Ein Lied der Erinnerung an eine Kindheit zwischen Meer und Krieg.
Der französische Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio erinnert sich in »Bretonisches Lied« an seine Kinder- und Jugendzeit. An die Urlaube mit der Familie in der Bretagne und in »Das Kind und der Krieg« an seine frühe Kindheit im besetzten Süden Frankreichs. Zwei eindrückliche autobiografische Erzählungen aus einem anderen Jahrhundert, die in Frankreich die Bestsellerlisten gestürmt haben.
Nostalgisch, aber nie sentimental, so erinnert sich J.M.G. Le Clézio an die Bretagne seiner Kindheit und Jugend. Von 1948 bis 1954 hat er hier mit seiner Familie die Sommerferien verbracht. In einem von berückender Schönheit, aber auch von großer Armut geprägten Landstrich. In poetischen Bildern beschreibt Le Clézio diesen Kindheitsort, die Feste, die Natur, die Sprache, aber auch die Veränderungen, denen die Bretagne immer wieder unterworfen und deren Zeuge er zum Teil war. »Es ist das Land, das mir die meisten Emotionen und Erinnerungen gebracht hat«, sagt der Nobelpreisträger über die Bretagne, die es so, wie er sie erlebt hat, nicht mehr gibt.
Doch Le Clézio begibt sich noch weiter auf seiner Reise in die eigene Vergangenheit. In »Das Kind und der Krieg« erzählt er von der Zeit zwischen 1940 und 1945, die er als kleines Kind erst in Nizza und später, als die Deutschen auch den Süden Frankreichs besetzt hatten, in einem Versteck im Hinterland erlebte. Hier vermischen sich die Eindrücke: Erlebtes, Geträumtes, Erzähltes. Alles wird miteinander verwoben zu einem berührenden, eindringlichen Porträt einer Kriegskindheit, deren Essenz leider auch heute noch gültig ist.
Der französische Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio erinnert sich in »Bretonisches Lied« an seine Kinder- und Jugendzeit. An die Urlaube mit der Familie in der Bretagne und in »Das Kind und der Krieg« an seine frühe Kindheit im besetzten Süden Frankreichs. Zwei eindrückliche autobiografische Erzählungen aus einem anderen Jahrhundert, die in Frankreich die Bestsellerlisten gestürmt haben.
Nostalgisch, aber nie sentimental, so erinnert sich J.M.G. Le Clézio an die Bretagne seiner Kindheit und Jugend. Von 1948 bis 1954 hat er hier mit seiner Familie die Sommerferien verbracht. In einem von berückender Schönheit, aber auch von großer Armut geprägten Landstrich. In poetischen Bildern beschreibt Le Clézio diesen Kindheitsort, die Feste, die Natur, die Sprache, aber auch die Veränderungen, denen die Bretagne immer wieder unterworfen und deren Zeuge er zum Teil war. »Es ist das Land, das mir die meisten Emotionen und Erinnerungen gebracht hat«, sagt der Nobelpreisträger über die Bretagne, die es so, wie er sie erlebt hat, nicht mehr gibt.
Doch Le Clézio begibt sich noch weiter auf seiner Reise in die eigene Vergangenheit. In »Das Kind und der Krieg« erzählt er von der Zeit zwischen 1940 und 1945, die er als kleines Kind erst in Nizza und später, als die Deutschen auch den Süden Frankreichs besetzt hatten, in einem Versteck im Hinterland erlebte. Hier vermischen sich die Eindrücke: Erlebtes, Geträumtes, Erzähltes. Alles wird miteinander verwoben zu einem berührenden, eindringlichen Porträt einer Kriegskindheit, deren Essenz leider auch heute noch gültig ist.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zwei autobiografische Erzählungen, die bis in die Kindheit des Autors zurückgehen, hat Rezensent Niklas Bender in diesem Band gelesen: Einmal geht es um Sommerferien im bretonischen Sainte-Marine und dann um das Kriegsjahr 1943/44 in dem Gebirgsweiler Roquebillière. Beide Texte sind von Melancholie geprägt, so Bender. Aber Le Clézio gebe der Nostalgie keinen Raum. Vor allem die zweite Erzählung, die den Schrecken des Krieges aus der Perspektive eines Kindes festhält, hilft Bender, die exotischen Romane des Autors besser zu verstehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.05.2022Zeit der
Verwilderung
Erst kommt der Schreck, dann die Wut.
