»Nicht auch noch Sie! Calais ist zu einem Zoo geworden, und ich bin eine Kassenfrau in diesem Zoo«, schreibt eine Bewohnerin von Calais an Emmanuel Carrère, als er im Frühjahr 2016 in der nordfranzösischen Stadt eintrifft, um eine Reportage zu schreiben. Früher berühmt für die Herstellung von Webspitze, ist Calais heute für seinen 'Dschungel' berüchtigt, das mittlerweile geräumte, größte Flüchtlingscamp Europas, Sinnbild für das Versagen von Politik, für empathielos zur Schau gestelltes Mitleid, für ein Europa im Zangengriff seiner eigenen Werte und Interessen, aber auch für das Ankämpfen gegen all das. Nein, Carrère schreibt nicht über den 'Dschungel', sondern antwortet mit einer politischen Reportage in Briefform, in der er die Einwohner von Calais, ihre Verelendung, Arbeitslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit, aber auch ihren Idealismus und ihre hochgehaltenen Hoffnungen zu verstehen versucht. Er trifft Menschen aus allen Schichten und mit verschiedensten politischen Ansichten und zeichnet ein überraschendes Bild einer französischen Gesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Calais sehen und schreiben
Rückblick auf den Ausnahmezustand: Emmanuel Carrères Reportage über die französische Hafenstadt in den Tagen der Flüchtlingsströme.
Von Lena Bopp
Der treffendste Satz über Emmanuel Carrère stand vor ein paar Jahren im "Guardian". Er sei, schrieb eine Journalistin in ihrem Porträt, der bekannteste französische Autor, von dem ihre britischen Leser vermutlich noch nie gehört hätten. Das war tatsächlich nicht unwahrscheinlich. Lange war der 1957 geborene Carrère über die Grenzen Frankreichs hinaus weitgehend unbekannt, während er in seiner Heimat längst zu den etablierten Schriftstellern zählte. Innerhalb weniger Jahre hat sich das geändert. Mittlerweile wird auch bei uns nicht nur jedes neue, von Matthes & Seitz stets sorgfältig verlegte Buch von ihm mit Neugier erwartet. Es wird auch noch der kürzeste Text von Carrère übersetzt und als Buch veröffentlicht, selbst wenn er, wie der "Brief an eine Zoowärterin aus Calais" in Frankreich nur in einer Zeitschrift erschien.
Die jährlich viermal erscheinende "Revue XXI" hat sich dem verschrieben, was sie auf ihrer nur mit dem Allernötigsten versehenen Internetseite als "slow journalism" bezeichnet. Der immer schneller werdenden Jagd nach Nachrichten setzt sie Texte entgegen, die Zeit brauchen, sowohl bei Entstehung als auch bei Lektüre. In ihr erscheinen vor allem lange Reportagen, für die in anderen Zeitungen und Zeitschriften kein Platz ist, so wie ebenjener Text aus Calais, für den Emmanuel Carrère im Winter 2015/16 zwei Wochen in der nordfranzösischen Stadt verbrachte. Calais, so schreibt Carrère, bekam viel Besuch in jenen Tagen. Der Regisseur Laurent Cantet war da, auch Michael Haneke, später sogar Pamela Anderson. Sie alle wollten sich ein Bild von jenem "Dschungel" genannten Lager machen, in dem Tausende Flüchtlinge überwiegend aus Afrika unter erbärmlichen Bedingungen hausten und auf eine Gelegenheit warteten, durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal nach England zu gelangen.
Carrère kam also zu einer Zeit, in der das Kind bereits in den Brunnen gefallen war, und genau davon handelt sein Text. Von der peinlichen Erkenntnis, dass er selbst in gewisser Weise zu jenen Sensationskünstlern zählt, die nur kommen, weil sie versuchen wollen, den Schrecken in ein Werk zu verwandeln; von dem Überdruss der Bewohner von Calais, die, als hätten sie es nicht schon schwer genug, mitansehen müssen, wie vor den Toren ihrer Stadt ein schrecklicher Slum entsteht, der weit mehr Interesse erregt, als ihr eigenes Schicksal jemals geweckt hat; und von der Schwierigkeit, angesichts der traurigen Berühmtheit, die Calais erreicht hat, überhaupt über die Stadt zu schreiben, ohne längst zu Gemeinplätzen gewordene Worte zu bemühen.
