Geschenkausgabe im kleinen Format, bedrucktes Ganzleinen mit Lesebändchen. "Bald wirst Du jetzt zweiundachtzig sein. Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden, Du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist Du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je "
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.12.2007Bis dass der Tod Euch scheidet
Die Geschichte einer Liebe: André Gorz' langer Brief zum langen Abschied
Was im Leben uns verdrießt: unglückliche Liebe etwa oder der Tod. Im Bilde aber, so Goethe weiter, also im Theater oder in einem Roman, können wir davon nicht genug kriegen. Unser entfachtes Mitleid gilt Romeo und Julia, Emilia Galotti oder dem jungen Werther, deren Scheitern der großen Liebe einhergeht mit Verzweiflung, rundum gebrochenen Herzen und so oft mit dramatischem Tod zumindest eines Beteiligten. Über den Tod aus Liebe zu schreiben, wie Shakespeare, Lessing oder Goethe, ist eine Sache; wirklich Hand an sich selbst zu legen, eine ganz andere, wenn auch unter Schriftstellern keine seltene. Der französische Philosoph André Gorz hat sich vor wenigen Wochen zusammen mit seiner langjährigen, fast gleichaltrigen und schwerkranken Ehefrau Dorine im gemeinsamen Landhaus in der Champagne das Leben genommen. Was bleibt, ist sein Werk, darunter, gleichermaßen als letzter Wille, sein "Brief an D." (Dorine), die "Geschichte einer Liebe". Es ist weit mehr als eine Liebeserklärung, die Gorz nach so vielen Ehejahren seiner Frau macht, es ist seine Lebenserklärung.
Gorz wollte es so, dass dieses Buch, das im Original bereits im Herbst vergangenen Jahres erschien und in Frankreich ein Bestseller wurde, sein letztes werden würde, und er hat diesen Willen selber eingelöst - die deutsche Ausgabe kam fast zeitgleich mit dem Tod der Eheleute auf den Markt. "Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen", schreibt er am Ende seines knapp hundert Seiten langen Briefs. Ursprünglich war keine Veröffentlichung geplant, Freunde überredeten ihn dazu, und seine Frau akzeptierte, wie so oft, seine Entscheidung. Haben sie alle, die Freunde, der Verleger, der Lektor nicht genau genug gelesen, um zu erkennen, welcher Entschluss am Ende dieses Abschiedsbriefes steht?
Der Wunsch, keiner möge den anderen überleben, ist unter Menschen, die einander in Liebe verbunden sind, zunächst verständlich; brisant wird er erst, wenn er umgesetzt werden soll, denn dazu gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit. Michel Contat von "Le Monde" hatte die beiden noch in ihrem Haus besucht und bekam auf die Frage nach diesem heiklen Punkt eine Antwort, die man sich schon denken konnte, wenn man Gorz' Schriften gelesen hatte: dass man sich mit dem Leben arrangiere, so, wie es eben nun einmal sei; diese Gegenwart im Hier und Jetzt reiche ihnen beiden aus. Anfang der sechziger Jahre hatte Gorz darüber in der Zeitschrift "Les Temps Modernes", deren Mitbegründer er war, geschrieben: "Man muss akzeptieren, endlich zu sein: hier und nirgendwo anders zu sein, dies und nicht jenes zu tun, jetzt oder nicht nie oder immer, nur dieses Leben zu haben." Das Akzeptieren der Endlichkeit schließt eine bewusst herbeigeführte Endlichkeit nicht aus. Das "Haben" des Lebens enthält die Möglichkeit des Aufgebens. Gorz hatte von den französischen Existentialisten, allen voran Sartre, seinem Vorbild, Freund und Förderer, viel gelernt; in entscheidenden Lebens- und Liebesfragen jedoch, wie der der partnerschaftlichen Treue, die Sartre und Simone de Beauvoir anders zu handhaben pflegten, ließ er sich nicht beeinflussen.
Gorz, der österreichische Jude, und die junge Engländerin Dorine waren sich in sehr jungen Jahren in Lausanne begegnet. Gorz schildert in seinem "Brief", wie ihn der coup de foudre wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf, wie er seine einzige Liebe erkannte, und zwar auf den ersten Blick. Gorz, der ursprünglich Gerhard Hirsch hieß, verbrachte die Kriegsjahre unter dem Namen Gérard Horst in Schweizer Internaten. 1949, als er schließlich mit seiner Frau nach Paris zog, änderte er ein weiteres Mal seinen Namen, arbeitete als Michel Bosquet als angesehener Journalist (viele Jahre als stellvertretender Chefredakteur) beim "Nouvel Observateur". Erst als André Gorz, an der Seite seiner Dorine, wurde er zu dem, was er war: "Dein Leben ist Schreiben. Also schreib!", hatte sie ihn immer wieder ermutigt, ihm bei seinen Werken beratend und unterstützend zur Seite gestanden und zum Teil auch tagelanges Schweigen in Kauf genommen.