Literaturnobelpreisträger J. M. G. Le Clézio
erzählt von Kindern, die im Krieg aufwachsen
VON FRAUKE MEYER-GOSAU
Das hat niemand ahnen können, dass Jean-Marie Gustave Le Clézios 2020 im Original veröffentlichter Prosaband „Bretonisches Lied“, der zwei autobiografische Kindheitserinnerungen des Literaturnobelpreisträgers enthält, sich beim Erscheinen der deutschen Übersetzung als so aktuell erweisen würde. „In Frankreich hat der 2. Weltkrieg am 3. September 1939 begonnen“, lautet der erste Satz der Erzählung „Das Kind und der Krieg“. „Ich bin in Nizza am 13. April 1940 zur Welt gekommen. Die ersten fünf Jahre meines Lebens waren Kriegsjahre. Für mich kann dieser Krieg – wie alle Kriege – nicht nur ein historisches Ereignis sein. (…) Wenn ich über den Krieg spreche, habe ich keinerlei Abstand. Nur Gefühle, Empfindungen, jenen unbeständigen Fluss, der ein Kind zwischen dem Tag seiner Geburt und dem Beginn seines bewussten Gedächtnisses im Alter von fünf oder sechs Jahren trägt.“
Und dann steigt Le Clézio zurück in den Fluss der Erinnerung und lässt sich von den Sinneseindrücken tragen, die seine kindliche Wahrnehmung vor fast 80 Jahren in sich aufgenommen hat. Gelesen unter dem Eindruck der Nachrichten aus der Ukraine rückt hautnah heran, was sich auch heutigen Kriegskindern in die Seele brennt: das Leben unter einer unablässigen Bedrohung, die ihnen niemand erklären und vor der sie niemand bewahren kann. Das Versagen der Sprache vor der mörderischen Realität. Und die Selbstverständlichkeit, mit der die Kinder das hinnehmen, denn für sie „ist alles, was geschieht, normal, sie ahnen nicht, dass ihr Leben anders aussehen könnte“. Der Schrecken ist ihre alltägliche Wirklichkeit. Und er hat später, wenn der Friede zurückgekehrt ist, eine „blinde Wut“ im Gefolge, „grundlose, gegenstandslose Wut“ sowie „das Bedürfnis, unsere Wut an irgendetwas auszulassen, zu prügeln, zu schreien, zu beißen“ – das Kind ist in den Kriegsjahren in die Gewalt hineingewachsen.
Und doch beginnt dieses Buch ganz anders, im Hellen gewissermaßen, im Frieden, der auf die frühesten Erfahrungen folgt. Es sind die Fünfzigerjahre, und jedes Jahr im Sommer fährt die Familie Le Clézio mit ihrem schon ziemlich klapprigen Auto die beträchtliche Strecke von Nizza bis ins Departement Finistère in der Bretagne. Hier, im Dorf Ker Huel, beziehen Vater, Mutter und die beiden zunächst acht- und zehnjährigen Söhne ein kleines Ferienhaus. Die Erzählung „Das bretonische Lied“, die dem Band den Titel gegeben hat, erzählt vom „Ende eines Zeitalters und dem Beginn eines neuen, aber wir wussten nichts davon. Wir konnten glauben, dass alles immer so bleiben würde“. Und genau dies macht alle Erlebnisse, Unternehmungen und Beobachtungen der Kinder so unbeschwert und schließt zugleich Sentimentalität aus: In ihrem Erleben gibt es noch keinen Gedanken an ein späteres Vermissen, Veränderung ist nicht ihr Thema.
So ziehen die Kinder durch einen Landstrich, in dem eine andere Sprache als das Französische gilt, wo etwa die beiden Adoptivtöchter der Bauernfamilie Le Dour angehalten sind, mit den vermeintlichen Parisern („Parizianern“) Französisch zu sprechen „und von uns vornehme Manieren zu lernen“ – dabei sprechen die beiden Mädchen selbst perfekt Französisch, und für die vornehmen Manieren sind die beiden Jungs aus Nizza auch nicht gerade die völlig richtigen Lehrmeister.
Mit seinen Blicken in dieses arme, traditionsbestimmte und in sich reibungslos funktionierende Landleben beleuchtet Le Clézio die Fischerei jener Jahre ebenso wie die Erntewochen oder die religiösen Gebräuche. Und er erzählt von der alten Adligen, die allein in ihrem Schloss Le Cosquer wohnt und sich während der deutschen Besatzung geweigert hatte, mit den Feinden zusammen auf ihrem Besitz zu leben. Jetzt, da sie aus ihrem Stadtexil zurückgekehrt ist, öffnet sie im Sommer für ein Wochenende die Tore zum Schlosspark und lädt das Dorf zu einem großen Fest ein, mitsamt Blaskapelle und bretonischen Dudelsackpfeifen, mit Messe und Kirchenliedern, einem üppigen bäuerlichen Buffet, Wettspielen und einem großen abendlichen Ball. „Und inmitten von alledem die unsichtbare Anwesenheit der Marquise“, erinnert sich Le Clézio, „die in ihrem Schlafzimmer im ersten Stock geblieben war und dem Lärm des Festes lauschte.“
Das Besondere an diesen Miniatur-Beobachtungen ist die Sinnlichkeit, mit der Le Clézio uns alles, was sein literarisches Gedächtnis gespeichert hat, vor Augen und Ohren führt: das Wasser wie die Hitze, den Regen wie all die Gerüche und Geräusche, die Begegnungen des Jungen mit der Natur, seine Beschäftigung mit Kartoffelkäfern, die sich einfach nicht dressieren lassen wollen, oder auch einem Tintenfisch in einem Tümpel am Meer, der sich immer wieder vorsichtig dem nackten Fuß des Jungen nähert. „Wenn ich bei Ebbe allein herkomme, gehe ich in den Teich, dann gleiten die leichten Fangarme aus dem Loch, berühren meine Füße und ringeln sich um meine Knöchel. Wenn ich mich bewege, ziehen sie sich zurück. Und so bleibe ich reglos im Rauschen von Wind und Meer stehen.“
Noch einmal wird hier also eine mittlerweile weitgehend verschwundene Welt mit Kinderaugen gesehen. Doch zur Nostalgie besteht für Le Clézio kein Anlass. Immer wieder schaltet sich in die Erinnerungen der Rechercheur ein, der zwanzig Jahre nach seinen Kindheitserlebnissen wieder in die Bretagne zurückgekehrt ist und seither deren Entwicklung aufmerksam verfolgt. Und er macht kein Geheimnis daraus, dass das Verschwinden mancher regionaler Besonderheiten durchaus zum Besseren der Bewohner war – etwa, wenn die Landreform die handtuchschmalen Einzelfelder zu einem großen Ackergelände zusammenzog und so verhinderte, dass alte Bauern, die von den Erträgen ihres Landes nicht mehr leben konnten, sich am Ende in den Brunnen stürzten.