Carrère löst dieses Problem auf seine Weise, indem er nämlich etwas tut, was viele seiner bisherigen Bücher kennzeichnet, teils auch jene, die als Romane bezeichnet sind: Er bringt sich selbst in den Text ein - als handelnde, schreibende und beides stets reflektierende Figur, so dass man bei der Lektüre den Eindruck bekommt, nicht nur eine Geschichte zu lesen, sondern ihr auch beim Entstehen zuzusehen. So war jüngst sein "Russischer Roman" konzipiert und auch "Das Reich Gottes", das im vergangenen Jahr in der wunderbar präzisen deutschen Übersetzung von Claudia Hamm erschien. Im Text über Calais kommt hinzu, dass Carrère ihn teilweise als Antwort auf einen Brief formuliert, den er kurz nach seiner Ankunft in der Stadt tatsächlich erhalten hatte. Eine Frau, die sich später als ortsansässige Journalistin zu erkennen gab, warf ihm vor, auf Kosten ihrer Heimat eine Geschichte schreiben zu wollen, die, weil er in nur zwei Wochen kaum etwas Neues erfahren könne, einen weiteren Sargnagel für den Ruf von Calais bedeuten werde.
Der Vorwurf ist begründet. Carrère weiß das, er versucht nicht, diese Kritik zu entkräften. Vielmehr nimmt er sie in Form von langen Zitaten in seinen Text auf und damit in einer Weise ernst, die deutlich macht, wie groß das Dilemma nicht nur für ihn, sondern für jeden geworden ist, der sich mit der Situation in Calais beschäftigt. Das gilt vor allem für jene, die dort leben und denen Carrères besondere Aufmerksamkeit gilt. Um nämlich nicht die x-te Reportage über das Lager zu schreiben, hatte er sich vorgenommen, den Blickwinkel zu wechseln, sich nicht auf den Dschungel, sondern auf die Stadt und ihre Bewohner zu konzentrieren. "All meine Gesprächspartner begrüßen dieses Vorhaben lebhaft: ,Es stimmt', höre ich allerorten, ,wir haben genug davon, dass man nur deswegen über uns spricht. Und auch wir selbst haben genug davon, immer nur darüber zu sprechen.' Woraufhin wir unausweichlich beginnen, ,darüber' zu sprechen." Carrère ist gerade erst angekommen, sein Text noch keine zehn Seiten lang, als klar wird, dass sich die Stadt nicht mehr ohne das Lager denken lässt. Womit auch der Vorwurf der Lokaljournalistin, Carrère sei einer dieser Promis, "die hier in Calais ihre Schäfchen ins Trockene bringen und uns, die wir in seinen Mauern eingeschlossen sind, als Laborratten betrachten", ins Leere zielt. Denn es gibt nicht nur den "Dschungel" bei Calais. Calais ist der Dschungel.
Wie soll es auch anders sein? Im Osten der Stadt, wo der Tunnel beginnt, hat sich die Landschaft peu à peu in ein militärisches Sperrgebiet verwandelt. Hohe Zäune sollen die Flüchtlinge daran hindern, auf die Autobahn zu laufen, um dort einen Lkw zu erwischen. Am Tunnel selbst wird mit Hunden, Infrarotstrahlern und Herzschlagsensoren nach ihnen gesucht. Zudem hatte man etwa ein Jahr bevor das Lager Ende Oktober 2016 endgültig aufgelöst, seine Bewohner in andere Städte verteilt und ihre Zelte abgebrannt wurden, ein hundert Hektar großes Gelände gerodet und geflutet, um noch das letzte Schlupfloch zu schließen. Und natürlich hat dieser Ausnahmezustand, der in Calais lange zum Alltag gehörte, jeden gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen und dazu Position zu beziehen, was dann auch in der erwartbaren Weise geschah.
