Brasilianischer Fußball als Gegenstand der Wissenschaft Brasilien und der Fußball bilden eine außergewöhnliche, in ihrer Vielfalt und Faszination einzigartige Verbindung. Jede kulturelle und sprachliche Erfahrung in und mit Brasilien wird früher oder später auch vom Fußball erfüllt, sei es in Gesprächen, in den Medien, in unterschiedlichsten Bildsprachen und Symbolsystemen, sei es in der Präsenz des Spiels und seiner Mythen in so gut wie allen Lebensbereichen. Diese Faszination ist weit davon entfernt, pittoreskes Beiwerk oder naive Exotik zu sein. Sie hat tief gehende, in großen Teilen problematische, konfliktive und sogar bis heute schmerzende Ursprünge in der Geschichte Brasiliens und seiner Menschen. Die Geschichte des Fußballs in Brasilien steht in enger Wechselwirkung mit der Geschichte des Landes; soziale und politische Konflikte und Entwicklungen fanden ihr Abbild im Spiel auf dem Rasen und außerhalb der Stadien: Erfolge, Niederlagen und Skandale im Fußball hatten nicht selten unmittelbare oder mittelbare Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft. So ist es naheliegend, dass die Sprache von Ausdrücken, Bildern und Analogien des Ballspiels erfüllt ist, dass historisch begründete Ausdrucksweisen in die Fußballsprache Einzug gehalten haben. Kulturelle Phänomene und Ausdrucksformen wie Literatur, Film und Bildende Kunst beschäftigen sich immer wieder und intensiv mit dem Ballspiel auf dem grünen Rasen, und nicht zuletzt wird bis heute die ideale Spielweise als Ausdruck des brasilianischen Wesens – der brasilidade – als „Kunst“ angesehen und als „futebol-arte“ bezeichnet. In Brasilien besitzt Fußball eine derart große und außerordentliche gesellschaftliche Bedeutung, dass Triumphe und Tragödien auf der nationalen wie internationalen Bühne des Spiels weit mehr beinhalten als die rein anekdotische Dimension, die man ihnen oft zuschreibt. Die Aspekte, anhand derer man diesen Zusammenhang anschaulich machen kann, sind zahllos. Betrachtet man die Gegenwart des brasilianischen Fußballs, so werden Probleme sichtbar, die mehr oder weniger unmittelbar mit gesamtgesellschaftlichen Konfliktlinien verbunden sind. So leidet auch der brasilianische Fußball seit geraumer Zeit unter einer zunehmenden und immer stärker organisierten Gewalt innerhalb bestimmter Fangruppierungen. Dieses Phänomen ist eng verwoben mit der weiterhin extremen Armut weiter Bevölkerungsteile und mit der mächtigen Drogenkriminalität. Die Korruption, die alle Verbände und Ligen durchzieht, ist ein trauriges Abbild des wirtschaftlichen und vor allem auch politischen Systems im Lande. Nicht zufällig entlud sich mit den 2013 während des Konföderationen-Cups international wahrgenommenen Protesten gegen die Ausrichtung der Weltmeisterschaft 2014 auch ganz deutlich die Wut und Enttäuschung der Brasilianer gegenüber ihrer korrupten politischen Elite. Und nicht zuletzt die Qualität des brasilianischen Fußballs selbst leidet zusehends an den strukturellen Schwächen und der Kurzsichtigkeit seiner Organisation. Immer mehr Profivereine drehen sich in einer endlosen Schuldenspirale und retten sich immer wieder kurzfristig durch den Verkauf talentierter – und immer jüngerer – Spieler ins Ausland, vor allem nach Europa. Vereine bzw. Lizenzinhaber der Spieler, internationale Spielervermittler und Funktionäre verdienen gut an diesem überhitzten Markt, der Talente für Europa heranzieht, wo sie dann „veredelt“ werden. Dieses System redupliziert auf absurde Weise die Logik der kolonialen und postkolonialen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Industrienationen und ihren Rohstofflieferanten im globalen Süden (vgl. Jönsson 2006, Rial 2008). Währenddessen sinkt das spielerische – technische wie taktische – Niveau der nationalen Wettbewerbe immer weiter, und mittlerweile sehen es die Fachpresse wie auch allgemein Fußballinteressierte allenfalls auf dem der zweiten Bundesliga in Deutschland. All diese Missstände und Entwicklungen haben historische Ursachen, die man in gleicher Weise sowohl in der politischen, ökonomischen wie sozio-kulturellen Sphäre Brasiliens wie eben auch in der des Fußballs nachverfolgen kann. An dieser Stelle soll ein kurzes Beispiel vorgestellt werden, dass für die Geschichte Brasiliens wie die seines Fußballs im 20. Jahrhundert von grundlegender Bedeutung ist: die Wechselwirkung von Fußball und nationaler Selbstwahrnehmung. Die Anfänge eines professionellen Spielbetriebs in Brasilien Ende der 1920er Jahre gingen einher mit tiefgreifenden Konflikten um die Öffnung des 1896 von den Engländern übernommenen „vornehmen“ und zudem europäischen und „weißen“ Sports für farbige Spieler. Auch außerhalb Brasiliens ist die Absurdität bekannt, dass der Fluminense Club de Football in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zwar farbige – und dabei möglichst hellhäutige – Spieler duldete, sie aber dazu zwang, sich vor dem Auflaufen die Haare glatt zu pomadieren und die sichtbaren Hautpartien mit Reismehl