Wie das Leben in Frankreich vor siebzig Jahren war, im Norden wie im Süden, und wie es seither geworden ist, an dieser allgemeinen Leitlinie bewegt sich der Inhalt beider Erzählungen dieses Bandes entlang, und da ist dann auch, immer wieder eingestreut in kürzeren Abschweifungen, etliches zu erfahren über die Familiengeschichte der Le Clézios, deren ursprünglicher Heimatort das bretonische Le Cleuziou war und deren Name sich aus dem bretonischen Wort für Stechginster herleitet. Aus der Bretagne nämlich war ein Vorfahr, „ein leidenschaftlicher Republikaner, Verfechter des Föderalismus“, nach der Französischen Revolution nach Mauritius ausgewandert, das damals noch französisch war und später britisch wurde. So dass Jean-Maries Vater ein britischer Staatsangehöriger war und, nachdem er seine französische Cousine geheiratet hatte, auch diese und ihre gemeinsamen Kinder zu Briten machte. Während der deutschen Besatzung – die Mutter war mit ihren alten Eltern und den beiden kleinen Söhnen in Nizza geblieben, während der Ehemann als Arzt für die britische Armee in Afrika arbeitete – musste die Familie deshalb vor den Nazis in ein Gebirgsdorf fliehen. So wuchsen die Kinder im ersten Stock eines Lagergebäudes hinter abgeklebten Fenstern und zugezogenen Fensterläden auf: „In einem Land, in dem Krieg herrscht, gehen die Kinder nicht nach draußen.“
Familiengeschichte als Revolutionsgeschichte, ebenso als Geschichte von Krieg und Verfolgung, beides verbindet sich in Le Clézios Erzählungen miteinander. Das leuchtende Zentrum aber ist das, was die Kinder sahen und hörten. Wie sie durch die Erfahrung des Krieges brutalisiert wurden und verwilderten, und wie sie hernach, als der Frieden zurückkehrte, die wundersame Fähigkeit zu einem Leben in Angstlosigkeit wiedergewannen. Bretonische Lieder, schreibt Le Clézio, erinnerten ihn an jenen tönenden Felsen am Meer, der zu „singen“ beginnt, wenn bei heftigen Stürmen ein Schiffbruch sich ankündigt (und die Dorfleute schon losgehen, um das Strandgut zu bergen): ein Gesang vom Untergang des einen, der das Leben anderer bereichern wird – zugleich ein Bild für das, was diese Literatur ausmacht.
Eigenwillige Kartoffelkäfer
und ein forscher
Tintenfisch
„In einem Land, in dem
Krieg herrscht, gehen die
Kinder nicht nach draußen“
J.M.G. Le Clézio:
Bretonisches Lied.
Zwei Erzählungen.
Aus dem Französischen
von Uli Wittmann.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
186 Seiten, 22 Euro.
„Wenn ich über den Krieg spreche, habe ich keinerlei Abstand. Nur Gefühle, Empfindungen.“ – Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio.
Foto: Catherine Hélie/Editions Gallimard/KiWi
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Verwilderung
Erst kommt der Schreck, dann die Wut.
Literaturnobelpreisträger J. M. G. Le Clézio
erzählt von Kindern, die im Krieg aufwachsen
VON FRAUKE MEYER-GOSAU
Das hat niemand ahnen können, dass Jean-Marie Gustave Le Clézios 2020 im Original veröffentlichter Prosaband „Bretonisches Lied“, der zwei autobiografische Kindheitserinnerungen des Literaturnobelpreisträgers enthält, sich beim Erscheinen der deutschen Übersetzung als so aktuell erweisen würde. „In Frankreich hat der 2. Weltkrieg am 3. September 1939 begonnen“, lautet der erste Satz der Erzählung „Das Kind und der Krieg“. „Ich bin in Nizza am 13. April 1940 zur Welt gekommen. Die ersten fünf Jahre meines Lebens waren Kriegsjahre. Für mich kann dieser Krieg – wie alle Kriege – nicht nur ein historisches Ereignis sein. (…) Wenn ich über den Krieg spreche, habe ich keinerlei Abstand. Nur Gefühle, Empfindungen, jenen unbeständigen Fluss, der ein Kind zwischen dem Tag seiner Geburt und dem Beginn seines bewussten Gedächtnisses im Alter von fünf oder sechs Jahren trägt.“
Und dann steigt Le Clézio zurück in den Fluss der Erinnerung und lässt sich von den Sinneseindrücken tragen, die seine kindliche Wahrnehmung vor fast 80 Jahren in sich aufgenommen hat. Gelesen unter dem Eindruck der Nachrichten aus der Ukraine rückt hautnah heran, was sich auch heutigen Kriegskindern in die Seele brennt: das Leben unter einer unablässigen Bedrohung, die ihnen niemand erklären und vor der sie niemand bewahren kann. Das Versagen der Sprache vor der mörderischen Realität. Und die Selbstverständlichkeit, mit der die Kinder das hinnehmen, denn für sie „ist alles, was geschieht, normal, sie ahnen nicht, dass ihr Leben anders aussehen könnte“. Der Schrecken ist ihre alltägliche Wirklichkeit. Und er hat später, wenn der Friede zurückgekehrt ist, eine „blinde Wut“ im Gefolge, „grundlose, gegenstandslose Wut“ sowie „das Bedürfnis, unsere Wut an irgendetwas auszulassen, zu prügeln, zu schreien, zu beißen“ – das Kind ist in den Kriegsjahren in die Gewalt hineingewachsen.
