Thomas Mann hat neben seinen Romanen, Erzählungen und Essays ein gewaltiges Briefwerk hinterlassen. Im Rahmen der "Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe" wird eine Auswahl getroffen, die Briefe werden neu ediert und ausführlich kommentiert. Der erste Band umfasst die frühen Jahre, die wichtigen Briefe an den Jugendfreund Otto Grautoff und an die Förderin Ida Boy-Ed. Der Austausch mit dem Bruder Heinrich Mann spielt eine wesentliche Rolle, durch die Korrespondenz lässt sich der Werdegang Thomas Manns von den ersten dichterischen Versuchen bis hin zum arrivierten Schriftsteller verfolgen. Wesentliche Briefpartner dieser Jahre sind neben den bereits Genannten Julius Bab und Ernst Bertram, Philipp Witkop, Kurt Martens und Richard Schaukal, die Schriftsteller Hofmannsthal, Schnitzler, Dehmel und Wassermann, der Maler Paul Ehrenberg und natürlich der Verleger Samuel Fischer. Außerdem beinhaltet der Band die Briefe an die zukünftige Ehefrau Katia Pringsheim.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2003Das große Geschwätz
Thomas Manns "Zauberberg", neu kommentiert
Es ist schlimm, wenn die ganze Misere der Zeit und des Vaterlandes auf einem liegt, ohne daß man die Kräfte hat, sie zu gestalten." Wie könnte ein Epochen- , ein Zeitroman, etwas sehr Repräsentatives heute aussehen? Das deutsche Hänschen, das sich weigert, in Fragen von weltgeschichtlicher Bedeutung Farbe zu bekennen und auf die Vorhaltungen von seiten westlicher Zivilisation mit einem Schweigen antwortet, das man als verstockt werten muß - dieses Hänschen gibt es nicht mehr. Es ist ausgestorben; und die vertrauten Antithesen Ost-West, Kultur-Zivilisation sind es möglicherweise auch. Thomas Mann führte über seine Ideen- und Kraftlosigkeit Klage gegenüber dem Bruder Heinrich im November 1913, am Vor-Vorabend des großen Donnerschlags. Er litt darunter, daß er eine Antwort, nach der die Zeit verlangte, nicht fand. Ihm war seit dem ersten Roman nichts mehr eingefallen. "Bloß larmoyant" kam ihm der "Tonio Kröger" alsbald vor, "eitel" seine "Königliche Hoheit" und "halb gebildet und falsch" der "Tod in Venedig". Seine Frau bekam ein Kind nach dem anderen, und er verzettelte sich mit Projekten wie "Geist und Kunst" und dem halbseidenen "Felix Krull". Zu verzeichnen war, nach dem Wunder des ersten Romans, eine Durststrecke, die es in sich hatte.
Michael Neumann, Herausgeber des Romans, mit dem alles wieder gut wurde, verzeichnet "geradezu desaströse Züge" auf Manns Weg in die Moderne. Das ist, angesichts der populären Werke aus der fast ein Vierteljahrhundert langen Überbrückungszeit, eine harte, aber gerechtfertigte Diagnose. Der "Zauberberg" aber wäre nie ein solcher Epochenroman geworden, hätte die "zeitdiagnostische Ebene", von der Neumann im Kapitel zur Entstehungsgeschichte spricht, sich nicht als so tragfähig erwiesen. Wir sind es gewohnt, diesen Roman, wie eigentlich alles von diesem Autor, als ein Kunstwerk zu betrachten, dessen zeitgeschichtlicher Gehalt gewissermaßen vertilgt wird von einer Sprache, die sich mit einer Kunstfertigkeit, die nicht jedermann angenehm ist, ums Individuelle kümmert. Daß Neumann an einer entscheidenden Stelle seines Kommentars den Akzent anders legt, erlaubt es uns, das Diktum, mit dem Thomas Mann seinen Anspruch auf Repräsentativität ein Leben lang rechtfertigte - daß Zeitkritik immer Selbstkritik sei -, umgekehrt zu sehen. Hier liegt, wenn man so will, der Keim zum Roman, der sich in zwölf Jahren mit massiver Unterbrechung auf zwei Bände auswuchs und das Ineinandergreifen des Individuellen und Allgemeinen auf eine unerklärliche, aber beglückende Weise bewerkstelligte. Die von Thomas Mann selbst der Philologie hingeworfenen Informationshappen zur Entstehungsgeschichte sind deshalb nicht irrelevant; aber sie betreffen nur äußere Anlässe: Katjas Kur, Homosexuellenphantasien und das Bedürfnis, nach der Venedig-Erzählung wieder etwas Lustiges zu schreiben.