Und Gorz schrieb, um die Angst zu bannen: "Ich wurde nie eins mit jenem Ich, das ich behandelte, als wäre es ein Anderer." Das klingt zunächst verdächtig nach Arthur Rimbauds berühmtem Ausspruch "Je est un autre" ("Ich ist ein Anderer"). Während Rimbaud nach maximaler künstlerischer Entgrenzung strebte und sich als selbstermächtigter Seher in der Tradition Baudelaires sah, war bei Gorz der entgrenzte, zerrissene Zustand Ausgangspunkt, um dessen Aufhebung er zeit seines Lebens rang. Die Fliehkräfte der Moderne, die Rimbaud noch beflügelt hatten, waren zu seiner Zeit längst in ihr Gegenteil verkehrt. Gorz' Werk ist geprägt von sozialkritischen Rückbindungsversuchen und einem vernünftigen Umgang mit der Welt. Im schreibenden Kampf mit dem lebensmüden, fremd bleibenden Ich erfuhr er schließlich die Magie von Literatur: "Sie ließ mich dadurch zur Existenz gelangen, dass ich meine Weigerung zu existieren geschrieben hatte."
Dorine Gorz dagegen brauchte keine "seelischen Prothesen, die die Doktrinen, Theorie und Denksysteme darstellen", mit denen sich ihr Mann ständig beschäftigte. Wenn auch selbst zerbrechlich, so hatte sie früh ihre Zerbrechlichkeit überwunden; anders als er brauchte sie niemanden mehr, der ihr einen Platz zuwies. Gorz erkannte, dass das "unsichtbare Band" zu seiner Frau, deren Stärke ihm den Zugang zu einer beschützenden und beschützten Welt wies, der es ihm überhaupt ermöglichte, die Wirklichkeit im Leben zu ertragen und im Schreiben zu bewältigen. Erst in der Begegnung mit ihr wurde ihm ein "Platz geschaffen", der ihm "ursprünglich abgesprochen" worden war. Erst die Erfahrung dieser Liebe hatte ihn dazu geführt, überhaupt "existieren zu wollen", seine Bindung an sie wurde zur "Triebfeder einer existentiellen Bekehrung".
Warum aber dann "bist Du in all dem, was ich geschrieben habe, so wenig präsent, während doch unsere Verbindung das Wichtigste in meinem Leben gewesen ist"? So fragt Gorz in seinem Brief gleich zu Beginn. Vielleicht, weil er all die Jahre mit der Bändigung seiner inneren Fliehkräfte so beschäftigt war. Dass diese Liebe jedoch nicht nur die "Triebfeder" seines Lebens und Schaffens, sondern das Bindemittel, vielleicht auch das Bindeglied war, das ihn in der Welt hielt, davon zeugt dieses Buch. Darin schildert Gorz am Ende einen Traum: Ein Mann, der Gorz selber ist, folgt einem Leichenwagen, in dem seine Frau liegt: "Ich will nicht bei Deiner Einäscherung dabei sein; ich will kein Gefäß mit Deiner Asche erhalten." Das wird er nun nicht mehr. Aber sie hat noch vor dem gemeinsamen Ende diesen zarten Liebesbrief erhalten, der deutlich macht, warum die Ehe als ein Bund fürs Leben bezeichnet wird; aber auch, warum der Tod in Verbindung mit geglückter Liebe im Grunde keinen Anlass zur Trauer bietet, nämlich dann, wenn er Anstoß zum Schreiben eines sehr wahrhaftigen Buches über die "Geschichte einer Liebe" war. Frei nach Goethe: Was im Leben uns beglückt, uns im Briefe hier verzückt.