Und doch beginnt dieses Buch ganz anders, im Hellen gewissermaßen, im Frieden, der auf die frühesten Erfahrungen folgt. Es sind die Fünfzigerjahre, und jedes Jahr im Sommer fährt die Familie Le Clézio mit ihrem schon ziemlich klapprigen Auto die beträchtliche Strecke von Nizza bis ins Departement Finistère in der Bretagne. Hier, im Dorf Ker Huel, beziehen Vater, Mutter und die beiden zunächst acht- und zehnjährigen Söhne ein kleines Ferienhaus. Die Erzählung „Das bretonische Lied“, die dem Band den Titel gegeben hat, erzählt vom „Ende eines Zeitalters und dem Beginn eines neuen, aber wir wussten nichts davon. Wir konnten glauben, dass alles immer so bleiben würde“. Und genau dies macht alle Erlebnisse, Unternehmungen und Beobachtungen der Kinder so unbeschwert und schließt zugleich Sentimentalität aus: In ihrem Erleben gibt es noch keinen Gedanken an ein späteres Vermissen, Veränderung ist nicht ihr Thema.
So ziehen die Kinder durch einen Landstrich, in dem eine andere Sprache als das Französische gilt, wo etwa die beiden Adoptivtöchter der Bauernfamilie Le Dour angehalten sind, mit den vermeintlichen Parisern („Parizianern“) Französisch zu sprechen „und von uns vornehme Manieren zu lernen“ – dabei sprechen die beiden Mädchen selbst perfekt Französisch, und für die vornehmen Manieren sind die beiden Jungs aus Nizza auch nicht gerade die völlig richtigen Lehrmeister.
Mit seinen Blicken in dieses arme, traditionsbestimmte und in sich reibungslos funktionierende Landleben beleuchtet Le Clézio die Fischerei jener Jahre ebenso wie die Erntewochen oder die religiösen Gebräuche. Und er erzählt von der alten Adligen, die allein in ihrem Schloss Le Cosquer wohnt und sich während der deutschen Besatzung geweigert hatte, mit den Feinden zusammen auf ihrem Besitz zu leben. Jetzt, da sie aus ihrem Stadtexil zurückgekehrt ist, öffnet sie im Sommer für ein Wochenende die Tore zum Schlosspark und lädt das Dorf zu einem großen Fest ein, mitsamt Blaskapelle und bretonischen Dudelsackpfeifen, mit Messe und Kirchenliedern, einem üppigen bäuerlichen Buffet, Wettspielen und einem großen abendlichen Ball. „Und inmitten von alledem die unsichtbare Anwesenheit der Marquise“, erinnert sich Le Clézio, „die in ihrem Schlafzimmer im ersten Stock geblieben war und dem Lärm des Festes lauschte.“
Das Besondere an diesen Miniatur-Beobachtungen ist die Sinnlichkeit, mit der Le Clézio uns alles, was sein literarisches Gedächtnis gespeichert hat, vor Augen und Ohren führt: das Wasser wie die Hitze, den Regen wie all die Gerüche und Geräusche, die Begegnungen des Jungen mit der Natur, seine Beschäftigung mit Kartoffelkäfern, die sich einfach nicht dressieren lassen wollen, oder auch einem Tintenfisch in einem Tümpel am Meer, der sich immer wieder vorsichtig dem nackten Fuß des Jungen nähert. „Wenn ich bei Ebbe allein herkomme, gehe ich in den Teich, dann gleiten die leichten Fangarme aus dem Loch, berühren meine Füße und ringeln sich um meine Knöchel. Wenn ich mich bewege, ziehen sie sich zurück. Und so bleibe ich reglos im Rauschen von Wind und Meer stehen.“
Noch einmal wird hier also eine mittlerweile weitgehend verschwundene Welt mit Kinderaugen gesehen. Doch zur Nostalgie besteht für Le Clézio kein Anlass. Immer wieder schaltet sich in die Erinnerungen der Rechercheur ein, der zwanzig Jahre nach seinen Kindheitserlebnissen wieder in die Bretagne zurückgekehrt ist und seither deren Entwicklung aufmerksam verfolgt. Und er macht kein Geheimnis daraus, dass das Verschwinden mancher regionaler Besonderheiten durchaus zum Besseren der Bewohner war – etwa, wenn die Landreform die handtuchschmalen Einzelfelder zu einem großen Ackergelände zusammenzog und so verhinderte, dass alte Bauern, die von den Erträgen ihres Landes nicht mehr leben konnten, sich am Ende in den Brunnen stürzten.
Wie das Leben in Frankreich vor siebzig Jahren war, im Norden wie im Süden, und wie es seither geworden ist, an dieser allgemeinen Leitlinie bewegt sich der Inhalt beider Erzählungen dieses Bandes entlang, und da ist dann auch, immer wieder eingestreut in kürzeren Abschweifungen, etliches zu erfahren über die Familiengeschichte der Le Clézios, deren ursprünglicher Heimatort das bretonische Le Cleuziou war und deren Name sich aus dem bretonischen Wort für Stechginster herleitet. Aus der Bretagne nämlich war ein Vorfahr, „ein leidenschaftlicher Republikaner, Verfechter des Föderalismus“, nach der Französischen Revolution nach Mauritius ausgewandert, das damals noch französisch war und später britisch wurde. So dass Jean-Maries Vater ein britischer Staatsangehöriger war und, nachdem er seine französische Cousine geheiratet hatte, auch diese und ihre gemeinsamen Kinder zu Briten machte. Während der deutschen Besatzung – die Mutter war mit ihren alten Eltern und den beiden kleinen Söhnen in Nizza geblieben, während der Ehemann als Arzt für die britische Armee in Afrika arbeitete – musste die Familie deshalb vor den Nazis in ein Gebirgsdorf fliehen. So wuchsen die Kinder im ersten Stock eines Lagergebäudes hinter abgeklebten Fenstern und zugezogenen Fensterläden auf: „In einem Land, in dem Krieg herrscht, gehen die Kinder nicht nach draußen.“
Familiengeschichte als Revolutionsgeschichte, ebenso als Geschichte von Krieg und Verfolgung, beides verbindet sich in Le Clézios Erzählungen miteinander. Das leuchtende Zentrum aber ist das, was die Kinder sahen und hörten. Wie sie durch die Erfahrung des Krieges brutalisiert wurden und verwilderten, und wie sie hernach, als der Frieden zurückkehrte, die wundersame Fähigkeit zu einem Leben in Angstlosigkeit wiedergewannen. Bretonische Lieder, schreibt Le Clézio, erinnerten ihn an jenen tönenden Felsen am Meer, der zu „singen“ beginnt, wenn bei heftigen Stürmen ein Schiffbruch sich ankündigt (und die Dorfleute schon losgehen, um das Strandgut zu bergen): ein Gesang vom Untergang des einen, der das Leben anderer bereichern wird – zugleich ein Bild für das, was diese Literatur ausmacht.
Eigenwillige Kartoffelkäfer
und ein forscher
Tintenfisch
„In einem Land, in dem
Krieg herrscht, gehen die
Kinder nicht nach draußen“
J.M.G. Le Clézio:
Bretonisches Lied.
Zwei Erzählungen.
Aus dem Französischen
von Uli Wittmann.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
186 Seiten, 22 Euro.
„Wenn ich über den Krieg spreche, habe ich keinerlei Abstand. Nur Gefühle, Empfindungen.“ – Literaturnobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio.
Foto: Catherine Hélie/Editions Gallimard/KiWi
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2022Afrika sollte uns zivilisieren
Nie hat der Literaturnobelpreisträger J. M. G. Le Clézio so offen die Ursprünge seines Schreibens benannt
Die zwei autobiographischen Erzählungen, die J. M. G. Le Clézio unter dem Titel "Bretonisches Lied" vereint, sind ein typisches Alterswerk: Der 1940 geborene Romancier wendet sich seiner Kindheit zu, beschreibt die weit zurückliegenden und alles Spätere prägenden Erfahrungen. Bestenfalls gibt ein solches Spätwerk nicht nur Schriftstelleranekdoten preis, sondern enthält auch einen Schlüssel zum Werk. "Bretonisches Lied" macht dieses Angebot, indem bewusst oder unbewusst determinierende Erfahrungen beschrieben und ihre literarische Relevanz angedeutet werden.
Die zwei Texte sind von ganz unterschiedlicher Ton- und Machart. Der erste, wie der Band insgesamt "Bretonisches Lied" betitelt, beschwört im Küstenort Sainte-Marine (Finistère) verbrachte Kindheitssommer herauf; der Text ist nostalgisch gehalten, auch wenn er ebendas kritisch reflektiert. "Das Kind und der Krieg" hingegen widmet sich Mangel und Leid der Weltkriegsjahre 1943/44, die Le Clézio in Nizza und im Gebirgsweiler Roquebillière (Alpes-Maritimes) erlebt hat. Er legt eine bisher eher erahnte Perspektive auf jene Texte Le Clézios offen und fest, die sich mitunter in exotischem Wohlgefühl zu gefallen scheinen.
Sainte-Marine war in den Fünfzigerjahren ein Fischerdorf, an der Mündung des Flusses Odet gelegen. Bénodet am gegenüberliegenden Ufer hatte sich schon in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zum mondänen Seebad entwickelt; Sainte-Marine blieb trotz der einen oder anderen Villa abseits. Erst 1972 änderte die Eröffnung des Pont de Cornouaille das endgültig: Die Brücke schloss das Dorf an die Präfektur Quimper und das nationale Straßennetz an. Diese Veränderungen reflektiert Le Clézio, für ihn ist die Brücke "das weithin sichtbare Zeichen des Wandels".
Ihn interessiert das frühere Sainte-Marine, wo er jedes Jahr "drei ideale Ferienmonate voller Freiheit und Abenteuer" verleben durfte, zusammen mit Bretonisch sprechenden Fischer- und Bauernlümmeln. Der Odet kam ihm "groß wie der Amazonasstrom vor, mit geheimnisvollen, im Nebel liegenden Ufern, strudelndem schwarzem Wasser und der Mündung ins offene Meer vor den Glénan-Inseln". Le Clézio erzählt von Angelabenteuern, den Mädchen Le Dour, Gottesdiensten, Fahrradtouren, Festen auf dem Schloss Le Cosquer und besonders der Ernte, der kollektiven Arbeit mit einer gigantischen Dreschmaschine, denn "wir konnten uns nicht diesem Fieber entziehen, dem Triumph des ländlichen Lebens, und wir empfanden etwas, das wir, wie mir scheint, in keinem Geschichts- oder Erdkundeunterricht hätten lernen können, etwas, das uns mit unserer weit zurückliegenden Vergangenheit verband (da unsere Familie, ehe sie nach Mauritius auswanderte, ganz der bäuerlichen Welt angehört hatte), und sogar darüber hinaus mit der Vergangenheit der Menschheit."
Schließlich stellt der Text eine Wurzelforschung dar: Die Familie Le Clézio stammt, so die Vermutung des Vaters, aus dem Weiler Le Cleuziou; ein bäuerlicher Ahn namens Alexis François verließ in den Revolutionswirren die Gegend und später das Land, um nach Mauritius auszuwandern. Die Kindheitserinnerung enthält eine mehr oder weniger phantastische Herkunftserzählung, aus der eine reale Zuneigung zu diesem ebenso eigensinnigen wie weltoffenen westlichen Ende Frankreichs entstanden ist.
Le Clézios Blick in den Rückspiegel sieht vor allem das, was verloren gegangen ist. Die Veränderung der Landschaft rückt in den Fokus, ebenso der Verlust der bretonischen Sprache. Der Autor kritisiert die französische Sprachpolitik, will aber nicht das Wirken eines bösen Zentralismus als Alleinschuldigen sehen: "Die Bretonen haben den Anreiz der Moderne mit der Scham verwechselt, die sie angesichts ihrer Herkunft empfanden, und das Erbe ihrer Vorväter mit der Angst gleichgesetzt, die Ewiggestrigen zu bleiben. Zugleich haben sie sich davor gefürchtet, wieder in die unsägliche Armut zurückzufallen, in der die Landbevölkerung teilweise seit Jahrhunderten überlebt hat und in der sie der Staat aus Furcht vor einer Identitätskrise gehalten hat." Die Argumentation ist gewunden und nicht ganz widerspruchsfrei, will es ob der komplexen Lage wohl nicht sein.
Ebenso relativiert Le Clézio die Veränderung der Landschaft, betont, dass die Flurbereinigung teils rückgängig gemacht worden sei. Er bekämpft die eigene Nostalgie - und damit den "Deklinismus" eines Richard Millet, mit dem er sich 2012 eine heftige Polemik geliefert hat: "Nostalgie ist kein erstrebenswertes Gefühl. Sie ist eine Schwäche, eine Verkrampfung, die Verbitterung hervorruft. Dieses Unvermögen hindert einen daran, zu sehen, was wirklich existiert, und wirft einen auf die Vergangenheit zurück, wo doch die Gegenwart die einzige Wahrheit darstellt." "Bretonisches Lied" schwelgt nicht nur in einer Kindheitsbretagne, sondern klärt auch Le Clézios Standpunkt, historisch, erinnerungspolitisch, literarisch.
Die zweite kürzere Erzählung über die Kriegsjahre bringt eine Erfahrung zur ausführlichen Darstellung, die den Autor oft umgetrieben hat, meist am Anfang von oder in Prologen zu Texten (etwa "Fliehender Stern" oder "Ourania"). In seiner Rede zum Literaturnobelpreis 2008 hatte Le Clézio festgehalten: "Wenn ich die Umstände näher betrachte, die mich dazu veranlasst haben zu schreiben - ich tue das nicht aus Eitelkeit, sondern weil ich um Genauigkeit bemüht bin -, dann muss ich feststellen, dass für mich der Krieg den Ausgangspunkt bildet." Und zwar, so präzisiert er, nicht der heroische Krieg, sondern der traumatisierende, den Kinder erleiden. Dieser Krieg meint Bombenangriffe, wie jener, der ihn im Badezimmer überrascht und ihm einen Schrei des Entsetzens entreißt: "Er bildet ein Ganzes mit meinem Körper. Mein Körper schreit, nicht meine Kehle." Meist jedoch meint er schlicht Hunger: "Kein Magenknurren, sondern eine Leere mitten im Leib, die ganze Zeit, in jedem Augenblick, eine Leere, die nichts füllen, nichts sättigen kann." Hinzu kommt ein Mangel, den der Kleine nicht verstehen kann: die Abwesenheit des ihm unbekannten Vaters, der die Familie erst nach dem Krieg wiedersieht. Le Clézio fragt sich beständig, welche der Prägungen bewusst, welche untergründig war.
Die literarische Pointe ist, dass nicht nur das bedrückende Frühwerk, das Camus nahezustehen scheint, im Schatten des Krieges steht. Gerade die exotischen Texte, vornweg jene über Afrika, sind vor dieser Folie zu verstehen: "Als wir in Afrika ankamen, waren mein Bruder und ich zwei bleiche, ungebildete Jungen, erfüllt von Wut und Ungehorsam." Und: "Afrika sollte uns zivilisieren." Die Herkunft dieser Perspektive auf Europa und Übersee ist es, die "Das Kind und der Krieg" deutlicher als frühere Einlassungen offenlegt und reflektiert. Einerseits nimmt sie manchen Romanen im Nachhinein Exuberanz und Pathos; andererseits verleiht sie ihnen eine bescheidenere, aber eindringlichere Farbigkeit.
NIKLAS BENDER
J. M. G. Le Clézio: "Bretonisches Lied". Zwei Erzählungen.
Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 190 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nie hat der Literaturnobelpreisträger J. M. G. Le Clézio so offen die Ursprünge seines Schreibens benannt
Die zwei autobiographischen Erzählungen, die J. M. G. Le Clézio unter dem Titel "Bretonisches Lied" vereint, sind ein typisches Alterswerk: Der 1940 geborene Romancier wendet sich seiner Kindheit zu, beschreibt die weit zurückliegenden und alles Spätere prägenden Erfahrungen. Bestenfalls gibt ein solches Spätwerk nicht nur Schriftstelleranekdoten preis, sondern enthält auch einen Schlüssel zum Werk. "Bretonisches Lied" macht dieses Angebot, indem bewusst oder unbewusst determinierende Erfahrungen beschrieben und ihre literarische Relevanz angedeutet werden.
Die zwei Texte sind von ganz unterschiedlicher Ton- und Machart. Der erste, wie der Band insgesamt "Bretonisches Lied" betitelt, beschwört im Küstenort Sainte-Marine (Finistère) verbrachte Kindheitssommer herauf; der Text ist nostalgisch gehalten, auch wenn er ebendas kritisch reflektiert. "Das Kind und der Krieg" hingegen widmet sich Mangel und Leid der Weltkriegsjahre 1943/44, die Le Clézio in Nizza und im Gebirgsweiler Roquebillière (Alpes-Maritimes) erlebt hat. Er legt eine bisher eher erahnte Perspektive auf jene Texte Le Clézios offen und fest, die sich mitunter in exotischem Wohlgefühl zu gefallen scheinen.
Sainte-Marine war in den Fünfzigerjahren ein Fischerdorf, an der Mündung des Flusses Odet gelegen. Bénodet am gegenüberliegenden Ufer hatte sich schon in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zum mondänen Seebad entwickelt; Sainte-Marine blieb trotz der einen oder anderen Villa abseits. Erst 1972 änderte die Eröffnung des Pont de Cornouaille das endgültig: Die Brücke schloss das Dorf an die Präfektur Quimper und das nationale Straßennetz an. Diese Veränderungen reflektiert Le Clézio, für ihn ist die Brücke "das weithin sichtbare Zeichen des Wandels".
Ihn interessiert das frühere Sainte-Marine, wo er jedes Jahr "drei ideale Ferienmonate voller Freiheit und Abenteuer" verleben durfte, zusammen mit Bretonisch sprechenden Fischer- und Bauernlümmeln. Der Odet kam ihm "groß wie der Amazonasstrom vor, mit geheimnisvollen, im Nebel liegenden Ufern, strudelndem schwarzem Wasser und der Mündung ins offene Meer vor den Glénan-Inseln". Le Clézio erzählt von Angelabenteuern, den Mädchen Le Dour, Gottesdiensten, Fahrradtouren, Festen auf dem Schloss Le Cosquer und besonders der Ernte, der kollektiven Arbeit mit einer gigantischen Dreschmaschine, denn "wir konnten uns nicht diesem Fieber entziehen, dem Triumph des ländlichen Lebens, und wir empfanden etwas, das wir, wie mir scheint, in keinem Geschichts- oder Erdkundeunterricht hätten lernen können, etwas, das uns mit unserer weit zurückliegenden Vergangenheit verband (da unsere Familie, ehe sie nach Mauritius auswanderte, ganz der bäuerlichen Welt angehört hatte), und sogar darüber hinaus mit der Vergangenheit der Menschheit."
Schließlich stellt der Text eine Wurzelforschung dar: Die Familie Le Clézio stammt, so die Vermutung des Vaters, aus dem Weiler Le Cleuziou; ein bäuerlicher Ahn namens Alexis François verließ in den Revolutionswirren die Gegend und später das Land, um nach Mauritius auszuwandern. Die Kindheitserinnerung enthält eine mehr oder weniger phantastische Herkunftserzählung, aus der eine reale Zuneigung zu diesem ebenso eigensinnigen wie weltoffenen westlichen Ende Frankreichs entstanden ist.