aufzuhellen. Bis heute werden der Verein und seine Anhänger von Rivalen despektierlich „pó-de-arroz“ – Reismehl – genannt. Auch bei anderen Vereinen mussten Weltklasse-Spieler wie Arthur Friedenreich – Sohn eines deutschen Einwanderers und einer Afrobrasilianerin, Brasiliens erster wahrer Ausnahmespieler und ewiger Rekordtorschütze – diese Erniedrigung über sich ergehen lassen. Vereine, die aus sportlichen Gründen und / oder aus menschlicher Überzeugung farbige Fußballer aus den armen Gesellschaftsschichten aufnahmen, sahen sich offenen und verdeckten Sanktionen durch das Establishment ausgesetzt. So im Falle von Bangu in Rio de Janeiro, der sich das Verdienst zuschreiben kann, als erster Verein Brasiliens bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auch farbige Fabrikarbeiter in seiner Werksmannschaft aufgestellt zu haben. Vasco da Gama, der „portugiesische“ Verein in der Stadt, machte farbige Spieler zu Angestellten, bot ihnen Schreibkurse an, damit sie entsprechend den Forderungen des Ligaverbands von Rio de Janeiro wenigstens ihren Namen schreiben konnten, und wurde nach dem Gewinn der Rio-Meisterschaft 1923 mit der fadenscheinigen Begründung vom Wettbewerb ausgeschlossen, kein eigenes Stadion zu besitzen. Mit den ersten Auftritten brasilianischer Vereins- und Nationalmannschaften in Europa in den 1930er Jahren wandelte sich angesichts der euphorischen Reaktionen der als so viel moderner und zivilisierter geltenden Europäer das Selbstbild Brasiliens im und durch den Fußball signifikant. Fußball wurde zu einem offiziellen Aushängeschild und Image-Werkzeug der Nation, an dem auch Sozialwissenschaftler wie Gilberto Freyre tatkräftig mitwirkten. Die wachsende Wahrnehmung und Anerkennung Brasiliens auf der internationalen Bühne dank des Fußballs ging einher mit einem zunehmenden Selbstbewusstsein als Nation. Diese positive Selbstwahrnehmung, die außerhalb des Sports von intensiven Modernisierungsbemühungen insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg genährt wurde, sollte mit der Austragung und dem Gewinn der Weltmeisterschaft von 1950 ihre endgültige Weihe vor den Augen der Welt erfahren. Beschäftigt man sich kulturhistorisch etwas eingehender mit der traumatischen Niederlage Brasiliens gegen Uruguay im letzten Spiel im vollbesetzten und eigens für das Turnier und den erwarteten Weltmeistertitel erbauten Maracanã, wird der Zusammenhang von Fußball und nationaler Befindlichkeit in Brasilien auf dramatische Weise deutlich. Der verpasste und dabei sicher geglaubte Titel beschädigte das Selbstvertrauen der Nation über den Sport hinaus auf lange Sicht. Die Niederlage im „falschen“ Finale – es handelte sich lediglich um das letzte Spiel der zweiten Gruppenphase, Brasilien hätte ein Unentschieden zum Titelgewinn gereicht – ließ den Mythos von der brasilianischen „Rassendemokratie“ unversehens kollabieren, die Sündenböcke für die zuvor undenkbare Niederlage waren nicht zufällig die farbigen Spieler der Nationalmannschaft. Torwart Moacyr Barbosa, dem Alcides Ghiggias Schuss aus spitzem Winkel zum tragischen 1:2 für Uruguay durch die Arme glitt, sagte noch Jahrzehnte später, im Gegensatz zu ihm könnte jeder Mörder Gnadengesuche einreichen und Strafminderung erhalten. Dass Brasilien bei seiner zweiten Heim-WM eine erneute „historische Tragödie“ erlebte, mutet an wie eine tragische Ironie des Schicksals. Und dass auch Deutschland mit dem bis heute unglaublichen 7:1 im Halbfinale gegen die Gastgeber unmittelbar an diesem neuen historischen Kapitel beteiligt war und für sich selbst mit dem 1:0 Finalsieg gegen Argentinien seiner WM-Geschichte einen vierten Stern hinzufügen konnte, ist aus deutscher Sicht umso erfreulicher. Doch erweist sich mit etwas zeitlichem Abstand gerade auch die erschütternde Niederlage in Belo Horizonte wie der gesamte unschöne Turnierverlauf für den Gastgeber als Anlass für neue Einblicke nicht nur in die brasilianische Fußballseele, sondern auch in die schweren Konflikte, die das zu Beginn des 21. Jahrhunderts boomende Schwellenland durchziehen und teilweise vor bisher ungekannte Herausforderungen stellen. Die Geisteswissenschaften haben in Brasilien schon lange die Scheu vor dem Fußball als Forschungsgegenstand abgelegt und interessante Studien hervorgebracht, die tiefe und vielschichtige Einblicke in die brasilianische Geschichte, Gesellschaft und Sprache ermöglichen. Fußball ist auch in der Geisteswissenschaft zu einer zentralen Chiffre für ein Verständnis Brasiliens geworden. Auch in Deutschland bewegen sich die Sozial- und Geisteswissenschaften seit einiger Zeit stärker auf das Spiel mit dem runden Leder zu. Es ist wenig überraschend, dass neben der großen Mehrheit sozialwissenschaftlicher Untersuchungen zur deutschen Fußball- und Fankultur im Bereich der Kultur-, Literatur- und Sprachwissenschaften vor allen solche Wissensbereiche produktiv sind, die sich mit besonders fußballbegeisterten Kultur- und Sprachräumen wie Lateinamerika beschäftigen.