Ein Paar nimmt in einem afrikanischen Kinderheim ihren Adoptivsohn in Empfang. Sie sind unsicher, aber voller Hoffnung. Sie wollen dieses Kind retten, ihm die Welt eröffnen, alle Zoos und Vergnügungsparks besuchen. Aber ihr Boy ist nervös, ängstlich, durch Kleinigkeiten zu verstören. Erst nuschelt er, dann stottert er, dann hört er ganz auf zu sprechen. In der Schule ist er ein Außenseiter, dessen Mitschüler zu seiner Geburtstagsparty nicht erscheinen. Seine Eltern bemühen sich, aber seine Höflichkeit ihnen und ihren Angeboten gegenüber verwandelt sich in Unnahbarkeit. Spätestens als er aufhört, Kind zu sein, haben sie ihn verloren.
Berührend, ergreifend und ohne Voyeurismus dringt die Autorin tief in die Seelen ihrer Figuren ein, sie folgt dem Weg der Trauer, den die Eltern und die Lehrerin als seine einzige Vertrauensperson gehen, sie erspürt die Wucht der Schuld und das Bedürfnis nach Rache für eine Tat, die nicht gerächt werden kann.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Berührend, ergreifend und ohne Voyeurismus dringt die Autorin tief in die Seelen ihrer Figuren ein, sie folgt dem Weg der Trauer, den die Eltern und die Lehrerin als seine einzige Vertrauensperson gehen, sie erspürt die Wucht der Schuld und das Bedürfnis nach Rache für eine Tat, die nicht gerächt werden kann.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.06.2016NEUE TASCHENBÜCHER
Das Verschwinden finden –
Roman über eine doppelte Entfremdung
Ein Junge aus Kenia wird von einem niederländischen Paar adoptiert, sein Name lautet schlicht „Boy“. Er soll es gut haben im neuen Zuhause, Chancen erhalten, die Welt sehen. Die Erwartungen werden enttäuscht: Boy ist verschwiegen, verstottert, einsam. Probiert vorm Spiegel Kleider und den roten Lippenstift der Mutter, wird „Schwuli“ in der Schule gerufen. Doch die Travestie bleibt nur angedeutet. Einig scheint sich die Umwelt nur darüber zu sein, dass er weich ist und sehr verletzlich. Zu seiner Geburtstagsparty erscheint kein Klassenkamerad, die vom Warten ranzig gewordene Torte landet im Müll. Größer und größer wird Boys Isolation, bis er eines Tages gar nicht mehr nach Hause kommt.
Wytske Versteeg ist keine Unbekannte in den Niederlanden, die auf der kommenden Frankfurter Buchmesse Gastland sind. Drei Romane hat die hochgelobte, 32-jährige Autorin veröffentlicht, „Boy“ ist die erste Übersetzung ins Deutsche. In kurzen, präzisen, poetisch-brutalen Sätzen, die sehr wehtun können, wird das Geschehene aus Sicht der Mutter in Rückblenden erzählt. Je tiefer man in die Reflexionen dieser äußerlich emotional distanzierten Psychiaterin eintaucht, desto klarer wird, dass es um weitaus Größeres geht als bloß fehlendes Verständnis für den Jungen.
Vielmehr werden schmerzhaft sämtliche Gefühlslagen einer Frau seziert, die keine eigenen Kinder gebären kann und an den Umständen und Folgen der Adoption leidet: Schuld, Hass, Ungewissheit, Verbitterung, Gleichgültigkeit, Todessehnsucht. Mit der Zeit verschwindet die Erzählerin ebenfalls, entfremdet sich von ihrem Mann, entzieht sich der gesamten Umwelt. Die Ärztin beginnt selbst eine Art Therapie, die sie nach Bulgarien führt. Dort macht sie in Boys ehemaliger Lehrerin eine Schuldige aus, an der sie sich für das Verschwinden ihres Sohnes rächen will. Doch auch dieses Vorhaben ist nur eine Illusion, ein trostloser Irrglaube. Ebenso wie das Glück. TOBIAS SEDLMAIER
Wytske Versteeg: Boy. Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016. 240 Seiten, 10,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Das Verschwinden finden –
Roman über eine doppelte Entfremdung
Ein Junge aus Kenia wird von einem niederländischen Paar adoptiert, sein Name lautet schlicht „Boy“. Er soll es gut haben im neuen Zuhause, Chancen erhalten, die Welt sehen. Die Erwartungen werden enttäuscht: Boy ist verschwiegen, verstottert, einsam. Probiert vorm Spiegel Kleider und den roten Lippenstift der Mutter, wird „Schwuli“ in der Schule gerufen. Doch die Travestie bleibt nur angedeutet. Einig scheint sich die Umwelt nur darüber zu sein, dass er weich ist und sehr verletzlich. Zu seiner Geburtstagsparty erscheint kein Klassenkamerad, die vom Warten ranzig gewordene Torte landet im Müll. Größer und größer wird Boys Isolation, bis er eines Tages gar nicht mehr nach Hause kommt.
