Während seiner Arbeit an den "Traurigen Tropen" fotografierte Levi-Strauss die indianische Bevölkerung des brasilianischen Amazonasgebiets. In ihrer Schönheit und Glaubwürdigkeit dokumentieren diese Aufnahmen die Lebenskultur mittlerweile untergegangener Völker und bleiben das Vermächtnis eines großen Gelehrten, der gegen die Zerstörung den "Regenbogen der menschlichen Kulturen" in der Erinnerung bewahren will.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1995Wir sind allesamt Indianer: Lévi-Strauss in Brasilien
Einen "freundlichen und wehmütigen Gruß" hat Claude Lévi-Strauss den Bildband genannt, der hundertachtzig Fotos aus seinen brasilianischen Jahren versammelt: einen Gruß an die damaligen Einwohner Brasiliens und an "meine ferne Jugend". Der Ethnologe war noch keine dreißig Jahre alt, als er 1935 an die Universität São Paulo berufen wurde; die vier Jahre in Brasilien hat er zu ausgedehnten Feldforschungen bei den Indianern im Landesinneren genutzt. Als er Mitte der fünfziger Jahre die "Traurigen Tropen" veröffentlichte, waren darin auch einige Fotos enthalten, die, eher knapp bemessen, den Text illustrierten. Der neue Bildband kehrt das Verhältnis um: Der Text beschränkt sich auf das Nötigste, die zahlreichen Aufnahmen dürfen sich weiträumig entfalten und werden großzügig präsentiert.
Die Auswahl läßt die universelle Neugier des Forschers spüren: Die Großstadtbewohner sind ihm fast ebenso wichtig wie die Indianer des Urwaldes, die Landschaften oder auch die Tiere. Die Aufnahme mit der Beschriftung "Einmal töteten wir eine weibliche Boa von sieben Metern Länge, die unmittelbar vor der Geburt ihrer Jungen stand" gehört wohl zu den schockierendsten des Buches: ein surrealistisches Tableau. Wie aus einem Buñuel-Film wirkt auch die Straßenszene mit einem vielleicht acht Jahre alten Jungen, der, stolz in die Kamera blickend, Haltung angenommen hat und die Hand zum Faschistengruß erhebt. Die Gegend dort, notiert Lévi-Strauss, sei "altes deutsches Kolonialgebiet, dessen Besiedlung bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreicht. Daher der Erfolg der Integralistas, einer faschistischen brasilianischen Partei".
Das Vorwort betont dramatisch den Abstand, der sich mittlerweile zur vergleichsweise idyllischen Perspektive von 1935 ergeben hat: "Es waren die unglückseligen, von der westlichen Expansion bedrohten exotischen Kulturen, deren Verteidigung meine Ethnologen-Kollegen und ich uns widmen zu müssen glaubten." Inzwischen jedoch bedrohen wir uns selbst: "Kulturell enteignet und der Werte beraubt, denen wir uns verbunden fühlten - Reinheit von Wasser und Luft, Wohltaten der Natur, Vielzahl und Verschiedenheit der Tier- und Pflanzenarten -, sind wir fortan allesamt Indianer, im Begriff, uns selbst zu dem zu machen, was wir aus ihnen gemacht haben."
Eine Überraschung ist die fast professionelle Qualität der Fotografien. "Ich halte mich nicht für einen Fotografen", betont der Autor zwar, aber er räumt dann doch ein, daß er als Kind schon einen Fotografen bei der Arbeit beobachten konnte: seinen Vater, der als Kunstmaler den Brauch pflegte, seine Modelle bildmäßig aufzunehmen. Nicht zuletzt aber waren die fotografischen Anfänge von Lévi-Strauss befeuert durch den Enthusiasmus der noch jungen Leica-Epoche. Die lichtstarke und tiefenscharfe Kleinbildkamera hatte endlich den Wunsch nach "schnellem", tagebuchartigem Fotografieren wahrgemacht. Einige dekorative Bildseiten reproduzieren Ausschnitte aus dem Tagebuch des Forschers: Notizen, die immer wieder durch präzis gezeichnete Skizzen verlebendigt werden. Als präzise Tagebuchskizzen waren auch die dreitausend Fotografien gemeint, aus denen diese Auswahl zusammengestellt wurde. W. W.