Selbstkritik also immer Zeitkritik: Castorps geistig-sittliche Indifferenz, seine "Glaubenslosigkeit und Aussichtslosigkeit" fallen auf die Epoche zurück, sie sind "geistige Zeitbestimmtheit". Denn daß die Zeit selbst auf die Frage "nach einem letzten, mehr als persönlichen, unbedingten Sinn aller Anstrengung und Tätigkeit ein hohles Schweigen entgegensetzt", das nimmt der Hanseat nicht als Entschuldigung, sondern als Ursache für den unehrenhaften Abgang aus der werktätigen Welt, die in der Sanatoriumsatmosphäre eine Alternative findet, deren Reizen auch der Tüchtigste, der Castorp ohnehin nicht ist, verfallen wäre. Wie Hanno Buddenbrook aus einer verrotteten Familie, so kommt Castorp aus einer verotteten Zeit. Der Abschnitt, in dem von der epochalen Indifferenz die Rede ist, gehört zu den wenigen Stellen, an denen Neumann seine Zurückhaltung in Fragen der Interpretation ablegt. Es ist deshalb viel ausgesagt über den Roman, wenn die zeitdiagnostische Ebene in dessen "Handlungszentrum" verlegt wird und nicht etwa die individualgeschichtliche, mit Versatzstücken aus dem Bildungsroman unterlegte Geschichte vom arbeitsscheuen Mittelmaß. Neumanns Knappheit hat einen Kommentarband entstehen lassen, der mit fünfhundert Seiten geradezu schlank geraten ist.
Vom Kunst- zum Künstlerwerk
Der Kommentar zu den "Buddenbrooks", den Eckhard Heftrich besorgt hat (F.A.Z. vom 22. Juni 2002), ist um die Hälfte länger. Bedenkt man, daß beim "Zauberberg" die Überlieferungslage in fast jeder Hinsicht ungleich günstiger und die Masse des von Thomas Mann bewältigten Stoffes größer ist, dann könnte man von einem Mißverhältnis sprechen. Aber von Anfang an war gewährleistet - und die sechs Hauptherausgeber haben keinen Zweifel daran gelassen -, daß die Arbeit der Einzelherausgeber individuelle Züge tragen sollte. Dennoch hätte man die Entstehungsgeschichte gerne noch etwas länger gelesen.
Die Pause, welche die "Betrachtungen eines Unpolitischen" erzwangen, bleibt mit allem, was nach der Wiederaufnahme im Frühjahr 1919 folgt, etwas schematisch abgehandelt. Nichts erfahren wir zu einem Unterschied, der für Thomas Mann von entscheidender Bedeutung war: zwischen dem Kunst- und dem Künstlerwerk. Neumann sieht keinen Grund, sich dieser Unterscheidung, welche die "Betrachtungen" in ihrer Vorrede treffen, anzunehmen - es fiele bereits ins Gebiet der Interpretation. So ist es dem Leser überlassen, sich die in der Forschung inzwischen unstrittige Tatsache zu vergegenwärtigen, daß Thomas Mann im erzählerischen Werk an Syntheseleistung glückte, was ihm im essayistischen meistens mißriet. Dem Leser ist es auch überlassen, das Kapitel zur Rezeptionsgeschichte um ein Unterkapitel zu ergänzen. Wüßte man nicht von der gleichsam negativen "Zauberberg"-Rezeption der siebziger Jahre, als nicht nur Martin Walser Abwegiges über die Ironie dieses wohl ironischsten Romans äußerte; wüßte man nicht, welche Spuren der Roman in Kempowskis grandiosen "Hundstagen" hinterlassen hat und welche Konkurrenzleistung er etwa in Thorsten Beckers "Zauberberg"-Roman (F.A.Z. vom 26. Februar 2002) erzwungen hat - wüßte man dies nicht, man könnte annehmen, die Wirkungsgeschichte des Romans ende mit dem Leben seines Autors.