Carrère ist Rassisten und Idealisten begegnet, er hat die Ruinen des alten Calais gesehen, das einst durch die Produktion von feiner Spitze zu Reichtum gekommen war, und sich das gegenwärtige Calais erlaufen, er war in Cafés, Bars und bei den Leuten von nebenan - und umkreist dabei immer den Glutkern der Stadt, den das Lager bildet. Er ist ihm ausgewichen und überall begegnet. Und hat so die Ausweglosigkeit, die alle in Calais im Griff hatte, weit besser eingefangen als andere.
Emmanuel Carrère: "Brief an eine Zoowärterin aus Calais".
Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 71 S., br., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rückblick auf den Ausnahmezustand: Emmanuel Carrères Reportage über die französische Hafenstadt in den Tagen der Flüchtlingsströme.
Von Lena Bopp
Der treffendste Satz über Emmanuel Carrère stand vor ein paar Jahren im "Guardian". Er sei, schrieb eine Journalistin in ihrem Porträt, der bekannteste französische Autor, von dem ihre britischen Leser vermutlich noch nie gehört hätten. Das war tatsächlich nicht unwahrscheinlich. Lange war der 1957 geborene Carrère über die Grenzen Frankreichs hinaus weitgehend unbekannt, während er in seiner Heimat längst zu den etablierten Schriftstellern zählte. Innerhalb weniger Jahre hat sich das geändert. Mittlerweile wird auch bei uns nicht nur jedes neue, von Matthes & Seitz stets sorgfältig verlegte Buch von ihm mit Neugier erwartet. Es wird auch noch der kürzeste Text von Carrère übersetzt und als Buch veröffentlicht, selbst wenn er, wie der "Brief an eine Zoowärterin aus Calais" in Frankreich nur in einer Zeitschrift erschien.
Die jährlich viermal erscheinende "Revue XXI" hat sich dem verschrieben, was sie auf ihrer nur mit dem Allernötigsten versehenen Internetseite als "slow journalism" bezeichnet. Der immer schneller werdenden Jagd nach Nachrichten setzt sie Texte entgegen, die Zeit brauchen, sowohl bei Entstehung als auch bei Lektüre. In ihr erscheinen vor allem lange Reportagen, für die in anderen Zeitungen und Zeitschriften kein Platz ist, so wie ebenjener Text aus Calais, für den Emmanuel Carrère im Winter 2015/16 zwei Wochen in der nordfranzösischen Stadt verbrachte. Calais, so schreibt Carrère, bekam viel Besuch in jenen Tagen. Der Regisseur Laurent Cantet war da, auch Michael Haneke, später sogar Pamela Anderson. Sie alle wollten sich ein Bild von jenem "Dschungel" genannten Lager machen, in dem Tausende Flüchtlinge überwiegend aus Afrika unter erbärmlichen Bedingungen hausten und auf eine Gelegenheit warteten, durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal nach England zu gelangen.
Carrère kam also zu einer Zeit, in der das Kind bereits in den Brunnen gefallen war, und genau davon handelt sein Text. Von der peinlichen Erkenntnis, dass er selbst in gewisser Weise zu jenen Sensationskünstlern zählt, die nur kommen, weil sie versuchen wollen, den Schrecken in ein Werk zu verwandeln; von dem Überdruss der Bewohner von Calais, die, als hätten sie es nicht schon schwer genug, mitansehen müssen, wie vor den Toren ihrer Stadt ein schrecklicher Slum entsteht, der weit mehr Interesse erregt, als ihr eigenes Schicksal jemals geweckt hat; und von der Schwierigkeit, angesichts der traurigen Berühmtheit, die Calais erreicht hat, überhaupt über die Stadt zu schreiben, ohne längst zu Gemeinplätzen gewordene Worte zu bemühen.
Carrère löst dieses Problem auf seine Weise, indem er nämlich etwas tut, was viele seiner bisherigen Bücher kennzeichnet, teils auch jene, die als Romane bezeichnet sind: Er bringt sich selbst in den Text ein - als handelnde, schreibende und beides stets reflektierende Figur, so dass man bei der Lektüre den Eindruck bekommt, nicht nur eine Geschichte zu lesen, sondern ihr auch beim Entstehen zuzusehen. So war jüngst sein "Russischer Roman" konzipiert und auch "Das Reich Gottes", das im vergangenen Jahr in der wunderbar präzisen deutschen Übersetzung von Claudia Hamm erschien. Im Text über Calais kommt hinzu, dass Carrère ihn teilweise als Antwort auf einen Brief formuliert, den er kurz nach seiner Ankunft in der Stadt tatsächlich erhalten hatte. Eine Frau, die sich später als ortsansässige Journalistin zu erkennen gab, warf ihm vor, auf Kosten ihrer Heimat eine Geschichte schreiben zu wollen, die, weil er in nur zwei Wochen kaum etwas Neues erfahren könne, einen weiteren Sargnagel für den Ruf von Calais bedeuten werde.
Der Vorwurf ist begründet. Carrère weiß das, er versucht nicht, diese Kritik zu entkräften. Vielmehr nimmt er sie in Form von langen Zitaten in seinen Text auf und damit in einer Weise ernst, die deutlich macht, wie groß das Dilemma nicht nur für ihn, sondern für jeden geworden ist, der sich mit der Situation in Calais beschäftigt. Das gilt vor allem für jene, die dort leben und denen Carrères besondere Aufmerksamkeit gilt. Um nämlich nicht die x-te Reportage über das Lager zu schreiben, hatte er sich vorgenommen, den Blickwinkel zu wechseln, sich nicht auf den Dschungel, sondern auf die Stadt und ihre Bewohner zu konzentrieren. "All meine Gesprächspartner begrüßen dieses Vorhaben lebhaft: ,Es stimmt', höre ich allerorten, ,wir haben genug davon, dass man nur deswegen über uns spricht. Und auch wir selbst haben genug davon, immer nur darüber zu sprechen.' Woraufhin wir unausweichlich beginnen, ,darüber' zu sprechen." Carrère ist gerade erst angekommen, sein Text noch keine zehn Seiten lang, als klar wird, dass sich die Stadt nicht mehr ohne das Lager denken lässt. Womit auch der Vorwurf der Lokaljournalistin, Carrère sei einer dieser Promis, "die hier in Calais ihre Schäfchen ins Trockene bringen und uns, die wir in seinen Mauern eingeschlossen sind, als Laborratten betrachten", ins Leere zielt. Denn es gibt nicht nur den "Dschungel" bei Calais. Calais ist der Dschungel.
Wie soll es auch anders sein? Im Osten der Stadt, wo der Tunnel beginnt, hat sich die Landschaft peu à peu in ein militärisches Sperrgebiet verwandelt. Hohe Zäune sollen die Flüchtlinge daran hindern, auf die Autobahn zu laufen, um dort einen Lkw zu erwischen. Am Tunnel selbst wird mit Hunden, Infrarotstrahlern und Herzschlagsensoren nach ihnen gesucht. Zudem hatte man etwa ein Jahr bevor das Lager Ende Oktober 2016 endgültig aufgelöst, seine Bewohner in andere Städte verteilt und ihre Zelte abgebrannt wurden, ein hundert Hektar großes Gelände gerodet und geflutet, um noch das letzte Schlupfloch zu schließen. Und natürlich hat dieser Ausnahmezustand, der in Calais lange zum Alltag gehörte, jeden gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen und dazu Position zu beziehen, was dann auch in der erwartbaren Weise geschah.
Carrère ist Rassisten und Idealisten begegnet, er hat die Ruinen des alten Calais gesehen, das einst durch die Produktion von feiner Spitze zu Reichtum gekommen war, und sich das gegenwärtige Calais erlaufen, er war in Cafés, Bars und bei den Leuten von nebenan - und umkreist dabei immer den Glutkern der Stadt, den das Lager bildet. Er ist ihm ausgewichen und überall begegnet. Und hat so die Ausweglosigkeit, die alle in Calais im Griff hatte, weit besser eingefangen als andere.
Emmanuel Carrère: "Brief an eine Zoowärterin aus Calais".
Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 71 S., br., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main