Claude Lévi-Strauss: "Brasilianisches Album". Carl Hanser Verlag, München 1995. 234 S., zahlr. Tafeln und eine Karte, geb., 89,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einen "freundlichen und wehmütigen Gruß" hat Claude Lévi-Strauss den Bildband genannt, der hundertachtzig Fotos aus seinen brasilianischen Jahren versammelt: einen Gruß an die damaligen Einwohner Brasiliens und an "meine ferne Jugend". Der Ethnologe war noch keine dreißig Jahre alt, als er 1935 an die Universität São Paulo berufen wurde; die vier Jahre in Brasilien hat er zu ausgedehnten Feldforschungen bei den Indianern im Landesinneren genutzt. Als er Mitte der fünfziger Jahre die "Traurigen Tropen" veröffentlichte, waren darin auch einige Fotos enthalten, die, eher knapp bemessen, den Text illustrierten. Der neue Bildband kehrt das Verhältnis um: Der Text beschränkt sich auf das Nötigste, die zahlreichen Aufnahmen dürfen sich weiträumig entfalten und werden großzügig präsentiert.
Die Auswahl läßt die universelle Neugier des Forschers spüren: Die Großstadtbewohner sind ihm fast ebenso wichtig wie die Indianer des Urwaldes, die Landschaften oder auch die Tiere. Die Aufnahme mit der Beschriftung "Einmal töteten wir eine weibliche Boa von sieben Metern Länge, die unmittelbar vor der Geburt ihrer Jungen stand" gehört wohl zu den schockierendsten des Buches: ein surrealistisches Tableau. Wie aus einem Buñuel-Film wirkt auch die Straßenszene mit einem vielleicht acht Jahre alten Jungen, der, stolz in die Kamera blickend, Haltung angenommen hat und die Hand zum Faschistengruß erhebt. Die Gegend dort, notiert Lévi-Strauss, sei "altes deutsches Kolonialgebiet, dessen Besiedlung bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreicht. Daher der Erfolg der Integralistas, einer faschistischen brasilianischen Partei".
Das Vorwort betont dramatisch den Abstand, der sich mittlerweile zur vergleichsweise idyllischen Perspektive von 1935 ergeben hat: "Es waren die unglückseligen, von der westlichen Expansion bedrohten exotischen Kulturen, deren Verteidigung meine Ethnologen-Kollegen und ich uns widmen zu müssen glaubten." Inzwischen jedoch bedrohen wir uns selbst: "Kulturell enteignet und der Werte beraubt, denen wir uns verbunden fühlten - Reinheit von Wasser und Luft, Wohltaten der Natur, Vielzahl und Verschiedenheit der Tier- und Pflanzenarten -, sind wir fortan allesamt Indianer, im Begriff, uns selbst zu dem zu machen, was wir aus ihnen gemacht haben."
Eine Überraschung ist die fast professionelle Qualität der Fotografien. "Ich halte mich nicht für einen Fotografen", betont der Autor zwar, aber er räumt dann doch ein, daß er als Kind schon einen Fotografen bei der Arbeit beobachten konnte: seinen Vater, der als Kunstmaler den Brauch pflegte, seine Modelle bildmäßig aufzunehmen. Nicht zuletzt aber waren die fotografischen Anfänge von Lévi-Strauss befeuert durch den Enthusiasmus der noch jungen Leica-Epoche. Die lichtstarke und tiefenscharfe Kleinbildkamera hatte endlich den Wunsch nach "schnellem", tagebuchartigem Fotografieren wahrgemacht. Einige dekorative Bildseiten reproduzieren Ausschnitte aus dem Tagebuch des Forschers: Notizen, die immer wieder durch präzis gezeichnete Skizzen verlebendigt werden. Als präzise Tagebuchskizzen waren auch die dreitausend Fotografien gemeint, aus denen diese Auswahl zusammengestellt wurde. W. W.
Claude Lévi-Strauss: "Brasilianisches Album". Carl Hanser Verlag, München 1995. 234 S., zahlr. Tafeln und eine Karte, geb., 89,- DM.
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