Daß die "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe" sich an wissenschaftlich wie laienhaft interessierte Leser gleichermaßen wendet, will uns wie ein halsbrecherischer Spagat vorkommen, hätte sie sich nicht die Maxime des Zauberers selbst zu eigen gemacht: Thomas Mann verlangte auch nach den Dummen. Die gesamte Ausgabe fußt auf einer ungewöhnlich guten Textüberlieferung. Daß Thomas Mann zu späteren Auflagen kaum Korrekturen beigetragen und sich noch im Alter darüber beklagt hat, daß ausgerechnet die deutschen Ausgaben seiner Bücher voller Fehler seien, steht auf einem anderen Blatt - er war eben kein Detlev Spinell und hatte Besseres zu tun, als in seinem eigenen Romanen zu lesen.
Verschreibungen oder Versehen?
Was Neumanns Textbehandlung betrifft, die auf der Grundlage des Erstdrucks vom November 1924 erfolgt, so gestattet er sich Eingriffe nur in den Fällen, in denen offensichtliche Verschreibungen oder Versehen vorliegen. Bei Konsul Tienappels Abneigung gegen das Hochgebirge, in das ihn anfangs keine vier, später keine zehn Pferde kriegen, war das offensichtlich nicht der Fall. Die Frage aber, ob es sein kann, daß das Anfangsgespann Fohlen bekommen hat, ist keineswegs an die Veterinäre gerichtet. In jeder noch so kritisch durchgesehenen Ausgabe haben wir es mit einem Text zu tun, von dem Makellosigkeit nicht zu erwarten ist - die Sache mit den Pferden steht eben einfach so da: "An einigen wenigen Stellen", sagt Neumann, "sind Thomas Mann Fehler unterlaufen. So sitzt bei Castorps Frühstück das englische Fräulein erst zu seiner Linken, dann zu seiner Rechten. Ich habe in solchen Fällen grundsätzlich nicht in den Text eingegriffen." Es müssen prinzipielle Erwägungen sein und nicht solche, die mal gelten und mal nicht: "Thomas Manns Romane", fährt Neumann fort, "sind überaus dicht komponiert, und kein Herausgeber kann sicher sein, ob er nicht weniger auffällige Fäden verletzt, wenn er einen ihm auffallenden Fehler beseitigt."
Was die Quellenlage betrifft, die ein in Jahrzehnten gestählter und inzwischen bis in die hintersten Winkel des Textes vorgedrungener Forscherwille dem "Zauberberg" als zweites Zentralmassiv an die Seite gestellt hat, so unterscheidet Neumann plausibel zwischen Sachquellen und literarischen Mustern, wobei offenbleiben muß, warum etwa eine von Dietrich Fischer-Dieskau besorgte Liedersammlung von 1968 oder die Zürcher Schopenhauer-Ausgabe von 1977 unter den "Quellen" aufgeführt sind. Daß Thomas Mann das meiste ohnehin so schnell wieder vergessen hat wie Hans Castorp seinen Schneetraum, bedeutet eine fast so starke Ironie wie die am Ende durch den dummen Peeperkorn an den Tag gebrachte Bedeutungslosigkeit des Naphta-Settembrini-Geschwätzes. Das haben viele Leser bis heute nicht begriffen; sie meinen, man müßte alles, was Naphta und Settembrini sagen, auch verstehen, und sie empfinden die entsprechenden Passagen als zu intellektuell oder, was oft dasselbe ist, als langweilig. Die Philologen dürfen sich indes nicht von ihrer Arbeit abhalten lassen, nur weil alles, was in Davos so geredet wird, sein Gewicht nur im Hinblick auf die Gesamtkomposition hat. Wollte man das eine oder andere beim Nennwert nehmen, worauf Neumann sich nicht einläßt, man hätte nur einen weiteren Monsteressay wie die "Betrachtungen" vor sich.
Es kommt auf anderes an. Der "Zauberberg" ist ja, wie der "Doktor Faustus", schon ein verzweifelt deutsches Buch, was den Hang zur Gründlichkeit betrifft, sogar noch verzweifelter. "Du bist wirklich ein Galan, der seine Werbung auf gründliche Weise, wahrhaft deutsch, zu betreiben weiß." So steht es im Stellenkommentar zum fünften Kapitel. Daß die russische Katze dergleichen eigentlich auf französisch schnurrt und Neumann es übersetzt, sollte nicht davon ablenken, daß mit dieser Stelle ein weiteres Indiz für die erotische Grundierung des humoristischen Erzählens vorliegt. Dank der sorgfältig dokumentierten ausgeschiedenen Stellen und Kapitel wissen wir nun, daß bei all der Gründlichkeit des Erzählens immer noch Stoff für mehr gewesen wäre; wir sehen aber auch, daß das Ausgeschiedene zu Recht ausgeschieden ist und sich die Ökonomie doch, trotz der nun fast elfhundert Seiten, durchgesetzt hat.
Den Realienstoff und den vor allem bei Schopenhauer und Nietzsche bezogenen philosophischen Gehalt dieses Romans nimmt Neumann nicht ernster als nötig. Auch das mag man bedauern, aber den Griff zur gewaltigen Forschungsliteratur kann diese Ausgabe sowieso nicht ersetzen. Aus der Abteilung Peeperkorn/Hauptmann wissen wir, daß auch das Wort aus berufenem Berufsdenkermund eine spaßige Verfügungsmasse ist, deren Haltbarkeit die der faulen Witze der Patientin Stöhr (der Stör ist wohl, anders als Neumann meint, kein Fluß-, sondern eher ein Seefisch) kaum übertrifft.
Thomas Mann: "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe". Werke - Briefe - Tagebücher. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002 ff. Band 5.1: "Der Zauberberg". Roman. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann. Band 5.2: "Kommentar". Zus. 1620 S., geb., 49,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Thomas Manns "Zauberberg", neu kommentiert
Es ist schlimm, wenn die ganze Misere der Zeit und des Vaterlandes auf einem liegt, ohne daß man die Kräfte hat, sie zu gestalten." Wie könnte ein Epochen- , ein Zeitroman, etwas sehr Repräsentatives heute aussehen? Das deutsche Hänschen, das sich weigert, in Fragen von weltgeschichtlicher Bedeutung Farbe zu bekennen und auf die Vorhaltungen von seiten westlicher Zivilisation mit einem Schweigen antwortet, das man als verstockt werten muß - dieses Hänschen gibt es nicht mehr. Es ist ausgestorben; und die vertrauten Antithesen Ost-West, Kultur-Zivilisation sind es möglicherweise auch. Thomas Mann führte über seine Ideen- und Kraftlosigkeit Klage gegenüber dem Bruder Heinrich im November 1913, am Vor-Vorabend des großen Donnerschlags. Er litt darunter, daß er eine Antwort, nach der die Zeit verlangte, nicht fand. Ihm war seit dem ersten Roman nichts mehr eingefallen. "Bloß larmoyant" kam ihm der "Tonio Kröger" alsbald vor, "eitel" seine "Königliche Hoheit" und "halb gebildet und falsch" der "Tod in Venedig". Seine Frau bekam ein Kind nach dem anderen, und er verzettelte sich mit Projekten wie "Geist und Kunst" und dem halbseidenen "Felix Krull". Zu verzeichnen war, nach dem Wunder des ersten Romans, eine Durststrecke, die es in sich hatte.
Michael Neumann, Herausgeber des Romans, mit dem alles wieder gut wurde, verzeichnet "geradezu desaströse Züge" auf Manns Weg in die Moderne. Das ist, angesichts der populären Werke aus der fast ein Vierteljahrhundert langen Überbrückungszeit, eine harte, aber gerechtfertigte Diagnose. Der "Zauberberg" aber wäre nie ein solcher Epochenroman geworden, hätte die "zeitdiagnostische Ebene", von der Neumann im Kapitel zur Entstehungsgeschichte spricht, sich nicht als so tragfähig erwiesen. Wir sind es gewohnt, diesen Roman, wie eigentlich alles von diesem Autor, als ein Kunstwerk zu betrachten, dessen zeitgeschichtlicher Gehalt gewissermaßen vertilgt wird von einer Sprache, die sich mit einer Kunstfertigkeit, die nicht jedermann angenehm ist, ums Individuelle kümmert. Daß Neumann an einer entscheidenden Stelle seines Kommentars den Akzent anders legt, erlaubt es uns, das Diktum, mit dem Thomas Mann seinen Anspruch auf Repräsentativität ein Leben lang rechtfertigte - daß Zeitkritik immer Selbstkritik sei -, umgekehrt zu sehen. Hier liegt, wenn man so will, der Keim zum Roman, der sich in zwölf Jahren mit massiver Unterbrechung auf zwei Bände auswuchs und das Ineinandergreifen des Individuellen und Allgemeinen auf eine unerklärliche, aber beglückende Weise bewerkstelligte. Die von Thomas Mann selbst der Philologie hingeworfenen Informationshappen zur Entstehungsgeschichte sind deshalb nicht irrelevant; aber sie betreffen nur äußere Anlässe: Katjas Kur, Homosexuellenphantasien und das Bedürfnis, nach der Venedig-Erzählung wieder etwas Lustiges zu schreiben.
Selbstkritik also immer Zeitkritik: Castorps geistig-sittliche Indifferenz, seine "Glaubenslosigkeit und Aussichtslosigkeit" fallen auf die Epoche zurück, sie sind "geistige Zeitbestimmtheit". Denn daß die Zeit selbst auf die Frage "nach einem letzten, mehr als persönlichen, unbedingten Sinn aller Anstrengung und Tätigkeit ein hohles Schweigen entgegensetzt", das nimmt der Hanseat nicht als Entschuldigung, sondern als Ursache für den unehrenhaften Abgang aus der werktätigen Welt, die in der Sanatoriumsatmosphäre eine Alternative findet, deren Reizen auch der Tüchtigste, der Castorp ohnehin nicht ist, verfallen wäre. Wie Hanno Buddenbrook aus einer verrotteten Familie, so kommt Castorp aus einer verotteten Zeit. Der Abschnitt, in dem von der epochalen Indifferenz die Rede ist, gehört zu den wenigen Stellen, an denen Neumann seine Zurückhaltung in Fragen der Interpretation ablegt. Es ist deshalb viel ausgesagt über den Roman, wenn die zeitdiagnostische Ebene in dessen "Handlungszentrum" verlegt wird und nicht etwa die individualgeschichtliche, mit Versatzstücken aus dem Bildungsroman unterlegte Geschichte vom arbeitsscheuen Mittelmaß. Neumanns Knappheit hat einen Kommentarband entstehen lassen, der mit fünfhundert Seiten geradezu schlank geraten ist.
Vom Kunst- zum Künstlerwerk
Der Kommentar zu den "Buddenbrooks", den Eckhard Heftrich besorgt hat (F.A.Z. vom 22. Juni 2002), ist um die Hälfte länger. Bedenkt man, daß beim "Zauberberg" die Überlieferungslage in fast jeder Hinsicht ungleich günstiger und die Masse des von Thomas Mann bewältigten Stoffes größer ist, dann könnte man von einem Mißverhältnis sprechen. Aber von Anfang an war gewährleistet - und die sechs Hauptherausgeber haben keinen Zweifel daran gelassen -, daß die Arbeit der Einzelherausgeber individuelle Züge tragen sollte. Dennoch hätte man die Entstehungsgeschichte gerne noch etwas länger gelesen.