Wytske Versteeg ist keine Unbekannte in den Niederlanden, die auf der kommenden Frankfurter Buchmesse Gastland sind. Drei Romane hat die hochgelobte, 32-jährige Autorin veröffentlicht, „Boy“ ist die erste Übersetzung ins Deutsche. In kurzen, präzisen, poetisch-brutalen Sätzen, die sehr wehtun können, wird das Geschehene aus Sicht der Mutter in Rückblenden erzählt. Je tiefer man in die Reflexionen dieser äußerlich emotional distanzierten Psychiaterin eintaucht, desto klarer wird, dass es um weitaus Größeres geht als bloß fehlendes Verständnis für den Jungen.
Vielmehr werden schmerzhaft sämtliche Gefühlslagen einer Frau seziert, die keine eigenen Kinder gebären kann und an den Umständen und Folgen der Adoption leidet: Schuld, Hass, Ungewissheit, Verbitterung, Gleichgültigkeit, Todessehnsucht. Mit der Zeit verschwindet die Erzählerin ebenfalls, entfremdet sich von ihrem Mann, entzieht sich der gesamten Umwelt. Die Ärztin beginnt selbst eine Art Therapie, die sie nach Bulgarien führt. Dort macht sie in Boys ehemaliger Lehrerin eine Schuldige aus, an der sie sich für das Verschwinden ihres Sohnes rächen will. Doch auch dieses Vorhaben ist nur eine Illusion, ein trostloser Irrglaube. Ebenso wie das Glück. TOBIAS SEDLMAIER
Wytske Versteeg: Boy. Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016. 240 Seiten, 10,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einen Roman, der seine Erwartungen auf spannende Art und Weise missachtet, hat Rezensent Andreas Platthaus mit Wytske Versteegs Text gelesen. Das 2013 im niederländischen Original erschienene Buch erzählt laut Platthaus die Geschichte vom Tod eines Kindes und was dieser bei der Mutter auslöst. Dass die Autorin aus der Story keinen Psychothriller macht, wie der Rezensent zunächst wegen der Horrormotive vermutet, scheint ihm nichts auszumachen. Schließlich liefert Versteeg laut Platthaus stattdessen eine psychologisch versierte Gesellschaftsstudie zum Thema Leiden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2016Horror auf Abwegen
Schule als Lebensverformung: Wytske Versteegs Roman "Boy" arbeitet mit Genremotiven, hält aber viele Überraschungen parat.
In diesem Jahr braucht man sich nicht darum zu sorgen, dass der Ehrengast der Frankfurter Buchmesse literarisch wenig zu bieten hätte. Die Niederlande und Flandern haben eine Vielzahl von in Deutschland populären Schriftstellern hervorgebracht: Veteranen wie Cees Nooteboom, Hugo Claus, A. F. Th. van der Hejden, Margriet de Moor, Connie Palmen oder Harry Mulisch sowie in den letzten Jahren breit rezipierte Autoren wie Arnon Grünberg, J. J. Voskuil oder Leon de Winter. Man sieht schon: Bislang haben nur wenige niederländische oder flämische Schriftstellerinnen den Weg ins Herz des deutschen Publikums gefunden. Deshalb ist es verdienstvoll, dass der Wagenbach Verlag, der seit Jahren aus der Literatur des jeweiligen Ehrengastes eine kleine, aber wunderschön gestaltete Taschenbuchreihe erstellt, in seine diesmalige Auswahl von sechs Bänden niederländischer Autoren auch die Erstübersetzung eines Romans von Wytske Versteeg aufgenommen hat.