FRIEDERIKE REENTS
André Gorz: "Brief an D.". Geschichte einer Liebe. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Rotpunktverlag, Zürich 2007. 98 S., geb., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Geschichte einer Liebe: André Gorz' langer Brief zum langen Abschied
Was im Leben uns verdrießt: unglückliche Liebe etwa oder der Tod. Im Bilde aber, so Goethe weiter, also im Theater oder in einem Roman, können wir davon nicht genug kriegen. Unser entfachtes Mitleid gilt Romeo und Julia, Emilia Galotti oder dem jungen Werther, deren Scheitern der großen Liebe einhergeht mit Verzweiflung, rundum gebrochenen Herzen und so oft mit dramatischem Tod zumindest eines Beteiligten. Über den Tod aus Liebe zu schreiben, wie Shakespeare, Lessing oder Goethe, ist eine Sache; wirklich Hand an sich selbst zu legen, eine ganz andere, wenn auch unter Schriftstellern keine seltene. Der französische Philosoph André Gorz hat sich vor wenigen Wochen zusammen mit seiner langjährigen, fast gleichaltrigen und schwerkranken Ehefrau Dorine im gemeinsamen Landhaus in der Champagne das Leben genommen. Was bleibt, ist sein Werk, darunter, gleichermaßen als letzter Wille, sein "Brief an D." (Dorine), die "Geschichte einer Liebe". Es ist weit mehr als eine Liebeserklärung, die Gorz nach so vielen Ehejahren seiner Frau macht, es ist seine Lebenserklärung.
Gorz wollte es so, dass dieses Buch, das im Original bereits im Herbst vergangenen Jahres erschien und in Frankreich ein Bestseller wurde, sein letztes werden würde, und er hat diesen Willen selber eingelöst - die deutsche Ausgabe kam fast zeitgleich mit dem Tod der Eheleute auf den Markt. "Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen", schreibt er am Ende seines knapp hundert Seiten langen Briefs. Ursprünglich war keine Veröffentlichung geplant, Freunde überredeten ihn dazu, und seine Frau akzeptierte, wie so oft, seine Entscheidung. Haben sie alle, die Freunde, der Verleger, der Lektor nicht genau genug gelesen, um zu erkennen, welcher Entschluss am Ende dieses Abschiedsbriefes steht?
Der Wunsch, keiner möge den anderen überleben, ist unter Menschen, die einander in Liebe verbunden sind, zunächst verständlich; brisant wird er erst, wenn er umgesetzt werden soll, denn dazu gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit. Michel Contat von "Le Monde" hatte die beiden noch in ihrem Haus besucht und bekam auf die Frage nach diesem heiklen Punkt eine Antwort, die man sich schon denken konnte, wenn man Gorz' Schriften gelesen hatte: dass man sich mit dem Leben arrangiere, so, wie es eben nun einmal sei; diese Gegenwart im Hier und Jetzt reiche ihnen beiden aus. Anfang der sechziger Jahre hatte Gorz darüber in der Zeitschrift "Les Temps Modernes", deren Mitbegründer er war, geschrieben: "Man muss akzeptieren, endlich zu sein: hier und nirgendwo anders zu sein, dies und nicht jenes zu tun, jetzt oder nicht nie oder immer, nur dieses Leben zu haben." Das Akzeptieren der Endlichkeit schließt eine bewusst herbeigeführte Endlichkeit nicht aus. Das "Haben" des Lebens enthält die Möglichkeit des Aufgebens. Gorz hatte von den französischen Existentialisten, allen voran Sartre, seinem Vorbild, Freund und Förderer, viel gelernt; in entscheidenden Lebens- und Liebesfragen jedoch, wie der der partnerschaftlichen Treue, die Sartre und Simone de Beauvoir anders zu handhaben pflegten, ließ er sich nicht beeinflussen.
Gorz, der österreichische Jude, und die junge Engländerin Dorine waren sich in sehr jungen Jahren in Lausanne begegnet. Gorz schildert in seinem "Brief", wie ihn der coup de foudre wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf, wie er seine einzige Liebe erkannte, und zwar auf den ersten Blick. Gorz, der ursprünglich Gerhard Hirsch hieß, verbrachte die Kriegsjahre unter dem Namen Gérard Horst in Schweizer Internaten. 1949, als er schließlich mit seiner Frau nach Paris zog, änderte er ein weiteres Mal seinen Namen, arbeitete als Michel Bosquet als angesehener Journalist (viele Jahre als stellvertretender Chefredakteur) beim "Nouvel Observateur". Erst als André Gorz, an der Seite seiner Dorine, wurde er zu dem, was er war: "Dein Leben ist Schreiben. Also schreib!", hatte sie ihn immer wieder ermutigt, ihm bei seinen Werken beratend und unterstützend zur Seite gestanden und zum Teil auch tagelanges Schweigen in Kauf genommen.