Die Pause, welche die "Betrachtungen eines Unpolitischen" erzwangen, bleibt mit allem, was nach der Wiederaufnahme im Frühjahr 1919 folgt, etwas schematisch abgehandelt. Nichts erfahren wir zu einem Unterschied, der für Thomas Mann von entscheidender Bedeutung war: zwischen dem Kunst- und dem Künstlerwerk. Neumann sieht keinen Grund, sich dieser Unterscheidung, welche die "Betrachtungen" in ihrer Vorrede treffen, anzunehmen - es fiele bereits ins Gebiet der Interpretation. So ist es dem Leser überlassen, sich die in der Forschung inzwischen unstrittige Tatsache zu vergegenwärtigen, daß Thomas Mann im erzählerischen Werk an Syntheseleistung glückte, was ihm im essayistischen meistens mißriet. Dem Leser ist es auch überlassen, das Kapitel zur Rezeptionsgeschichte um ein Unterkapitel zu ergänzen. Wüßte man nicht von der gleichsam negativen "Zauberberg"-Rezeption der siebziger Jahre, als nicht nur Martin Walser Abwegiges über die Ironie dieses wohl ironischsten Romans äußerte; wüßte man nicht, welche Spuren der Roman in Kempowskis grandiosen "Hundstagen" hinterlassen hat und welche Konkurrenzleistung er etwa in Thorsten Beckers "Zauberberg"-Roman (F.A.Z. vom 26. Februar 2002) erzwungen hat - wüßte man dies nicht, man könnte annehmen, die Wirkungsgeschichte des Romans ende mit dem Leben seines Autors.
Daß die "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe" sich an wissenschaftlich wie laienhaft interessierte Leser gleichermaßen wendet, will uns wie ein halsbrecherischer Spagat vorkommen, hätte sie sich nicht die Maxime des Zauberers selbst zu eigen gemacht: Thomas Mann verlangte auch nach den Dummen. Die gesamte Ausgabe fußt auf einer ungewöhnlich guten Textüberlieferung. Daß Thomas Mann zu späteren Auflagen kaum Korrekturen beigetragen und sich noch im Alter darüber beklagt hat, daß ausgerechnet die deutschen Ausgaben seiner Bücher voller Fehler seien, steht auf einem anderen Blatt - er war eben kein Detlev Spinell und hatte Besseres zu tun, als in seinem eigenen Romanen zu lesen.
Verschreibungen oder Versehen?
Was Neumanns Textbehandlung betrifft, die auf der Grundlage des Erstdrucks vom November 1924 erfolgt, so gestattet er sich Eingriffe nur in den Fällen, in denen offensichtliche Verschreibungen oder Versehen vorliegen. Bei Konsul Tienappels Abneigung gegen das Hochgebirge, in das ihn anfangs keine vier, später keine zehn Pferde kriegen, war das offensichtlich nicht der Fall. Die Frage aber, ob es sein kann, daß das Anfangsgespann Fohlen bekommen hat, ist keineswegs an die Veterinäre gerichtet. In jeder noch so kritisch durchgesehenen Ausgabe haben wir es mit einem Text zu tun, von dem Makellosigkeit nicht zu erwarten ist - die Sache mit den Pferden steht eben einfach so da: "An einigen wenigen Stellen", sagt Neumann, "sind Thomas Mann Fehler unterlaufen. So sitzt bei Castorps Frühstück das englische Fräulein erst zu seiner Linken, dann zu seiner Rechten. Ich habe in solchen Fällen grundsätzlich nicht in den Text eingegriffen." Es müssen prinzipielle Erwägungen sein und nicht solche, die mal gelten und mal nicht: "Thomas Manns Romane", fährt Neumann fort, "sind überaus dicht komponiert, und kein Herausgeber kann sicher sein, ob er nicht weniger auffällige Fäden verletzt, wenn er einen ihm auffallenden Fehler beseitigt."
Was die Quellenlage betrifft, die ein in Jahrzehnten gestählter und inzwischen bis in die hintersten Winkel des Textes vorgedrungener Forscherwille dem "Zauberberg" als zweites Zentralmassiv an die Seite gestellt hat, so unterscheidet Neumann plausibel zwischen Sachquellen und literarischen Mustern, wobei offenbleiben muß, warum etwa eine von Dietrich Fischer-Dieskau besorgte Liedersammlung von 1968 oder die Zürcher Schopenhauer-Ausgabe von 1977 unter den "Quellen" aufgeführt sind. Daß Thomas Mann das meiste ohnehin so schnell wieder vergessen hat wie Hans Castorp seinen Schneetraum, bedeutet eine fast so starke Ironie wie die am Ende durch den dummen Peeperkorn an den Tag gebrachte Bedeutungslosigkeit des Naphta-Settembrini-Geschwätzes. Das haben viele Leser bis heute nicht begriffen; sie meinen, man müßte alles, was Naphta und Settembrini sagen, auch verstehen, und sie empfinden die entsprechenden Passagen als zu intellektuell oder, was oft dasselbe ist, als langweilig. Die Philologen dürfen sich indes nicht von ihrer Arbeit abhalten lassen, nur weil alles, was in Davos so geredet wird, sein Gewicht nur im Hinblick auf die Gesamtkomposition hat. Wollte man das eine oder andere beim Nennwert nehmen, worauf Neumann sich nicht einläßt, man hätte nur einen weiteren Monsteressay wie die "Betrachtungen" vor sich.