In "Boy", ihrem im Original 2013 erschienenen zweiten von bislang drei Romanen, erzählt die 1983 geborene Schriftstellerin aus der Sicht einer namenlosen Frau vom Tod ihres Kindes. Oder besser gesagt: von dem, was der Tod eines Kindes anrichtet mit der Mutter. Boy wurde von einem unfruchtbaren Paar, sie Psychiaterin, er global tätiger Entwicklungshelfer, als Baby in Afrika adoptiert. Aufgewachsen ist er in den Niederlanden als Einzelkind. Mit vierzehn verschwindet er eines Tages am Strand, und nach monatelanger Suche werden die Überreste des Jungen angeschwemmt; ob er den Tod im Meer suchte oder verunglückte, wird sich nicht mehr klären lassen. Aber die Psychiaterin kann es nicht ertragen, etwas ungeklärt zu lassen. Die Bemühung der Umgebung, vor allem des Ehemanns, wieder zum Alltag zurückzukehren, ist ihr unbegreiflich: "Der Kummer lässt sich anscheinend zähmen, von manchen Menschen zumindest. Mark brauchte dafür nur eine neue Terrasse mit Markise, während ich dachte, dass wir den Rest unseres Lebens in geschlossenen Räumen verbringen würden." Für sie ist noch mehr gestorben als Boy. Hier setzt der Roman ein.
Er besteht aus drei Teilen, und im letzten wechselt die Erzählstimme vom "ich" zum "du", als appellierte sie nur noch an sich selbst, weil ihr nunmehr gar keiner mehr zuhört. Da ist inzwischen aber auch eine zweite Person ins Spiel gekommen, Hannah, eine gehbehinderte junge Frau, die als Aushilfe für den Theaterunterricht an Boys Schule engagiert worden war und sich nach dem Verschwinden ihres Schülers nach Bulgarien abgesetzt hat, um dort als Aussteigerin ein neues Leben zu beginnen. Warum, das weiß die Erzählerin nicht. Sie weiß nur eines: Dort am anderen Ende des Kontinents sitzt die mutmaßlich Verantwortliche für den Tod ihres Sohnes. Auch diese Frau soll sterben.
Wer nun glaubt, "Boy" erzähle eine Krimihandlung, liegt falsch. Auch ein durch die Ausgangssituation - und die präzise Übersetzung durch Christiane Burkhardt - suggerierter Psychothriller wird nicht daraus, obwohl die Handlung nach zwei Dritteln auf ein klassisches Horrormotiv zusteuert: In einem isolierten Haus ist eine körperlich beeinträchtigte Person dem einzigen anderen Anwesenden schutzlos ausgeliefert. Wytske Versteeg spielt mit unseren Erwartungshaltungen aber von Beginn an. Schon der Titel des Romans führt in die Irre, denn es geht darin keineswegs um Boy, der ja schon tot ist, als die Erzählung beginnt. Nicht über ihn, den von seinen Mitschülern ausgegrenzten farbigen Jungen, erfahren wir auf den folgenden 230 Seiten wirklich Fundamentales und Erschütterndes übers Erwartbare hinaus, sondern über die Adoptivmutter und noch viel mehr über seine Lehrerin.
