Brandhagen, ein norddeutsches Dorf in den späten 1960er und 1970er Jahren: Hier herrscht eine Welt der selbstzufriedenen Abgeschlossenheit, in der die Alteingesessenen das Sagen haben und sich mit stoischer Arroganz gegen jeden Einfluss von außen wehren. Der Ich-Erzähler wächst in einer Familie auf, die von exzentrischen Frauen regiert wird, der geliebten, aber tyrannischen Großmutter, der rechthaberischen Tante Alma, dem Hausmädchen Erdmute. Es ist eine Welt, in der die verblichene Bürgertradition gegen alle Zeitströmungen und gegen jeden wirtschaftlichen Abstieg hochgehalten wird. Doch mit der Rückkehr von Tante Lise und ihrem unehelichen Kind Krystina treten erste Risse in diese Fassade. Lise, die vor langem aus dem Haus getrieben wurde, stört die Familienharmonie. Mit ihr hält eine neue Welt in Brandhagen Einzug, die sich über die alte Moral hinwegsetzt. Hinrich von Haarens Entwicklungs- und Gesellschaftsroman steht stellvertretend für das, was wir alle erleben, wenn der Moment der Kindheit bricht: die erste Erfahrung des Betrugs, des Selbstbetrugs, der Trauer, des Schmerzes. Ein feinfühliges und mitreißendes Zeitporträt, das mittels dieser Grunderfahrungen über seine Zeit hinausweist.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.07.2013KURZKRITIK
Risse in der
Dorfgesellschaft
Hinrich von Haaren erzählt von
einer Kindheit auf dem Lande
Es kann übel ausgehen, wenn allzu erwachsene Schriftsteller versuchen, sich in die Welt eine Kindes zurück zu versetzen. Dann wird der ach so kindliche Blick wahlweise zum Vorwand für Süßliches, Banalitäten oder auch für Grausamkeiten. Doch es gibt Autoren, denen es gelingt, das intensive, verwirrende Erleben jener Zeit weiterhin ernst nehmen, vielleicht solche, die sich bis heute nicht dagegen abgeschottet haben. Zu ihnen gehört Hinrich von Haaren. Sein Roman „Brandhagen“ schildert eine Dorfkindheit und -jugend in den Sechziger- und Siebzigerjahren in Norddeutschland, einfühlsam, amüsant und angenehm parteiisch – immer auf Seiten des Individuums innerhalb der Zwangskollektive Familie, Kindergarten, Schule, Dorf.
Von Haaren erlaubt seinem Ich-Erzähler eine eigenwillige, distanzlose Sprache. Mal scheint sie hastig erregt mit ihm davon zu galoppieren, mal stockt sie und tritt auf der Stelle, wenn die deprimierende Ausweglosigkeit des Dorfkosmos besonders schwer auf den schmalen Schultern lastet. Unbedarft und grenzenlos neugierig erkundet der schmächtige, eigenbrötlerische Erzähler alles, was das dröge Brandhagen zu bieten hat.
Der religiöse Fanatismus der Lehrerin wird ebenso ungefiltert beobachtet und bewundert wie die Essenszubereitung, das seltsame Verhalten geschlechtsreifer Dörfler oder die Dogmen der Großmutter. Noch herrscht eine strenge, selbstgerechten Bürgerlichkeit im Ort, doch sie bekommt erste Risse. Während sich die Erzählweise formwandlerisch an jedes Gefühlsextrem des Erzählers anzuschmiegen scheint, bleibt trotzdem immer eine zweite, analytische Ebene. So werden Zeitdiagnose und jugenhafter Zorn ganz zauberhaft eins und weisen weit über das „Panorama einer kleinen Gesellschaft“ hinaus.
CORNELIA FIEDLER
Hinrich von Haaren: Brandhagen. Panorama einer kleinen Gesellschaft. Roman. Verlag luftschacht, Wien 2012. 300 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Risse in der
Dorfgesellschaft
Hinrich von Haaren erzählt von
einer Kindheit auf dem Lande
Es kann übel ausgehen, wenn allzu erwachsene Schriftsteller versuchen, sich in die Welt eine Kindes zurück zu versetzen. Dann wird der ach so kindliche Blick wahlweise zum Vorwand für Süßliches, Banalitäten oder auch für Grausamkeiten. Doch es gibt Autoren, denen es gelingt, das intensive, verwirrende Erleben jener Zeit weiterhin ernst nehmen, vielleicht solche, die sich bis heute nicht dagegen abgeschottet haben. Zu ihnen gehört Hinrich von Haaren. Sein Roman „Brandhagen“ schildert eine Dorfkindheit und -jugend in den Sechziger- und Siebzigerjahren in Norddeutschland, einfühlsam, amüsant und angenehm parteiisch – immer auf Seiten des Individuums innerhalb der Zwangskollektive Familie, Kindergarten, Schule, Dorf.
Von Haaren erlaubt seinem Ich-Erzähler eine eigenwillige, distanzlose Sprache. Mal scheint sie hastig erregt mit ihm davon zu galoppieren, mal stockt sie und tritt auf der Stelle, wenn die deprimierende Ausweglosigkeit des Dorfkosmos besonders schwer auf den schmalen Schultern lastet. Unbedarft und grenzenlos neugierig erkundet der schmächtige, eigenbrötlerische Erzähler alles, was das dröge Brandhagen zu bieten hat.
Der religiöse Fanatismus der Lehrerin wird ebenso ungefiltert beobachtet und bewundert wie die Essenszubereitung, das seltsame Verhalten geschlechtsreifer Dörfler oder die Dogmen der Großmutter. Noch herrscht eine strenge, selbstgerechten Bürgerlichkeit im Ort, doch sie bekommt erste Risse. Während sich die Erzählweise formwandlerisch an jedes Gefühlsextrem des Erzählers anzuschmiegen scheint, bleibt trotzdem immer eine zweite, analytische Ebene. So werden Zeitdiagnose und jugenhafter Zorn ganz zauberhaft eins und weisen weit über das „Panorama einer kleinen Gesellschaft“ hinaus.
CORNELIA FIEDLER
Hinrich von Haaren: Brandhagen. Panorama einer kleinen Gesellschaft. Roman. Verlag luftschacht, Wien 2012. 300 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein bisschen erinnert dieser Roman mit seinem verstockten Personal den Rezensenten an Storm, mehr aber noch an Fellinis Coming-of-Age-Geschichten. Nur dass der Erzähler in einem Kaff an der Nordsee aufwächst, Zeit: 60er, 70er Jahre. Die Rolle des stillen, spätzündenden Lauschers nimmt Hans Hütt der Figur ab. Ebenso den von ihr beobachteten Verfall bürgerlicher Lebensformen. Wie Hinrich von Haaren den Ich-Erzähler zum Resonanzkörper für falsche Töne und stillen Verfall aufbaut, überzeugt den Rezensenten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2013Stille Brüter an der Nordsee
Hinrich von Haarens Roman "Brandhagen"
Marschen, Moore, Kanäle, ein See, Weißdornhecken und ein so oft so tief über dem flachen Land hängender trüber Himmel prägen die Landschaft. "Wer diesen Landstrich zur Besiedlung freigegeben hat, gehört erschossen", sagt der Vater des Ich-Erzählers. Das verspricht trübe Gemüter und verstockte Figuren in später Nachfolge Theodor Storms. Tatsächlich erinnert Hinrich von Haarens Roman "Brandhagen" aber eher an Fellinis Film "Amarcord", nur dass die Coming-of-Age-Geschichte ihren Schauplatz nicht an der Adria und Mitte der dreißiger Jahre findet, sondern in den sechziger und frühen siebziger Jahren im Hinterland der Nordsee. Von Haaren erzählt die Kindheit eines zweifelhaften Jungen aus gutem Hause. Die Eltern betreiben einen Haushaltswarenladen mit Porzellan und Nippes.
Der Ich-Erzähler ist ein spätgeborenes Einzelkind, das wie Vater und Großvater ein stiller Brüter zu werden verspricht. Die Frauen haben hier das Sagen: Die herrische Großmutter steht im steten diskreten Zwist mit der Mutter, einer Pastorentochter, während die Männer in der Werkstatt zerbrochenes Porzellan kitten.
Der Junge ist schwach geraten, ein Spätentwickler, Sorgenkind der Eltern, Liebling der Großmutter. Früh entwickelt er seinen Eltern verborgen bleibende Talente. Versuche, ihn durch Kindergarten und sportliche Ertüchtigung auf den richtigen Weg zu bringen, schlagen fehl, denn er weiß sich mit Hilfe der Großmutter allen Normalisierungsversuchen zu entziehen, obwohl sie ihm erzählt, wie sie über den Säugling dachte: "Gleich am ersten Tag habe ich gewusst, dass du für den Handel nicht taugst. Du hattest etwas Lahmes im Gesicht."
Was bleibt dem Kleinen übrig, als in dieser harten, kalten Welt die eigenen Stärken im Verborgenen zu entwickeln? Erst ist er bloß gefräßig und schleicht sich spätabends in die Küche. Bald aber entwickelt er in der Rolle des Lauschers ein scharfes Gehör und verfügt über ein Näschen, das er mit Vorliebe in Sachen steckt, die ihn nichts angehen, wie die Briefe und Unterwäsche des Hausmädchens oder die schmutzigen Geheimnisse der Bürgerfamilien in Brandhagen.
Die Nase des Erzählers bringt ihn stets auf Abwege. Mit ihr wittert er feine und weniger feine Unterschiede. Sie lehrt ihn den Ekel vor dem Lieblingsgericht des stillen Vaters, der "Schwarzsauer"-Blutsuppe. Mit ihr schnuppert er an der tüchtigen Cousine Alexandra, dem Hausmädchen und den Spielkameraden. Sie trägt ihm Prügel von der Mutter ein.
Der Junge erkundet wie ein Alien den Verfall des bürgerlichen Anstands. Die Wörter, mit denen Großmutter und Mutter feine Unterschiede markieren, verhelfen ihm zu einem absoluten Gehör für falsche Töne und Gebote, verwandeln den Jungen in einen überaus aufmerksamen Beobachter mit einem gut entwickelten Sinn fürs Komische: für die Klatschsucht der Schreibwarenhändlerin, die er mit erfundenen häuslichen Katastrophen versorgt, für die hypochondrische Lehrerin, die den Jungen in religiösen Wahn versetzt, für die geschäftstüchtige Inhaberin des Modegeschäfts, die der Mutter für den jährlichen "Grünen Abend" die irrsten Roben andreht, für die Gelüste der Asta von Merk, die erst den Cousin und später dessen Vater verführt.
Die selbstgerechte Gewissheit der Erwachsenen, auf der richtigen Seite zu sein, lebt vom Raunen über gefallene Existenzen, die "auf der Etage" leben. Zu denen gehört Tante Lise, die als spätes Mädchen Opfer eines Heiratsschwindlers wurde und dann alleinerziehende Mutter, die nach Jahren "auf der Etage" zurück in den Schoß der Familie kehrt, als ihre Tochter Krystina und der Ich-Erzähler eingeschult werden. Hinrich von Haarens Roman führt den Leser in eine Welt, die wie nach Jahrhunderten des Überdauerns dabei ist sich aufzulösen. Sein Außenseiter wird zu einem Resonanzkörper für die Mikrobeben, die diese Welt erschüttern. In ihr erwacht ein Fremder, der mit den Füßen scharrt, um das Weite zu suchen.
HANS HÜTT
Hinrich von Haaren: "Brandhagen". Roman. Luftschacht Verlag, Wien 2012. 293 S., geb., 22,40 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hinrich von Haarens Roman "Brandhagen"
Marschen, Moore, Kanäle, ein See, Weißdornhecken und ein so oft so tief über dem flachen Land hängender trüber Himmel prägen die Landschaft. "Wer diesen Landstrich zur Besiedlung freigegeben hat, gehört erschossen", sagt der Vater des Ich-Erzählers. Das verspricht trübe Gemüter und verstockte Figuren in später Nachfolge Theodor Storms. Tatsächlich erinnert Hinrich von Haarens Roman "Brandhagen" aber eher an Fellinis Film "Amarcord", nur dass die Coming-of-Age-Geschichte ihren Schauplatz nicht an der Adria und Mitte der dreißiger Jahre findet, sondern in den sechziger und frühen siebziger Jahren im Hinterland der Nordsee. Von Haaren erzählt die Kindheit eines zweifelhaften Jungen aus gutem Hause. Die Eltern betreiben einen Haushaltswarenladen mit Porzellan und Nippes.
Der Ich-Erzähler ist ein spätgeborenes Einzelkind, das wie Vater und Großvater ein stiller Brüter zu werden verspricht. Die Frauen haben hier das Sagen: Die herrische Großmutter steht im steten diskreten Zwist mit der Mutter, einer Pastorentochter, während die Männer in der Werkstatt zerbrochenes Porzellan kitten.
Der Junge ist schwach geraten, ein Spätentwickler, Sorgenkind der Eltern, Liebling der Großmutter. Früh entwickelt er seinen Eltern verborgen bleibende Talente. Versuche, ihn durch Kindergarten und sportliche Ertüchtigung auf den richtigen Weg zu bringen, schlagen fehl, denn er weiß sich mit Hilfe der Großmutter allen Normalisierungsversuchen zu entziehen, obwohl sie ihm erzählt, wie sie über den Säugling dachte: "Gleich am ersten Tag habe ich gewusst, dass du für den Handel nicht taugst. Du hattest etwas Lahmes im Gesicht."
Was bleibt dem Kleinen übrig, als in dieser harten, kalten Welt die eigenen Stärken im Verborgenen zu entwickeln? Erst ist er bloß gefräßig und schleicht sich spätabends in die Küche. Bald aber entwickelt er in der Rolle des Lauschers ein scharfes Gehör und verfügt über ein Näschen, das er mit Vorliebe in Sachen steckt, die ihn nichts angehen, wie die Briefe und Unterwäsche des Hausmädchens oder die schmutzigen Geheimnisse der Bürgerfamilien in Brandhagen.
Die Nase des Erzählers bringt ihn stets auf Abwege. Mit ihr wittert er feine und weniger feine Unterschiede. Sie lehrt ihn den Ekel vor dem Lieblingsgericht des stillen Vaters, der "Schwarzsauer"-Blutsuppe. Mit ihr schnuppert er an der tüchtigen Cousine Alexandra, dem Hausmädchen und den Spielkameraden. Sie trägt ihm Prügel von der Mutter ein.
Der Junge erkundet wie ein Alien den Verfall des bürgerlichen Anstands. Die Wörter, mit denen Großmutter und Mutter feine Unterschiede markieren, verhelfen ihm zu einem absoluten Gehör für falsche Töne und Gebote, verwandeln den Jungen in einen überaus aufmerksamen Beobachter mit einem gut entwickelten Sinn fürs Komische: für die Klatschsucht der Schreibwarenhändlerin, die er mit erfundenen häuslichen Katastrophen versorgt, für die hypochondrische Lehrerin, die den Jungen in religiösen Wahn versetzt, für die geschäftstüchtige Inhaberin des Modegeschäfts, die der Mutter für den jährlichen "Grünen Abend" die irrsten Roben andreht, für die Gelüste der Asta von Merk, die erst den Cousin und später dessen Vater verführt.
Die selbstgerechte Gewissheit der Erwachsenen, auf der richtigen Seite zu sein, lebt vom Raunen über gefallene Existenzen, die "auf der Etage" leben. Zu denen gehört Tante Lise, die als spätes Mädchen Opfer eines Heiratsschwindlers wurde und dann alleinerziehende Mutter, die nach Jahren "auf der Etage" zurück in den Schoß der Familie kehrt, als ihre Tochter Krystina und der Ich-Erzähler eingeschult werden. Hinrich von Haarens Roman führt den Leser in eine Welt, die wie nach Jahrhunderten des Überdauerns dabei ist sich aufzulösen. Sein Außenseiter wird zu einem Resonanzkörper für die Mikrobeben, die diese Welt erschüttern. In ihr erwacht ein Fremder, der mit den Füßen scharrt, um das Weite zu suchen.
HANS HÜTT
Hinrich von Haaren: "Brandhagen". Roman. Luftschacht Verlag, Wien 2012. 293 S., geb., 22,40 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main