Es kommt auf anderes an. Der "Zauberberg" ist ja, wie der "Doktor Faustus", schon ein verzweifelt deutsches Buch, was den Hang zur Gründlichkeit betrifft, sogar noch verzweifelter. "Du bist wirklich ein Galan, der seine Werbung auf gründliche Weise, wahrhaft deutsch, zu betreiben weiß." So steht es im Stellenkommentar zum fünften Kapitel. Daß die russische Katze dergleichen eigentlich auf französisch schnurrt und Neumann es übersetzt, sollte nicht davon ablenken, daß mit dieser Stelle ein weiteres Indiz für die erotische Grundierung des humoristischen Erzählens vorliegt. Dank der sorgfältig dokumentierten ausgeschiedenen Stellen und Kapitel wissen wir nun, daß bei all der Gründlichkeit des Erzählens immer noch Stoff für mehr gewesen wäre; wir sehen aber auch, daß das Ausgeschiedene zu Recht ausgeschieden ist und sich die Ökonomie doch, trotz der nun fast elfhundert Seiten, durchgesetzt hat.
Den Realienstoff und den vor allem bei Schopenhauer und Nietzsche bezogenen philosophischen Gehalt dieses Romans nimmt Neumann nicht ernster als nötig. Auch das mag man bedauern, aber den Griff zur gewaltigen Forschungsliteratur kann diese Ausgabe sowieso nicht ersetzen. Aus der Abteilung Peeperkorn/Hauptmann wissen wir, daß auch das Wort aus berufenem Berufsdenkermund eine spaßige Verfügungsmasse ist, deren Haltbarkeit die der faulen Witze der Patientin Stöhr (der Stör ist wohl, anders als Neumann meint, kein Fluß-, sondern eher ein Seefisch) kaum übertrifft.
Thomas Mann: "Große kommentierte Frankfurter Ausgabe". Werke - Briefe - Tagebücher. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002 ff. Band 5.1: "Der Zauberberg". Roman. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann. Band 5.2: "Kommentar". Zus. 1620 S., geb., 49,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Auf Wissenschaft und Leserschaft kommt eine neue monumentale Gesamtausgabe der Werke von Thomas Mann zu, von denen, insgesamt 38 an der Zahl, nun der erste mit Briefen aus der Zeit 1893 bis 1913 erschienen ist, berichtet Wolfram Groddeck. Acht Bände haben die Herausgeber insgesamt den Briefen vorbehalten, 25.000 sind bis heute bekannt geworden, von denen die Herausgeber 3.000 in den nächsten Jahren veröffentlichen wollen, so der Rezensent. Insgesamt haben sie sich viel vorgenommen, denn was sie mit der "Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe" wagen, sei ein editorischer Neuanfang. Texte sollen in der ursprünglichen Fassung ohne "orthografische Anpassungen" erscheinen, ergänzt um detaillierte Kommentare, informiert Groddeck. Umso erstaunter ist der Rezensent, dass sie dieses Konzept bei der Veröffentlichung der Briefe nicht eingehalten und von den Briefmanuskripten "glatte Drucktexte" erstellt haben. Unterstreichungen seien kursiv, Streichungen tauchten allenfalls im Kommentar auf, Faksimiles würden schlicht gemieden, gerade so, als sei eine Handschrift "ehrenrührig", wundert sich Groddeck. Der Band sei zwar wunderschön gestaltet, "augenscheinlich sorgfältig und kompetent kommentiert", bleibt aber hinter den heutzutage üblichen technischen Standards der Briefedition weit zurück, kritisiert Groddeck, der die Verlautbarungen der Herausgeber, die editorischen Wissenschaften neu zu schreiben, denn auch etwas überzogen findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH