Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2005Das geheime Frankreich
Das EU-Referendum als Literatur: Die Grande Nation pflegt die Kunst des Doppellebens
Frankreich macht Europa eine Szene, und alle staunen: Das Gründungsmitglied der Europäischen Union, das in den Vereinigten Staaten und in China geradezu als Synonym für Europa begriffen wird, jeden Schritt von der Verengung zur Vertiefung ist es mitgegangen, immer war es so brav, hat Arte mitbezahlt, sogar hingeschaut - und nun das.
Wen das überrascht, der kann nun lernen, daß es in Frankreich, im öffentlichen Leben, in Politik und Gesellschaft und in den Familien, immer mindestens noch eine zweite Version der Dinge gibt, eine geheime Seite, versteckte Praktiken und Ansichten; und daß das Doppelleben eine wohlgeübte nationale Disziplin darstellt, für die es leider keine Medaillen gibt, auch wenn, wie es heißt, bestimmte Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees sich durchaus aufgeschlossen dafür zeigen.
Mit herkömmlichen politischen Begriffen vermag man nicht mehr zu erklären, welche Fraktion innerhalb der Sozialisten warum wie stimmt, woher der Kultstatus der linksextremen ewigen Präsidentschaftskandidatin Arlette Laguiller rührt, deren Partei immer noch von einem Mann geführt wird, der seit Jahren nur unter dem seltsamen Decknamen Lionel bekannt ist; und wieso in den französischen Medien der saarländische Europa-Abgeordnete Jo Leinen zu einem der wichtigsten lebenden Deutschen avanciert ist.
Mehr als in den protestantisch geprägten und angelsächsischen Ländern ist in Frankreich die völlige Übereinstimmung von Absichten, Aussagen und Lebensführung nur eine Option unter mehreren, und der aufsehenerregende Trick, die unvorhergesehene Entwicklung, der maximal unterhaltsame, optimal plazierte Coup de théâtre immer noch das Meisterwerk der ganzen Lebenskunst.
Als eine gute Freundin einmal nicht gekommen war, um sich vor dem Ende der Ferien noch kurz zu verabschieden - bis zum nächsten Jahr am selben Strand -, rief sie am folgenden Tag aus Paris an, einigermaßen amüsiert: Ihre Schwiegermutter habe sie unmittelbar vor der Abfahrt besucht, und da hat sie mir plötzlich ein Familiengeheimnis anvertraut. Nichts Dramatisches. Aber danach war ich einigermaßen verwirrt und kam erst auf der Autobahn zu mir. "Un secret de famille - du kennst das ja . . ." Man kennt das eben, in französischen Familien, und wer es nicht aus der eigenen Familie kennt, der kennt es aus Zeitungen, dem Fernsehen und vor allem aus der Literatur.
Und in diesem europakritischen Frühjahr ist - seltsame Laune des kulturellen Lebens - Doppelleben zum wichtigsten literarischen Topos geworden.
Die uneheliche Tochter von François Mitterrand, Mazarine, hat in einem lesenswerten Roman ihre Kindheit als rund um die Uhr bewachte Tochter beschrieben, die zugleich das einsamste Mädchen ihrer Klasse war, weil sie nie jemandem erzählen durfte, wer ihr Papa wäre, und es andererseits auch schlecht hätte verbergen können, sobald sie mal jemanden nach Hause eingeladen hätte. Also lud sie niemanden ein, und während ihr Vater nach und nach halb Paris abhören ließ, um herauszufinden, wer von Mazarine wußte, saß sie in endloser Langeweile in den Aufenthaltsräumen ihrer Schule herum, bis am frühen Abend mal eines ihrer vielbeschäftigten Elternteile - ihre Mutter ist Kuratorin am Musée d'Orsay - einschwebte.
François Mitterrand hat einen kompletten Täuschungs- und Überwachungsapparat aus Geheimdienst und anderen staatlichen Stellen gebastelt, um sich den Wunsch nach einem spießigen Familienleben zu dritt zu erfüllen. Am Wochenende saß Mazarine am Tisch mit ihrem Vater, und es gab Eier im Becher. Der Präsident sah darin eine Befreiung von der ambitionierten Küche des Elysée, während das Kind umgekehrt von eleganten Staatsempfängen träumte, zu denen es nie mitgenommen wurde. Erst kurz vor seinem Tod lüftete Mitterrand das Geheimnis und machte sein Doppelleben öffentlich. Das wird heute als eine seiner besseren Hinterlassenschaften bewertet, und Mazarine ist in der Öffentlichkeit eine seiner schnellsten und effektivsten Verteidigerinnen.
Der eigentliche Buchhandelserfolg des Frühjahrs ist aber ein anderer, und obwohl es sich um die gleiche Familie handelt, liegt der Fall ganz anders.
Frédéric Mitterrand ist der Neffe des ehemaligen Staatspräsidenten, aber mit Politik und dem Staat hat er nichts am Hut. Er hat eine Fernsehkarriere gemacht, heute leitet er die Programme des internationalen frankophonen Senders TV 5, der auch in Deutschland im Kabel zu empfangen ist. Er wurde nicht nur als stets gutgelaunter, eitler, leicht ironischer Moderator bekannt, sondern vor allem für seine einfühlsamen, lyrischen Dokumentationen über die Schicksale von Stars und Königinnen, in denen sich über die alten Schwarzweißaufnahmen seine ernste, fast flüsternde Stimme legte, die endlose Wortkaskaden, ganze Romane über das Unglück von Marilyn, das Liebesleben von Ava Gardner oder den armen Herzog von sowieso aufsagte. Nun hat Mitterrand selbst ein Buch veröffentlicht, und es geht darin um das, was auch draufsteht: "La mauvaise vie", sein schlechtes Leben.
Gleich nach Erscheinen wurde es zum meistverkauften Buch der Saison, eine Mischung aus Houellebecq, Catherine Millet und Marcel Proust, für den Frédéric Mitterrand, wie alle blassen Jungs aus gutem Hause, die auf dunkelhäutige Jungs aus schlechtem Hause stehen, eine Schwäche hat. Eine seiner Talkshows hieß "Du Côté de chez Fred".
Das erste Kapitel heißt "Kindheit", aber es geht dort nicht um die Irrungen und Wirrungen des Autors als Knabe in dunkelblauer Tracht in den Tuilerien, sondern um einen marokkanischen Jungen. Mit quälender Nüchternheit schildert der Autor, wie er die Bedenken der Eltern zerstreut, wie er den Jungen mit Geschenken und einigem Kalkül an sich bindet, wie er trotzdem die mißbilligenden, verdächtigen Blicke spürt, wenn er mit seinem Jungen in einem teuren Wagen durch das Dorf fährt, wie er ihn mitnimmt nach Frankreich und wie es nicht richtig gutgeht. Das Kind fühlt sich verlassen in Paris, will nichts essen, macht ins Bett. Der Junge erscheint ihm daraufhin weniger anziehend, weniger selbstbewußt, weniger schön als in Marokko: "Plötzlich sah er aus wie ein kleiner palästinensischer Steinewerfer."
Er hat sich dieses Kind geholt, die Motive sind zweifelhaft, auch wenn er halb Paris erläutert, daß er eine gute Tat tue, man glaubt ihm kaum. Das ganze Kapitel klingt nach Nabokovs "Lolita".
In einem anderen Teil des Buchs erzählt er dann, wie das kam, seine Schwäche, seine Begeisterung, seine kaum zu beherrschende Liebe dafür, junge Männer für Sex zu bezahlen. Der erste, dem er Geld gegeben hat, heißt Haralambos Gnelledis, und Mitterrand schreibt, voller Zärtlichkeit: "An diesen Namen werde ich mich bis zu meinem Tode erinnern."
Natürlich weiß niemand davon. Der Mann ist fast jeden Abend im Fernsehen, eine Art Frank Elstner. Wenn er wieder mal nach Bangkok fliegt, um in den Clubs von Patpong seinen geliebten Bird zu treffen, versucht er den halben Flug lang, seinen Sitznachbarn davon zu überzeugen, daß er eigentlich nach Kambodscha weiterfliege, um dort zu drehen, und erzählt so obsessiv von Angkor Wat und Sihanouk, bis der andere gar nichts mehr glaubt.
Für die Schwulenbewegung hat er nur milden Spott übrig, das Offensive, Militante und Unzüchtige der Aktionen erschreckt ihn, die anderen, die in eheähnlichen Verhältnissen lebenden Männer, sind ihm zu spießig.
Das Doppelleben hat seine eigenen Gesetze - man ist in ihm ja nicht allein. Man führt es mit anderen doppelt Lebenden. Eine der bewegendsten Szenen des Buches ist ein Abendessen in Madrid. Mitterrand speist bei der Ehefrau eines spanischen Diplomaten, im Buch nennt er sie Carmen. Ihr Ehemann, der Botschafter, war Mitterrands große Liebe. Jahrelang hat er ihn mit Carmen geteilt. Sie hat zwei Kinder mit ihm. Mitterrand ist an der Geschichte beinahe zerbrochen. Die Kinder wollen den Gast aus Paris nicht sehen. Was hat ihr Vater ihnen über seinen Ex erzählt?
In diesem Buch, in dem es um so viele Doppelleben geht, wurden natürlich alle Namen und Eigenschaften verändert, so gut es geht; also wird der spanische Botschafter in Kopenhagen nicht der gemeinte sein, oder gerade doch, egal - man ist als Leser in diesem Text von laclosscher Komplexität angenehm orientierungslos.
Eine aber läßt sich nicht effektiv tarnen: Der Autor leidet, offenbar seit den späten sechziger Jahren, unter einer ausgewachsenen Obsession für Catherine Deneuve. Mit einer Detailbesessenheit, die wir sonst nur von David Foster Wallace kennen, beschwört Mitterrand jede noch so kleine ihrer gar nicht mal so wenigen Begegnungen herauf und beschreibt das immergleiche Wechselspiel zwischen seiner Gier nach Aufmerksamkeit und ihrer freundlichen Distanz.
Die im Buch geschilderten Verstöße gegen allerlei Gesetze, die Nähe zur Päderastie waren in der Öffentlichkeit kein Thema. Nicht daß jemand so was tut, sondern daß er darüber schreibt, löste Erstaunen aus. Die wesentliche Frage in Frankreich, die ist ja stets eine ganz andere: Wie schreibt er darüber?
Die Leser wie die Wähler ringen immer noch mit der von François Mitterrand begründeten, von Chirac fortgesetzten romanesken Dynamik des französischen öffentlichen Lebens. Je nach Erzählstrang wird dem Publikum vom Super-Airbus am strahlend blauen Himmel über den sieben Weltmeeren vorgeschwärmt oder nostalgisch an den Kräutertee bei der Großmutter erinnert. Der Reiz besteht darin, immer etwas noch Erstaunlicheres präsentieren zu können. Darum wissen die Franzosen, so verwirrt sie in der Frage der Verfassung auch sein mögen, ganz genau, daß der meistzitierte Satz der Kampagne schlicht gelogen ist: Es gibt in Frankreich immer einen Plan B.
NILS MINKMAR
Mazarine Pingeot: "Bouche cousue". Verlag Julliard. 228 Seiten, 36 Euro.
Frédéric Mitterrand: "La mauvaise vie". Verlag Robert Laffont. 350 Seiten, 19 Euro.
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Das EU-Referendum als Literatur: Die Grande Nation pflegt die Kunst des Doppellebens
Frankreich macht Europa eine Szene, und alle staunen: Das Gründungsmitglied der Europäischen Union, das in den Vereinigten Staaten und in China geradezu als Synonym für Europa begriffen wird, jeden Schritt von der Verengung zur Vertiefung ist es mitgegangen, immer war es so brav, hat Arte mitbezahlt, sogar hingeschaut - und nun das.
Wen das überrascht, der kann nun lernen, daß es in Frankreich, im öffentlichen Leben, in Politik und Gesellschaft und in den Familien, immer mindestens noch eine zweite Version der Dinge gibt, eine geheime Seite, versteckte Praktiken und Ansichten; und daß das Doppelleben eine wohlgeübte nationale Disziplin darstellt, für die es leider keine Medaillen gibt, auch wenn, wie es heißt, bestimmte Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees sich durchaus aufgeschlossen dafür zeigen.
Mit herkömmlichen politischen Begriffen vermag man nicht mehr zu erklären, welche Fraktion innerhalb der Sozialisten warum wie stimmt, woher der Kultstatus der linksextremen ewigen Präsidentschaftskandidatin Arlette Laguiller rührt, deren Partei immer noch von einem Mann geführt wird, der seit Jahren nur unter dem seltsamen Decknamen Lionel bekannt ist; und wieso in den französischen Medien der saarländische Europa-Abgeordnete Jo Leinen zu einem der wichtigsten lebenden Deutschen avanciert ist.
Mehr als in den protestantisch geprägten und angelsächsischen Ländern ist in Frankreich die völlige Übereinstimmung von Absichten, Aussagen und Lebensführung nur eine Option unter mehreren, und der aufsehenerregende Trick, die unvorhergesehene Entwicklung, der maximal unterhaltsame, optimal plazierte Coup de théâtre immer noch das Meisterwerk der ganzen Lebenskunst.
Als eine gute Freundin einmal nicht gekommen war, um sich vor dem Ende der Ferien noch kurz zu verabschieden - bis zum nächsten Jahr am selben Strand -, rief sie am folgenden Tag aus Paris an, einigermaßen amüsiert: Ihre Schwiegermutter habe sie unmittelbar vor der Abfahrt besucht, und da hat sie mir plötzlich ein Familiengeheimnis anvertraut. Nichts Dramatisches. Aber danach war ich einigermaßen verwirrt und kam erst auf der Autobahn zu mir. "Un secret de famille - du kennst das ja . . ." Man kennt das eben, in französischen Familien, und wer es nicht aus der eigenen Familie kennt, der kennt es aus Zeitungen, dem Fernsehen und vor allem aus der Literatur.
Und in diesem europakritischen Frühjahr ist - seltsame Laune des kulturellen Lebens - Doppelleben zum wichtigsten literarischen Topos geworden.
Die uneheliche Tochter von François Mitterrand, Mazarine, hat in einem lesenswerten Roman ihre Kindheit als rund um die Uhr bewachte Tochter beschrieben, die zugleich das einsamste Mädchen ihrer Klasse war, weil sie nie jemandem erzählen durfte, wer ihr Papa wäre, und es andererseits auch schlecht hätte verbergen können, sobald sie mal jemanden nach Hause eingeladen hätte. Also lud sie niemanden ein, und während ihr Vater nach und nach halb Paris abhören ließ, um herauszufinden, wer von Mazarine wußte, saß sie in endloser Langeweile in den Aufenthaltsräumen ihrer Schule herum, bis am frühen Abend mal eines ihrer vielbeschäftigten Elternteile - ihre Mutter ist Kuratorin am Musée d'Orsay - einschwebte.
François Mitterrand hat einen kompletten Täuschungs- und Überwachungsapparat aus Geheimdienst und anderen staatlichen Stellen gebastelt, um sich den Wunsch nach einem spießigen Familienleben zu dritt zu erfüllen. Am Wochenende saß Mazarine am Tisch mit ihrem Vater, und es gab Eier im Becher. Der Präsident sah darin eine Befreiung von der ambitionierten Küche des Elysée, während das Kind umgekehrt von eleganten Staatsempfängen träumte, zu denen es nie mitgenommen wurde. Erst kurz vor seinem Tod lüftete Mitterrand das Geheimnis und machte sein Doppelleben öffentlich. Das wird heute als eine seiner besseren Hinterlassenschaften bewertet, und Mazarine ist in der Öffentlichkeit eine seiner schnellsten und effektivsten Verteidigerinnen.
Der eigentliche Buchhandelserfolg des Frühjahrs ist aber ein anderer, und obwohl es sich um die gleiche Familie handelt, liegt der Fall ganz anders.
Frédéric Mitterrand ist der Neffe des ehemaligen Staatspräsidenten, aber mit Politik und dem Staat hat er nichts am Hut. Er hat eine Fernsehkarriere gemacht, heute leitet er die Programme des internationalen frankophonen Senders TV 5, der auch in Deutschland im Kabel zu empfangen ist. Er wurde nicht nur als stets gutgelaunter, eitler, leicht ironischer Moderator bekannt, sondern vor allem für seine einfühlsamen, lyrischen Dokumentationen über die Schicksale von Stars und Königinnen, in denen sich über die alten Schwarzweißaufnahmen seine ernste, fast flüsternde Stimme legte, die endlose Wortkaskaden, ganze Romane über das Unglück von Marilyn, das Liebesleben von Ava Gardner oder den armen Herzog von sowieso aufsagte. Nun hat Mitterrand selbst ein Buch veröffentlicht, und es geht darin um das, was auch draufsteht: "La mauvaise vie", sein schlechtes Leben.
Gleich nach Erscheinen wurde es zum meistverkauften Buch der Saison, eine Mischung aus Houellebecq, Catherine Millet und Marcel Proust, für den Frédéric Mitterrand, wie alle blassen Jungs aus gutem Hause, die auf dunkelhäutige Jungs aus schlechtem Hause stehen, eine Schwäche hat. Eine seiner Talkshows hieß "Du Côté de chez Fred".
Das erste Kapitel heißt "Kindheit", aber es geht dort nicht um die Irrungen und Wirrungen des Autors als Knabe in dunkelblauer Tracht in den Tuilerien, sondern um einen marokkanischen Jungen. Mit quälender Nüchternheit schildert der Autor, wie er die Bedenken der Eltern zerstreut, wie er den Jungen mit Geschenken und einigem Kalkül an sich bindet, wie er trotzdem die mißbilligenden, verdächtigen Blicke spürt, wenn er mit seinem Jungen in einem teuren Wagen durch das Dorf fährt, wie er ihn mitnimmt nach Frankreich und wie es nicht richtig gutgeht. Das Kind fühlt sich verlassen in Paris, will nichts essen, macht ins Bett. Der Junge erscheint ihm daraufhin weniger anziehend, weniger selbstbewußt, weniger schön als in Marokko: "Plötzlich sah er aus wie ein kleiner palästinensischer Steinewerfer."
Er hat sich dieses Kind geholt, die Motive sind zweifelhaft, auch wenn er halb Paris erläutert, daß er eine gute Tat tue, man glaubt ihm kaum. Das ganze Kapitel klingt nach Nabokovs "Lolita".
In einem anderen Teil des Buchs erzählt er dann, wie das kam, seine Schwäche, seine Begeisterung, seine kaum zu beherrschende Liebe dafür, junge Männer für Sex zu bezahlen. Der erste, dem er Geld gegeben hat, heißt Haralambos Gnelledis, und Mitterrand schreibt, voller Zärtlichkeit: "An diesen Namen werde ich mich bis zu meinem Tode erinnern."
Natürlich weiß niemand davon. Der Mann ist fast jeden Abend im Fernsehen, eine Art Frank Elstner. Wenn er wieder mal nach Bangkok fliegt, um in den Clubs von Patpong seinen geliebten Bird zu treffen, versucht er den halben Flug lang, seinen Sitznachbarn davon zu überzeugen, daß er eigentlich nach Kambodscha weiterfliege, um dort zu drehen, und erzählt so obsessiv von Angkor Wat und Sihanouk, bis der andere gar nichts mehr glaubt.
Für die Schwulenbewegung hat er nur milden Spott übrig, das Offensive, Militante und Unzüchtige der Aktionen erschreckt ihn, die anderen, die in eheähnlichen Verhältnissen lebenden Männer, sind ihm zu spießig.
Das Doppelleben hat seine eigenen Gesetze - man ist in ihm ja nicht allein. Man führt es mit anderen doppelt Lebenden. Eine der bewegendsten Szenen des Buches ist ein Abendessen in Madrid. Mitterrand speist bei der Ehefrau eines spanischen Diplomaten, im Buch nennt er sie Carmen. Ihr Ehemann, der Botschafter, war Mitterrands große Liebe. Jahrelang hat er ihn mit Carmen geteilt. Sie hat zwei Kinder mit ihm. Mitterrand ist an der Geschichte beinahe zerbrochen. Die Kinder wollen den Gast aus Paris nicht sehen. Was hat ihr Vater ihnen über seinen Ex erzählt?
In diesem Buch, in dem es um so viele Doppelleben geht, wurden natürlich alle Namen und Eigenschaften verändert, so gut es geht; also wird der spanische Botschafter in Kopenhagen nicht der gemeinte sein, oder gerade doch, egal - man ist als Leser in diesem Text von laclosscher Komplexität angenehm orientierungslos.
Eine aber läßt sich nicht effektiv tarnen: Der Autor leidet, offenbar seit den späten sechziger Jahren, unter einer ausgewachsenen Obsession für Catherine Deneuve. Mit einer Detailbesessenheit, die wir sonst nur von David Foster Wallace kennen, beschwört Mitterrand jede noch so kleine ihrer gar nicht mal so wenigen Begegnungen herauf und beschreibt das immergleiche Wechselspiel zwischen seiner Gier nach Aufmerksamkeit und ihrer freundlichen Distanz.
Die im Buch geschilderten Verstöße gegen allerlei Gesetze, die Nähe zur Päderastie waren in der Öffentlichkeit kein Thema. Nicht daß jemand so was tut, sondern daß er darüber schreibt, löste Erstaunen aus. Die wesentliche Frage in Frankreich, die ist ja stets eine ganz andere: Wie schreibt er darüber?
Die Leser wie die Wähler ringen immer noch mit der von François Mitterrand begründeten, von Chirac fortgesetzten romanesken Dynamik des französischen öffentlichen Lebens. Je nach Erzählstrang wird dem Publikum vom Super-Airbus am strahlend blauen Himmel über den sieben Weltmeeren vorgeschwärmt oder nostalgisch an den Kräutertee bei der Großmutter erinnert. Der Reiz besteht darin, immer etwas noch Erstaunlicheres präsentieren zu können. Darum wissen die Franzosen, so verwirrt sie in der Frage der Verfassung auch sein mögen, ganz genau, daß der meistzitierte Satz der Kampagne schlicht gelogen ist: Es gibt in Frankreich immer einen Plan B.
NILS MINKMAR
Mazarine Pingeot: "Bouche cousue". Verlag Julliard. 228 Seiten, 36 Euro.
Frédéric Mitterrand: "La mauvaise vie". Verlag Robert Laffont. 350 Seiten, 19 Euro.
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