Und Gorz schrieb, um die Angst zu bannen: "Ich wurde nie eins mit jenem Ich, das ich behandelte, als wäre es ein Anderer." Das klingt zunächst verdächtig nach Arthur Rimbauds berühmtem Ausspruch "Je est un autre" ("Ich ist ein Anderer"). Während Rimbaud nach maximaler künstlerischer Entgrenzung strebte und sich als selbstermächtigter Seher in der Tradition Baudelaires sah, war bei Gorz der entgrenzte, zerrissene Zustand Ausgangspunkt, um dessen Aufhebung er zeit seines Lebens rang. Die Fliehkräfte der Moderne, die Rimbaud noch beflügelt hatten, waren zu seiner Zeit längst in ihr Gegenteil verkehrt. Gorz' Werk ist geprägt von sozialkritischen Rückbindungsversuchen und einem vernünftigen Umgang mit der Welt. Im schreibenden Kampf mit dem lebensmüden, fremd bleibenden Ich erfuhr er schließlich die Magie von Literatur: "Sie ließ mich dadurch zur Existenz gelangen, dass ich meine Weigerung zu existieren geschrieben hatte."
Dorine Gorz dagegen brauchte keine "seelischen Prothesen, die die Doktrinen, Theorie und Denksysteme darstellen", mit denen sich ihr Mann ständig beschäftigte. Wenn auch selbst zerbrechlich, so hatte sie früh ihre Zerbrechlichkeit überwunden; anders als er brauchte sie niemanden mehr, der ihr einen Platz zuwies. Gorz erkannte, dass das "unsichtbare Band" zu seiner Frau, deren Stärke ihm den Zugang zu einer beschützenden und beschützten Welt wies, der es ihm überhaupt ermöglichte, die Wirklichkeit im Leben zu ertragen und im Schreiben zu bewältigen. Erst in der Begegnung mit ihr wurde ihm ein "Platz geschaffen", der ihm "ursprünglich abgesprochen" worden war. Erst die Erfahrung dieser Liebe hatte ihn dazu geführt, überhaupt "existieren zu wollen", seine Bindung an sie wurde zur "Triebfeder einer existentiellen Bekehrung".
Warum aber dann "bist Du in all dem, was ich geschrieben habe, so wenig präsent, während doch unsere Verbindung das Wichtigste in meinem Leben gewesen ist"? So fragt Gorz in seinem Brief gleich zu Beginn. Vielleicht, weil er all die Jahre mit der Bändigung seiner inneren Fliehkräfte so beschäftigt war. Dass diese Liebe jedoch nicht nur die "Triebfeder" seines Lebens und Schaffens, sondern das Bindemittel, vielleicht auch das Bindeglied war, das ihn in der Welt hielt, davon zeugt dieses Buch. Darin schildert Gorz am Ende einen Traum: Ein Mann, der Gorz selber ist, folgt einem Leichenwagen, in dem seine Frau liegt: "Ich will nicht bei Deiner Einäscherung dabei sein; ich will kein Gefäß mit Deiner Asche erhalten." Das wird er nun nicht mehr. Aber sie hat noch vor dem gemeinsamen Ende diesen zarten Liebesbrief erhalten, der deutlich macht, warum die Ehe als ein Bund fürs Leben bezeichnet wird; aber auch, warum der Tod in Verbindung mit geglückter Liebe im Grunde keinen Anlass zur Trauer bietet, nämlich dann, wenn er Anstoß zum Schreiben eines sehr wahrhaftigen Buches über die "Geschichte einer Liebe" war. Frei nach Goethe: Was im Leben uns beglückt, uns im Briefe hier verzückt.
FRIEDERIKE REENTS
André Gorz: "Brief an D.". Geschichte einer Liebe. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Rotpunktverlag, Zürich 2007. 98 S., geb., 15,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Viel mehr als eine Liebeserklärung erkennt Friederike Reents in diesem letzten Buch von Andre Gorz. "Es ist seine Lebenserklärung", befindet sie und entwickelt für uns umgekehrt aus der Geschichte eines Lebens die Geschichte einer Liebe. Sie beschreibt die Ängste, mit denen Gorz lebenslang zu kämpfen hatte und die einzig die unumstößliche lebenslange Liebe zu seiner Frau zu relativieren imstande war. Für Reents verdeutlicht das Buch, wieso die Ehe ein Bund fürs Leben genannt wird, und dass eine glückliche Liebe dem Tod die Trauer nehmen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH