Machens.
Mit Lina nimmt die Trauer ein Ende, kehrt Bostjan unter die Lebenden zurück. Als er endlich zu ihr findet, sich eines Nachts auf den Weg macht und an ihr Fenster klopft, geht zwar ihr Vater noch einmal als Verhinderer dazwischen, der Bann aber ist gebrochen, die "beredte Schrift" von Bostjans heißen Handflächen bleibt "auf der Außenwand ihrer Kammer stehen". Auch die Wortkargkeit ist nun kein Hindernis mehr - zwar "flossen die Worte spärlich, langsam, doch sie flossen". Er, der seinen Leib bis dahin nur durch Prügel gespürt hatte, wird plötzlich aufgeladen von ihrem Dasein, von ihrer Gegenwart: "Es wetterleuchtete zwischen ihnen, eine flüssige Substanz nahm sie auf, setzte ein Strömen von Hand zu Hand in Gang und von den Händen über den ganzen Körper." Beim Ausschreiten auf der Straße erfährt Bostjan seinen gänzlich veränderten Zustand, überholt sich selbst und wechselt vom Gehen in jenes Fliegen, nach dem der Roman benannt ist: "Das zeigt sich an der Länge seiner Schritte, die in gebogener Linie und wie spielerisch in die Höhe jagen, zeigt sich daran, wie lang es dauert, bis der Bogen wieder den Boden berührt, und obgleich er ihn berührt, wirkt es, als berühre er ihn nicht. Es ist zu sehen, wie die Beine in die Höhe streben und wie die Anziehungskraft der Erde schwächer wird, wie alles Erdige abfällt."
Man möchte immerfort zitieren aus diesem großartigen Buch, dessen Autor trotz namhafter Fürsprecher und einiger Preise hierzulande immer noch zu den zu Entdeckenden gehört. Möge die Neuausgabe seines erstmals 2005 auf Deutsch erschienenen Romans "Bostjans Flug" dies endlich ändern.
MATTHIAS WEICHELT
Florjan Lipus: "Bostjans Flug". Roman.
Aus dem Slowenischen von Johann Strutz. Nachwort von Peter Handke. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 167 S., Abb., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Zur Handlung von Florjan Lipuš' Roman "Boštjans Flug" sagt Mathias Schnitzler nur das Allernötigste. Vielleicht möchte er nicht zu viel verraten, denn dass der Roman unbedingt lesenswert ist, das stellt der Rezensent gleich am Anfang klar: "Solch einen Roman, das ist ein Versprechen, haben Sie noch nicht gelesen". Im Weiteren geht es also mehr um die Geschichte der Kärtner Slowenen seit dem frühen Mittelalter im Allgemeinen und die Lebensgeschichte des Autors im Besonderen. Ob das auch in "Boštjans Flug" behandelt wird, bleibt unklar. Und zur Handlung: Eine Liebesgeschichte ist es, in der auch KZs vorkommen, informiert der Rezensent. Klingt gefährlich nach Hollywood? "Lipuš kann das, weil er ein Zauberer ist, der Ernst macht mit dem Schreiben", versichert Schnitzler, der auch für Johann Strutz' "famose Übersetzung" von diesem "phänomenalen Buch" ein Kompliment übrig hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Man möchte immerfort zitieren aus diesem großartigen Buch, dessen Autor trotz namhafter Fürsprecher und einiger Preise hierzulande immer noch zu den zu Entdeckenden gehört.« Matthias Weichelt Frankfurter Allgemeine Zeitung 20121102
»Der Schrei einer jungen Seele ist dieser Roman, die verzweifelt nach Freiheit, nach Gerechtigkeit und Selbstbestimmung sucht. Und zugleich ist dieses Buch von großer Zärtlichkeit und Poesie. (...) Es schlägt Funken im Herzen und wetterleuchtet in die dunkle Vergangenheit.«