"Boy" liefert ein mitreißendes Psychogramm und zugleich eine mustergültige Gesellschaftsstudie - Versteeg ist Politologin - zum Versagen von Menschen angesichts des Leidens anderer an Hierarchien, und das auch noch in einer Institution wie der Schule, die für die Persönlichkeitsausbildung eine Bedeutung hat wie sonst nur die Familie. Irgendwann steht die Erzählerin auf dem Schulhof und sieht die Mitschüler ihres toten Sohnes, die vor seinem Verschwinden mit ihm zusammen waren: "Ich wusste, wie sein Gesicht ausgesehen hatte, als er zum ersten Mal in die Tiefe gesprungen war, ängstlich und stolz zugleich; wie er gelacht hatte, als er zum ersten Mal eine Schleife gebunden hatte. Sie dagegen waren bei ihm gewesen, als er das erste Mal starb." Eifersucht einer Adoptivmutter auf alle, die dem Kind näherkommen können als sie selbst - auch das ist ein Leitmotiv von "Boy". Aber immer weisen diese individuellen Defizite über die konkrete Figur hinaus. Das ist ein Verfahren, dem Versteeg auch in ihrem jüngsten Roman, dem erst kürzlich in den Niederlanden erschienenen "Quarantaine" über einen Schönheitschirurgen, der unter dem Eindruck der Liebe zu einer jungen Frau am eigenen Tun verzweifelt, treu bleibt.
Die Berufswahl von Versteegs Protagonisten ist programmatisch. Nachdem sich in "Boy" die Erzählerin das Vertrauen von Hannah weniger erschlichen als erschwiegen hat, tritt ihr ursprünglicher Tötungsplan trotz gelegentlichem Wiederaufflackern immer weiter zurück hinter ihrer vertrauten Rolle als Psychiaterin, die dem Gegenüber zuhört, um verschüttete Gefühle und Erinnerungen freizulegen. Hannah lässt sich auf dieses Spiel ein, womit sie sich scheinbar selbst ans Messer liefert. Aber in einem Roman, der alles anders macht, als man erwartet, ist natürlich auch der Schluss ein unerwarteter.
ANDREAS PLATTHAUS
Wytske Versteeg: "Boy".
Roman.
Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016. 238 S., br., 10,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schule als Lebensverformung: Wytske Versteegs Roman "Boy" arbeitet mit Genremotiven, hält aber viele Überraschungen parat.
In diesem Jahr braucht man sich nicht darum zu sorgen, dass der Ehrengast der Frankfurter Buchmesse literarisch wenig zu bieten hätte. Die Niederlande und Flandern haben eine Vielzahl von in Deutschland populären Schriftstellern hervorgebracht: Veteranen wie Cees Nooteboom, Hugo Claus, A. F. Th. van der Hejden, Margriet de Moor, Connie Palmen oder Harry Mulisch sowie in den letzten Jahren breit rezipierte Autoren wie Arnon Grünberg, J. J. Voskuil oder Leon de Winter. Man sieht schon: Bislang haben nur wenige niederländische oder flämische Schriftstellerinnen den Weg ins Herz des deutschen Publikums gefunden. Deshalb ist es verdienstvoll, dass der Wagenbach Verlag, der seit Jahren aus der Literatur des jeweiligen Ehrengastes eine kleine, aber wunderschön gestaltete Taschenbuchreihe erstellt, in seine diesmalige Auswahl von sechs Bänden niederländischer Autoren auch die Erstübersetzung eines Romans von Wytske Versteeg aufgenommen hat.
In "Boy", ihrem im Original 2013 erschienenen zweiten von bislang drei Romanen, erzählt die 1983 geborene Schriftstellerin aus der Sicht einer namenlosen Frau vom Tod ihres Kindes. Oder besser gesagt: von dem, was der Tod eines Kindes anrichtet mit der Mutter. Boy wurde von einem unfruchtbaren Paar, sie Psychiaterin, er global tätiger Entwicklungshelfer, als Baby in Afrika adoptiert. Aufgewachsen ist er in den Niederlanden als Einzelkind. Mit vierzehn verschwindet er eines Tages am Strand, und nach monatelanger Suche werden die Überreste des Jungen angeschwemmt; ob er den Tod im Meer suchte oder verunglückte, wird sich nicht mehr klären lassen. Aber die Psychiaterin kann es nicht ertragen, etwas ungeklärt zu lassen. Die Bemühung der Umgebung, vor allem des Ehemanns, wieder zum Alltag zurückzukehren, ist ihr unbegreiflich: "Der Kummer lässt sich anscheinend zähmen, von manchen Menschen zumindest. Mark brauchte dafür nur eine neue Terrasse mit Markise, während ich dachte, dass wir den Rest unseres Lebens in geschlossenen Räumen verbringen würden." Für sie ist noch mehr gestorben als Boy. Hier setzt der Roman ein.
Er besteht aus drei Teilen, und im letzten wechselt die Erzählstimme vom "ich" zum "du", als appellierte sie nur noch an sich selbst, weil ihr nunmehr gar keiner mehr zuhört. Da ist inzwischen aber auch eine zweite Person ins Spiel gekommen, Hannah, eine gehbehinderte junge Frau, die als Aushilfe für den Theaterunterricht an Boys Schule engagiert worden war und sich nach dem Verschwinden ihres Schülers nach Bulgarien abgesetzt hat, um dort als Aussteigerin ein neues Leben zu beginnen. Warum, das weiß die Erzählerin nicht. Sie weiß nur eines: Dort am anderen Ende des Kontinents sitzt die mutmaßlich Verantwortliche für den Tod ihres Sohnes. Auch diese Frau soll sterben.
Wer nun glaubt, "Boy" erzähle eine Krimihandlung, liegt falsch. Auch ein durch die Ausgangssituation - und die präzise Übersetzung durch Christiane Burkhardt - suggerierter Psychothriller wird nicht daraus, obwohl die Handlung nach zwei Dritteln auf ein klassisches Horrormotiv zusteuert: In einem isolierten Haus ist eine körperlich beeinträchtigte Person dem einzigen anderen Anwesenden schutzlos ausgeliefert. Wytske Versteeg spielt mit unseren Erwartungshaltungen aber von Beginn an. Schon der Titel des Romans führt in die Irre, denn es geht darin keineswegs um Boy, der ja schon tot ist, als die Erzählung beginnt. Nicht über ihn, den von seinen Mitschülern ausgegrenzten farbigen Jungen, erfahren wir auf den folgenden 230 Seiten wirklich Fundamentales und Erschütterndes übers Erwartbare hinaus, sondern über die Adoptivmutter und noch viel mehr über seine Lehrerin.
"Boy" liefert ein mitreißendes Psychogramm und zugleich eine mustergültige Gesellschaftsstudie - Versteeg ist Politologin - zum Versagen von Menschen angesichts des Leidens anderer an Hierarchien, und das auch noch in einer Institution wie der Schule, die für die Persönlichkeitsausbildung eine Bedeutung hat wie sonst nur die Familie. Irgendwann steht die Erzählerin auf dem Schulhof und sieht die Mitschüler ihres toten Sohnes, die vor seinem Verschwinden mit ihm zusammen waren: "Ich wusste, wie sein Gesicht ausgesehen hatte, als er zum ersten Mal in die Tiefe gesprungen war, ängstlich und stolz zugleich; wie er gelacht hatte, als er zum ersten Mal eine Schleife gebunden hatte. Sie dagegen waren bei ihm gewesen, als er das erste Mal starb." Eifersucht einer Adoptivmutter auf alle, die dem Kind näherkommen können als sie selbst - auch das ist ein Leitmotiv von "Boy". Aber immer weisen diese individuellen Defizite über die konkrete Figur hinaus. Das ist ein Verfahren, dem Versteeg auch in ihrem jüngsten Roman, dem erst kürzlich in den Niederlanden erschienenen "Quarantaine" über einen Schönheitschirurgen, der unter dem Eindruck der Liebe zu einer jungen Frau am eigenen Tun verzweifelt, treu bleibt.
Die Berufswahl von Versteegs Protagonisten ist programmatisch. Nachdem sich in "Boy" die Erzählerin das Vertrauen von Hannah weniger erschlichen als erschwiegen hat, tritt ihr ursprünglicher Tötungsplan trotz gelegentlichem Wiederaufflackern immer weiter zurück hinter ihrer vertrauten Rolle als Psychiaterin, die dem Gegenüber zuhört, um verschüttete Gefühle und Erinnerungen freizulegen. Hannah lässt sich auf dieses Spiel ein, womit sie sich scheinbar selbst ans Messer liefert. Aber in einem Roman, der alles anders macht, als man erwartet, ist natürlich auch der Schluss ein unerwarteter.
ANDREAS PLATTHAUS
Wytske Versteeg: "Boy".
Roman.
Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016. 238 S., br., 10,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main