Le Clézios Blick in den Rückspiegel sieht vor allem das, was verloren gegangen ist. Die Veränderung der Landschaft rückt in den Fokus, ebenso der Verlust der bretonischen Sprache. Der Autor kritisiert die französische Sprachpolitik, will aber nicht das Wirken eines bösen Zentralismus als Alleinschuldigen sehen: "Die Bretonen haben den Anreiz der Moderne mit der Scham verwechselt, die sie angesichts ihrer Herkunft empfanden, und das Erbe ihrer Vorväter mit der Angst gleichgesetzt, die Ewiggestrigen zu bleiben. Zugleich haben sie sich davor gefürchtet, wieder in die unsägliche Armut zurückzufallen, in der die Landbevölkerung teilweise seit Jahrhunderten überlebt hat und in der sie der Staat aus Furcht vor einer Identitätskrise gehalten hat." Die Argumentation ist gewunden und nicht ganz widerspruchsfrei, will es ob der komplexen Lage wohl nicht sein.
Ebenso relativiert Le Clézio die Veränderung der Landschaft, betont, dass die Flurbereinigung teils rückgängig gemacht worden sei. Er bekämpft die eigene Nostalgie - und damit den "Deklinismus" eines Richard Millet, mit dem er sich 2012 eine heftige Polemik geliefert hat: "Nostalgie ist kein erstrebenswertes Gefühl. Sie ist eine Schwäche, eine Verkrampfung, die Verbitterung hervorruft. Dieses Unvermögen hindert einen daran, zu sehen, was wirklich existiert, und wirft einen auf die Vergangenheit zurück, wo doch die Gegenwart die einzige Wahrheit darstellt." "Bretonisches Lied" schwelgt nicht nur in einer Kindheitsbretagne, sondern klärt auch Le Clézios Standpunkt, historisch, erinnerungspolitisch, literarisch.
Die zweite kürzere Erzählung über die Kriegsjahre bringt eine Erfahrung zur ausführlichen Darstellung, die den Autor oft umgetrieben hat, meist am Anfang von oder in Prologen zu Texten (etwa "Fliehender Stern" oder "Ourania"). In seiner Rede zum Literaturnobelpreis 2008 hatte Le Clézio festgehalten: "Wenn ich die Umstände näher betrachte, die mich dazu veranlasst haben zu schreiben - ich tue das nicht aus Eitelkeit, sondern weil ich um Genauigkeit bemüht bin -, dann muss ich feststellen, dass für mich der Krieg den Ausgangspunkt bildet." Und zwar, so präzisiert er, nicht der heroische Krieg, sondern der traumatisierende, den Kinder erleiden. Dieser Krieg meint Bombenangriffe, wie jener, der ihn im Badezimmer überrascht und ihm einen Schrei des Entsetzens entreißt: "Er bildet ein Ganzes mit meinem Körper. Mein Körper schreit, nicht meine Kehle." Meist jedoch meint er schlicht Hunger: "Kein Magenknurren, sondern eine Leere mitten im Leib, die ganze Zeit, in jedem Augenblick, eine Leere, die nichts füllen, nichts sättigen kann." Hinzu kommt ein Mangel, den der Kleine nicht verstehen kann: die Abwesenheit des ihm unbekannten Vaters, der die Familie erst nach dem Krieg wiedersieht. Le Clézio fragt sich beständig, welche der Prägungen bewusst, welche untergründig war.
Die literarische Pointe ist, dass nicht nur das bedrückende Frühwerk, das Camus nahezustehen scheint, im Schatten des Krieges steht. Gerade die exotischen Texte, vornweg jene über Afrika, sind vor dieser Folie zu verstehen: "Als wir in Afrika ankamen, waren mein Bruder und ich zwei bleiche, ungebildete Jungen, erfüllt von Wut und Ungehorsam." Und: "Afrika sollte uns zivilisieren." Die Herkunft dieser Perspektive auf Europa und Übersee ist es, die "Das Kind und der Krieg" deutlicher als frühere Einlassungen offenlegt und reflektiert. Einerseits nimmt sie manchen Romanen im Nachhinein Exuberanz und Pathos; andererseits verleiht sie ihnen eine bescheidenere, aber eindringlichere Farbigkeit.
NIKLAS BENDER
J. M. G. Le Clézio: "Bretonisches Lied". Zwei Erzählungen.
Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. 190 S., geb., 22,- Euro.
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»Die beiden Erzählungen sind wunderbare Lebenserinnerungen, beeindrucken in ihrer Offenheit, eindrücklich und auch überraschend emotional.« Martin Wasser Die Märkische Bücherschau 20220705
Zwei autobiografische Erzählungen, die bis in die Kindheit des Autors zurückgehen, hat Rezensent Niklas Bender in diesem Band gelesen: Einmal geht es um Sommerferien im bretonischen Sainte-Marine und dann um das Kriegsjahr 1943/44 in dem Gebirgsweiler Roquebillière. Beide Texte sind von Melancholie geprägt, so Bender. Aber Le Clézio gebe der Nostalgie keinen Raum. Vor allem die zweite Erzählung, die den Schrecken des Krieges aus der Perspektive eines Kindes festhält, hilft Bender, die exotischen Romane des Autors besser zu verstehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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