Golo Mann korrespondierte in den Jahren zwischen 1932 und 1992 mit Freunden und Gegnern, Künstlern, Publizisten und Politikern - unter ihnen Karl Jaspers, Benjamin Britten, Willy Brandt, Ernst Jünger, Marion Gräfin Dönhoff, Joachim Fest, Klaus und Heinrich Mann -, aber auch unbekannten Zeitgenossen, die sich ratsuchend an ihn wandten.Die in diesem Band ungekürzt wiedergegebenen und erstmals gedruckten 172 Briefe handeln von Geschichte, Literatur und Politik, zeigen das gespannte Verhältnis des Emigranten zur alten Heimat, sprechen von Liebe und Tod, Einsamkeit und immer wieder vom Vater und der Sehnsucht danach, Schriftsteller zu sein. Von sich selbst und seiner Homosexualität allerdings dürfe er nicht dichten, vertraute Golo Mann einem Freund an, »weil mein Vater dies Pferd ziemlich müde geritten hat«.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.11.2006Wollen wir denn Herrschaft? Ich nicht!
Scharfe Urteile, einfache Wahrheiten: Der Historiker Golo Mann in seinen Briefen
Zum Glück muss man nicht entscheiden, was an den Briefen Golo Manns mehr bezaubert, ihre menschliche Schönheit oder ihre intellektuelle Kraft. Der jetzt von Tilmann Lahme und Kathrin Lüssi herausgegebene Band mit 172 Stücken der Jahrzehnte zwischen 1932 und 1992 – ausgewählt aus Tausenden einer durchaus ungleichmäßigen und lückenhaften Überlieferung – zeigt einen der letzten großen Briefschreiber im Zeitalter des Telefons und vor dem Aufkommen des elektronischen Nachrichtenverkehrs. Glanzvoller ist dieses traditionsreiche Genre im zwanzigsten Jahrhundert selten geübt worden, vor allem nicht mehr in dessen zweiter Hälfte. Das literarisch-historiographische Lebenswerk Golo Manns erhält durch die mit liebevoller Sorgfalt kommentierte Ausgabe eine zusätzliche tragende Säule – neben dem enormen Korpus der Essays, den großen Geschichtswerken und seinen Erinnerungen.
Golo Mann verbrachte die längste Zeit seines Lebens als freier Autor, als Einzelner. Seine Lehrtätigkeiten an amerikanischen Colleges und seine kurzen Gastspiele in der deutschen akademischen Welt empfand er als Fron, der er sich am Ende durch psychischen Zusammenbruch entzog. So blieb sein Briefverkehr völlig unberührt von institutioneller Formelhaftigkeit. Etliches hat er diktiert – der von seinem Vater übernommenen Schreibkraft, die seiner Mutter und ihm noch jahrelang diente –, mehr aber selbst direkt in die Schreibmaschine gehackt (seine Handschrift empfand er als unzumutbar), in ein Gerät übrigens, das offenkundig Probleme beim Zeilabstand hatte, was den im Band faksimilierten Proben einen sympathisch unordentlichen Anblick gibt: keine Glätte, auch hier.
Ein unermüdlicher Briefehacker muss Golo Mann gewesen sein, wenn man von den oft enormen Längen der abgedruckten Stücke auf den tausendfältigen Rest schließt. Ihre Schönheit und Kraft vereinen sich in dem moralischen Hauptvorzug, ihrer unbedingten Wahrhaftigkeit. An Armin Mohler, der ihn für seine reaktionäre Dunkelmännerei zu vereinnahmen versucht hatte, schrieb er: „Ich halte Ihre literarische Existenz für eine insgesamt schädliche, nicht nützliche.” Dem Freund Joachim Fest hielt er mangelndes moralisches Engagement in seiner Hitler-Biographie vor. Ihm schrieb er 1986 auch eine längere Erörterung zum „Historikerstreit”, die für den Empfänger manche bittere Wahrheit enthielt und vor allem die Konstrukte Ernst Noltes barsch abfertigte.
Hier teilt er auch mit, dass er Begriffe wie „deutsche Identität” und „deutsche Frage” auf den Tod nicht leiden könne: „Warum in aller Welt soll ein Deutscher, der heute das Centre Pompidou in Paris besucht, sich fragen ,Wer bin ich? Was ist meine nationale Identität?‘ Das ist doch alles im Ernst gar nicht wahr.” Ernst Jünger, dem er seine Vorkriegsschriften, vor allem den „Arbeiter”, nie verzieh, den er aber später schätzen lernte, kreidete er 1951 trübe Reste seiner frühen Phase an, beispielsweise den Satz: „Erst dann wird Herrschaft möglich sein.” „Wollen wir denn Herrschaft? Glauben wir an sie? Ich nicht: ich kann und will an Herrschaft und Gestalt nicht glauben.”
Der hochfahrende Jünger „tat ihm leid”, wie er an Jaspers schrieb: „Er kann nicht von seinem hohen Propheten-Pferd herunter, kann aber unmöglich immer oben bleiben. Seine Traktate werden zur Parodie.” Immer wieder solche deutlichen Worte: über die „marternde Langeweile” der Bücher von Habermas, den „tief verhassten Adorno” (der ihm wegen seiner Hilfsbereitschaft für den lügenhaft bettelnden Bloch immerhin Respekt einflößt), die überscharfsinnige Hannah Arendt. Selbst dem verehrten Lehrer Jaspers ersparte Golo Mann nicht unangenehmste Feststellungen, zu Max Weber und dessen Neigung zur Sachlichkeitsschauspielerei oder über die geliebte Schülerin Arendt, was dann nach Jahrzehnten des schönsten Austausches zum Bruch führte.
Man hat Golo Mann in den siebziger und achtziger Jahren wegen mancher politischen Schwankung belächelt, aber nun lese man seine Briefe an die Großen und weniger Großen, an Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel oder Edmund Stoiber: Letzterer musste sich einen veritablen Wutanfall über die Gleichsetzung von Sozialismus und Nationalsozialismus in einem Wahlkampf 1979 durchlesen. Und so offen war Golo Mann auch den anderen gegenüber. Hier war kein Ideologiestratege am Werk, sondern ein vollkommen freier Zeitgenosse. Dem Vertriebenenminister Theodor Oberländer schrieb er lange vor der Brandtschen Ostpolitik einen Satz für Satz überzeugenden Abhandlungsbrief zur Frage der verlorenen Ostgebiete, der mit allen Illusionen, vor allem den moralischen, aufräumte.
Golo Mann hat sich zeit seines Lebens als Konservativen bezeichnet und die Vermutung, er sei erst nach 1968, auch unter dem Eindruck missglückter Bildungsreformen, dazu geworden, mit Schärfe zurückgewiesen. Das zeigen nun auch die Briefe. Seine politischen Ansichten und Affekte wurden früh fest, unter dem Eindruck der Hitlerjahre und seiner damaligen Lektüren, vor allem Burke, Gentz und Tocqueville, zu denen er später noch Lord Acton zählte – Klassiker eines eigentlich liberalen Denkens, wie es in Deutschland kaum Tradition hat. In allen Lebensäußerungen Golo Manns herrscht der unbedingte Geist der Freiheit, und bevor man seine Haltung als untheoretisch und wenig durchräsoniert abtut, sollte man sich klarmachen, wie viel Selbständigkeit um 1940 dazu gehörte, sich so klar für das liberale Denken zu entscheiden. Die Drift jedenfalls des europäischen Geistes ging im Kampf mit Nationalsozialismus und Faschismus eindeutig ins linke Lager, in einen humanitären Utopismus.
All das hat Wucht, Schärfe und eine moralische Deutlichkeit, die sich vom billigen Moralisieren bekehrter Hitlerjungen auf das Erfrischendste abhebt. Beglaubigt ist diese Deutlichkeit durch die begleitende Gabe zum uneigennützigen Lob, das nie die faule Unverbindlichkeit hat, mit der sich Thomas Mann seiner gesellschaftlichen Verpflichtungen entledigte. Herrliche, eingehende Lobesbriefe enthält der Band, beispielsweise zu den Büchern des Freundes Joseph Breitbach, die man sich daraufhin sofort bestellen möchte, oder, einigermaßen überraschend, zum Roman „Efraim” von Alfred Andersch, selbst zu den ersten Stücken Rolf Hochhuths, mit dem er sich später zerstritt. All das ist lebhaft, unvoreingenommen, wie es einem unverstellt liberalen Ethos zukommt.
Dazu kommt die vollkommene Uneitelkeit Golo Manns. Dass der sich langsam entwickelnde Sohn des Genies es zwangsläufig schwer hatte mit gesundem Selbstbewusstsein, ändert nichts an der treffenden Genauigkeit mancher zerknirschten Selbstdiagnose. Die „aufgezwungene Geschaftelhuberei” seiner Vortragstätigkeit sah er ebenso deutlich wie die Gefahr einer gewissen historischen Schriftstellerei, nämlich „eine Art Carl Jacob Burckhardt zweiter Klasse zu werden (und viel Achtung habe ich auch für die erste Klasse nicht, gar nicht viel Achtung)”. Also, den Vorwurf der „Goldrähmchenhistorie” brauchte ihm nicht erst Hans-Ulrich Wehler zu machen. Überhaupt hatte Golo einen zuweilen gewiss peinigend scharfen Blick auf sich selbst. An Jaspers schrieb er unmittelbar nach dem Tod des Vaters, ja, er sei ihm ähnlich: „Zu ähnlich. Seinen Goethe lässt er einmal seine Schwester sein ,Weibliches Neben-Ich‘ nennen; ich war etwas wie sein Unter-Ich.” Was für ein schreckliches Bild.
„Traurig von Kindheit an” war er, aber auch ein zart und nicht immer vergebens Liebender. Glücklicherweise korrigiert diese Briefausgabe das aseptische Bild, das die Biographie von Urs Bitterli gezeichnet hat. Dass Golo Mann das von Vater und älterem Bruder „müde gerittene Pferd” der öffentlichen Homosexualität nicht weiter treiben wollte, ändert nichts an seiner Lebenskonstellation. Freunde Golos gingen als Vorbilder für den jungen Joseph und für den Ken Keaton der „Betrogenen” bei Thomas Mann in die Weltliteratur ein.
Wenn Golo zuweilen ein Kind von Traurigkeit blieb, dann eines mit rührender selbstironischer Lust: „Andererseits gibt es am Ozean die ungeheursten Volksbelustigungsplätze”, schrieb er 1941 einem Freund nach Zürich, „welche von Matrosen beherrscht werden. Hier bleibe ich meiner Taktik treu, bloss sie traurig anzusehen und im Stillen zu denken, sie müssten doch fühlen, wie wohl ich es meine und dass ich die schönsten Touren in der Sierra weiss und das beste Grammophon zu Hause habe. Ihr Herz bleibt aus Stein, und schliesslich läuft es auf das Geschäftsmässigste hinaus. . . ”. Gegen diesen Mann intrigierten die Magnifizenzen Horkheimer und Adorno als einen Jugendverderber, um ihn auf einem Lehrstuhl in Frankfurt zu verhindern!
Der schönste Brief des Bandes ist eine Epistel über Sterben und Tod, die er dem Jugendfreund Polito – eben jenem, der Thomas Mann als Bild des Joseph diente – im August 1989 schrieb. In einem P.S. ist eine der vielen Weisheiten dieses noblen und guten Mannes zusammengefasst: „Alle den Menschen als solchen angehenden Wahrheiten scheinen mir im Grunde einfach. Wer sich sein reifes Leben lang Mühe gab, wer Freude für sich und Andere suchte, wer mit angeborenen Schwächen so weit wie möglich zurecht kam, wer seine Talente nicht brach liegen liess, wer an Treue glaubte und sie übte, wer half, wo er helfen konnte und Helfen Sinn hatte, wer einmal dies glaubte und einmal das, weil er eben ein Mensch und keine Engel war – was sollte der vom Tode fürchten?” GUSTAV SEIBT
GOLO MANN: Briefe 1932-1992. Herausgegeben von Tilmann Lahme und Kathrin Lüssi. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 535 Seiten, 34 Euro.
„Ich halte Ihre literarische Existenz für eine insgesamt schädliche”
„Hier bleibe ich meiner Taktik treu, bloss sie traurig anzusehen”
Wucht, Schärfe, moralische Deutlichkeit – auch im Historikerstreit: Golo Mann im Jahre 1987
Foto: bpk / Ingrid von Kruse
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Scharfe Urteile, einfache Wahrheiten: Der Historiker Golo Mann in seinen Briefen
Zum Glück muss man nicht entscheiden, was an den Briefen Golo Manns mehr bezaubert, ihre menschliche Schönheit oder ihre intellektuelle Kraft. Der jetzt von Tilmann Lahme und Kathrin Lüssi herausgegebene Band mit 172 Stücken der Jahrzehnte zwischen 1932 und 1992 – ausgewählt aus Tausenden einer durchaus ungleichmäßigen und lückenhaften Überlieferung – zeigt einen der letzten großen Briefschreiber im Zeitalter des Telefons und vor dem Aufkommen des elektronischen Nachrichtenverkehrs. Glanzvoller ist dieses traditionsreiche Genre im zwanzigsten Jahrhundert selten geübt worden, vor allem nicht mehr in dessen zweiter Hälfte. Das literarisch-historiographische Lebenswerk Golo Manns erhält durch die mit liebevoller Sorgfalt kommentierte Ausgabe eine zusätzliche tragende Säule – neben dem enormen Korpus der Essays, den großen Geschichtswerken und seinen Erinnerungen.
Golo Mann verbrachte die längste Zeit seines Lebens als freier Autor, als Einzelner. Seine Lehrtätigkeiten an amerikanischen Colleges und seine kurzen Gastspiele in der deutschen akademischen Welt empfand er als Fron, der er sich am Ende durch psychischen Zusammenbruch entzog. So blieb sein Briefverkehr völlig unberührt von institutioneller Formelhaftigkeit. Etliches hat er diktiert – der von seinem Vater übernommenen Schreibkraft, die seiner Mutter und ihm noch jahrelang diente –, mehr aber selbst direkt in die Schreibmaschine gehackt (seine Handschrift empfand er als unzumutbar), in ein Gerät übrigens, das offenkundig Probleme beim Zeilabstand hatte, was den im Band faksimilierten Proben einen sympathisch unordentlichen Anblick gibt: keine Glätte, auch hier.
Ein unermüdlicher Briefehacker muss Golo Mann gewesen sein, wenn man von den oft enormen Längen der abgedruckten Stücke auf den tausendfältigen Rest schließt. Ihre Schönheit und Kraft vereinen sich in dem moralischen Hauptvorzug, ihrer unbedingten Wahrhaftigkeit. An Armin Mohler, der ihn für seine reaktionäre Dunkelmännerei zu vereinnahmen versucht hatte, schrieb er: „Ich halte Ihre literarische Existenz für eine insgesamt schädliche, nicht nützliche.” Dem Freund Joachim Fest hielt er mangelndes moralisches Engagement in seiner Hitler-Biographie vor. Ihm schrieb er 1986 auch eine längere Erörterung zum „Historikerstreit”, die für den Empfänger manche bittere Wahrheit enthielt und vor allem die Konstrukte Ernst Noltes barsch abfertigte.
Hier teilt er auch mit, dass er Begriffe wie „deutsche Identität” und „deutsche Frage” auf den Tod nicht leiden könne: „Warum in aller Welt soll ein Deutscher, der heute das Centre Pompidou in Paris besucht, sich fragen ,Wer bin ich? Was ist meine nationale Identität?‘ Das ist doch alles im Ernst gar nicht wahr.” Ernst Jünger, dem er seine Vorkriegsschriften, vor allem den „Arbeiter”, nie verzieh, den er aber später schätzen lernte, kreidete er 1951 trübe Reste seiner frühen Phase an, beispielsweise den Satz: „Erst dann wird Herrschaft möglich sein.” „Wollen wir denn Herrschaft? Glauben wir an sie? Ich nicht: ich kann und will an Herrschaft und Gestalt nicht glauben.”
Der hochfahrende Jünger „tat ihm leid”, wie er an Jaspers schrieb: „Er kann nicht von seinem hohen Propheten-Pferd herunter, kann aber unmöglich immer oben bleiben. Seine Traktate werden zur Parodie.” Immer wieder solche deutlichen Worte: über die „marternde Langeweile” der Bücher von Habermas, den „tief verhassten Adorno” (der ihm wegen seiner Hilfsbereitschaft für den lügenhaft bettelnden Bloch immerhin Respekt einflößt), die überscharfsinnige Hannah Arendt. Selbst dem verehrten Lehrer Jaspers ersparte Golo Mann nicht unangenehmste Feststellungen, zu Max Weber und dessen Neigung zur Sachlichkeitsschauspielerei oder über die geliebte Schülerin Arendt, was dann nach Jahrzehnten des schönsten Austausches zum Bruch führte.
Man hat Golo Mann in den siebziger und achtziger Jahren wegen mancher politischen Schwankung belächelt, aber nun lese man seine Briefe an die Großen und weniger Großen, an Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel oder Edmund Stoiber: Letzterer musste sich einen veritablen Wutanfall über die Gleichsetzung von Sozialismus und Nationalsozialismus in einem Wahlkampf 1979 durchlesen. Und so offen war Golo Mann auch den anderen gegenüber. Hier war kein Ideologiestratege am Werk, sondern ein vollkommen freier Zeitgenosse. Dem Vertriebenenminister Theodor Oberländer schrieb er lange vor der Brandtschen Ostpolitik einen Satz für Satz überzeugenden Abhandlungsbrief zur Frage der verlorenen Ostgebiete, der mit allen Illusionen, vor allem den moralischen, aufräumte.
Golo Mann hat sich zeit seines Lebens als Konservativen bezeichnet und die Vermutung, er sei erst nach 1968, auch unter dem Eindruck missglückter Bildungsreformen, dazu geworden, mit Schärfe zurückgewiesen. Das zeigen nun auch die Briefe. Seine politischen Ansichten und Affekte wurden früh fest, unter dem Eindruck der Hitlerjahre und seiner damaligen Lektüren, vor allem Burke, Gentz und Tocqueville, zu denen er später noch Lord Acton zählte – Klassiker eines eigentlich liberalen Denkens, wie es in Deutschland kaum Tradition hat. In allen Lebensäußerungen Golo Manns herrscht der unbedingte Geist der Freiheit, und bevor man seine Haltung als untheoretisch und wenig durchräsoniert abtut, sollte man sich klarmachen, wie viel Selbständigkeit um 1940 dazu gehörte, sich so klar für das liberale Denken zu entscheiden. Die Drift jedenfalls des europäischen Geistes ging im Kampf mit Nationalsozialismus und Faschismus eindeutig ins linke Lager, in einen humanitären Utopismus.
All das hat Wucht, Schärfe und eine moralische Deutlichkeit, die sich vom billigen Moralisieren bekehrter Hitlerjungen auf das Erfrischendste abhebt. Beglaubigt ist diese Deutlichkeit durch die begleitende Gabe zum uneigennützigen Lob, das nie die faule Unverbindlichkeit hat, mit der sich Thomas Mann seiner gesellschaftlichen Verpflichtungen entledigte. Herrliche, eingehende Lobesbriefe enthält der Band, beispielsweise zu den Büchern des Freundes Joseph Breitbach, die man sich daraufhin sofort bestellen möchte, oder, einigermaßen überraschend, zum Roman „Efraim” von Alfred Andersch, selbst zu den ersten Stücken Rolf Hochhuths, mit dem er sich später zerstritt. All das ist lebhaft, unvoreingenommen, wie es einem unverstellt liberalen Ethos zukommt.
Dazu kommt die vollkommene Uneitelkeit Golo Manns. Dass der sich langsam entwickelnde Sohn des Genies es zwangsläufig schwer hatte mit gesundem Selbstbewusstsein, ändert nichts an der treffenden Genauigkeit mancher zerknirschten Selbstdiagnose. Die „aufgezwungene Geschaftelhuberei” seiner Vortragstätigkeit sah er ebenso deutlich wie die Gefahr einer gewissen historischen Schriftstellerei, nämlich „eine Art Carl Jacob Burckhardt zweiter Klasse zu werden (und viel Achtung habe ich auch für die erste Klasse nicht, gar nicht viel Achtung)”. Also, den Vorwurf der „Goldrähmchenhistorie” brauchte ihm nicht erst Hans-Ulrich Wehler zu machen. Überhaupt hatte Golo einen zuweilen gewiss peinigend scharfen Blick auf sich selbst. An Jaspers schrieb er unmittelbar nach dem Tod des Vaters, ja, er sei ihm ähnlich: „Zu ähnlich. Seinen Goethe lässt er einmal seine Schwester sein ,Weibliches Neben-Ich‘ nennen; ich war etwas wie sein Unter-Ich.” Was für ein schreckliches Bild.
„Traurig von Kindheit an” war er, aber auch ein zart und nicht immer vergebens Liebender. Glücklicherweise korrigiert diese Briefausgabe das aseptische Bild, das die Biographie von Urs Bitterli gezeichnet hat. Dass Golo Mann das von Vater und älterem Bruder „müde gerittene Pferd” der öffentlichen Homosexualität nicht weiter treiben wollte, ändert nichts an seiner Lebenskonstellation. Freunde Golos gingen als Vorbilder für den jungen Joseph und für den Ken Keaton der „Betrogenen” bei Thomas Mann in die Weltliteratur ein.
Wenn Golo zuweilen ein Kind von Traurigkeit blieb, dann eines mit rührender selbstironischer Lust: „Andererseits gibt es am Ozean die ungeheursten Volksbelustigungsplätze”, schrieb er 1941 einem Freund nach Zürich, „welche von Matrosen beherrscht werden. Hier bleibe ich meiner Taktik treu, bloss sie traurig anzusehen und im Stillen zu denken, sie müssten doch fühlen, wie wohl ich es meine und dass ich die schönsten Touren in der Sierra weiss und das beste Grammophon zu Hause habe. Ihr Herz bleibt aus Stein, und schliesslich läuft es auf das Geschäftsmässigste hinaus. . . ”. Gegen diesen Mann intrigierten die Magnifizenzen Horkheimer und Adorno als einen Jugendverderber, um ihn auf einem Lehrstuhl in Frankfurt zu verhindern!
Der schönste Brief des Bandes ist eine Epistel über Sterben und Tod, die er dem Jugendfreund Polito – eben jenem, der Thomas Mann als Bild des Joseph diente – im August 1989 schrieb. In einem P.S. ist eine der vielen Weisheiten dieses noblen und guten Mannes zusammengefasst: „Alle den Menschen als solchen angehenden Wahrheiten scheinen mir im Grunde einfach. Wer sich sein reifes Leben lang Mühe gab, wer Freude für sich und Andere suchte, wer mit angeborenen Schwächen so weit wie möglich zurecht kam, wer seine Talente nicht brach liegen liess, wer an Treue glaubte und sie übte, wer half, wo er helfen konnte und Helfen Sinn hatte, wer einmal dies glaubte und einmal das, weil er eben ein Mensch und keine Engel war – was sollte der vom Tode fürchten?” GUSTAV SEIBT
GOLO MANN: Briefe 1932-1992. Herausgegeben von Tilmann Lahme und Kathrin Lüssi. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 535 Seiten, 34 Euro.
„Ich halte Ihre literarische Existenz für eine insgesamt schädliche”
„Hier bleibe ich meiner Taktik treu, bloss sie traurig anzusehen”
Wucht, Schärfe, moralische Deutlichkeit – auch im Historikerstreit: Golo Mann im Jahre 1987
Foto: bpk / Ingrid von Kruse
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.12.2006Der geborene Untertan
Bekenntnisse eines Unzeitgemäßen: Golo Manns Briefe
Der Freundin Marion Gräfin Dönhoff schrieb Golo Mann, er passe nicht recht in das Jahrhundert, hätte früher leben sollen, etwa als "Hauslehrer oder Bibliothekar" bei einem ihrer Vorfahren - "gerne hätte ich mich mit dem Platz am untersten Ende des Tisches begnügt, geborener Untertan, der ich bin."
Dieser Briefband, umsichtig kommentiert und herausgegeben von Kathrin Lüssi und Tilmann Lahme, präsentiert einen großen Briefschreiber. Und er entfaltet ein breites, persönlich lebendiges Panorama der wahrlich nicht ereignisarmen sechzig Jahre, die diese aus Tausenden ausgewählten 172 Briefe umfassen. Schließlich verändert er auch das Bild von Golo Mann, das Jeroen Koch und, erheblich intensiver, Urs Bitterli gezeichnet haben. So darf man auch auf die im Klappentext angekündigte Biographie Tilmann Lahmes gespannt sein.
Golo Manns Name ist keineswegs verblaßt. Nur geht es ihm, in den Worten Schillers, ein wenig wie seinem Helden Wallenstein: "Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, Schwankt sein Charakterbild" - dies nun nicht geradezu "in der Geschichte", aber in der Erinnerung. Die einen sehen in ihm vor allem den gewissermaßen Linken, den gedanklichen Vorbereiter der Ostpolitik Brandts und Bahrs (da war in der Tat sonst eigentlich nur Rudolf Augstein). Andere, die Altachtundsechziger und andere Linke, erinnern sich nur noch und mit erheblichem Groll an den, der nach anfänglicher Sympathie dezidiert gegen die rebellierenden Studenten auftrat ("Hört auf, Lenin zu spielen!") und sich dann gar für Franz Josef Strauß einsetzte.
Große und bis heute anhaltende Wirkung, stärker als jedes andere Buch dieser Art, hatte seine "Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts", die 1958 erschien. Sie war sein Durchbruch, denn bis dahin war er fast unbekannt. In demselben Jahr kehrte er auch definitiv aus Amerika zurück; da war er schon fast fünfzig. Auch die von ihm mitherausgegebene "Propyläen Weltgeschichte" (1960 bis 1965), dann vor allem sein "Wallenstein" (1971) und die "Erinnerungen und Gedanken" (1986) waren bedeutende Erfolge.
Golo Mann war auch ein großer literarischer, historischer und politischer Essayist und wurde rasch ein vielgefragter, sich dabei allerdings verzettelnder Redner. Am Ende war er beinahe etwas wie der "Praeceptor Germaniae". Als ihn jedoch ein Interview-Partner im Fernsehen so nannte, verwahrte er sich entrüstet: "Ich verbitte mir diese Bezeichnung!"
Was zeichnet diese Briefe aus? Da ist zunächst der bestrickende, etwas altertümliche Stil, in dem Golo Mann aber ganz unmittelbar als er selber hervortritt, denn er stilisiert sich nicht. Ernsthaft, vornehm, offen, oft sehr direkt, hart zuweilen, ganz unabhängig, ganz frei in seinem Urteil, unideologisch - er war gegen die neuen Linken, aber die alten Rechten mochte er noch weniger. Dann ist er bemerkenswert uneitel und unpompös. Obwohl er schon wußte, wer er war, durchschaute er sich, auch gerade in seinen Schwächen, zu denen übrigens auch etwas Nachtragendes gehörte, etwas, das durchaus in Richtung Alberich ging. Er vergaß ungern.
Und vor allem ist da die schöne Mischung aus Melancholie und Humor, bei der man oft nicht weiß, welche beider Komponenten stärker ist. Wenn er etwa 1955 in dem Dankesbrief für das Kondolenzschreiben seines Lehrers Karl Jaspers zum Tod des Vaters schreibt: "Seinen Goethe läßt er einmal seine Schwester sein ,Weibliches Neben-Ich' nennen; ich war etwas wie sein Unter-Ich, und eine Basis für ein vertrauliches, entspanntes Verhältnis konnte das, bei seiner gewaltigen und meiner um so vieles geringeren Persönlichkeit, nicht abgeben. Nun er nicht mehr ist, liegt das natürlich anders."
Das ist gewiß melancholisch, und man kann wohl über das "Unter-Ich" etwas erschrecken, aber Humor, der ja immer mit Realismus zu schaffen hat, liegt darin doch auch. Und dann wird er gleich wegen einer seltsamen Taktlosigkeit von Jaspers beinahe aggressiv: "Die ,Betrachtungen eines Unpolitischen' hätten Sie kaum zu erwähnen brauchen. Es irrt der Mensch, solang er strebt, und die Bedeutendsten am bedeutendsten. Ihr Max Weber ist, glaube ich, einmal Mitglied des Alldeutschen Verbandes gewesen. Bei uns hier hat seit dreißig Jahren niemand an die Gültigkeit - wohl aber an das tiefe historische Interesse - der ,Betrachtungen' geglaubt." Bei uns hier - das ist nun die Familie, "diese verfluchte Familie", wie er in einem anderen Brief, an den Rezensenten, sehr viel später, 1977, schreibt. Da ging es um den Tod des Bruders Michael: "Sehr begabter Mensch, generös, mutig, Draufgänger, also sehr anders als andere." Ein "Draufgänger" war Golo Mann wirklich nicht. Aber auch in diesem Satz sind Melancholie und Humor schwer entwirrbar beieinander.
Die Adressaten sind sehr verschieden. Da sind öffentliche Personen: Adenauer, Brandt, Bahr, Hans-Jochen Vogel, dem er zwar Vorhaltungen macht (wegen des Linksrucks seiner Partei), für den er jedoch unter den Politikern besondere Hochachtung hatte. Stoiber, damals Generalsekretär der CSU, muß sich einiges anhören zu seiner Verlautbarung, der Nationalsozialismus sei im wesentlichen Sozialismus gewesen: "Hitler einen Marxisten zu nennen, ist nun wirklich die äußerste Narretei!"
Sehr aufschlußreich, prophetisch beinahe der lange Brief zur Ostpolitik an den vormaligen Minister Theodor Oberländer; dann Joachim Fest, den er schätzte, aber mit gewissem Widerstand, und der ihn seinerseits in seinen "Begegnungen" doch wohl verzeichnet hat (Golo Mann, dies zeigen gerade diese Briefe, war keineswegs immer so angespannt und grimmig, wie Fest ihn erfuhr); dann Ernst Jünger, den er persönlich mochte und mehrmals besuchte, oder Verleger Ernst Klett, der sie zusammenbrachte, oder der Jugendfreund Pierre Bertaux.
Leider gingen viele, vor allem frühe Briefe verloren, schon in der Emigration, aber auch noch nach seinem Tod - besonders jene an die Familie: an den Vater, die Mutter (da ist nur ein versprengter Brief von 1932 des Heidelberger Studenten), an Klaus, mit dem er sich immer gut verstand und über den er auch bewegend geschrieben hat (nur zwei Briefe sind erhalten). Um so wichtiger die Briefe an Onkel Heinrich und an die frühe Freundin Lise Bauer, Mitschülerin in Salem, die ihn mochte. Dann an Erich von Kahler, Joseph Breitbach, an den Schweizer Journalisten und, sagen wir, Lebemann Manuel Gasser, später an die geliebte Freundin Margaret von Hessen ("Peg"), deren Schloß Wolfsgarten bei Darmstadt ihm zu einem emotionalen Zentrum wurde, oder an den Franzosen Adolphe Dahringer, einen Freund aus den alten Tagen in St.-Cloud, 1933, später Germanist in Nantes, der ihm dort zu seiner Freude einen Ehrendoktor verschaffte, was übrigens keine deutsche Fakultät getan hat; Dahringer verstarb im vergangenen Sommer.
Wie immer man diese Briefe liest, durcheinander oder, besser, nacheinander von Anfang an - es ist, so oder so, eine wunderbare, informierende und bewegende Lektüre. Der schönste Brief ist ohne Zweifel der vom August 1989 an Julio del Val Caturla, den er "Polo" oder "Polito" nannte ("Bruder Polito"), ein Freund aus der Salemer Zeit und übrigens für Thomas Mann die ,Vorlage' seines "Jungen Joseph".
Da geht es um den Tod. Im Postskriptum (Golo Mann liebte Postskripta, zuweilen gibt es deren drei), schreibt er: "Wer sich sein reifes Leben lang Mühe gab, wer Freude für sich und Andere suchte, wer mit angeborenen Schwächen so weit wie möglich zurechtkam, wer seine Talente nicht brach liegen ließ, wer an Treue glaubte und sie übte, wer half, wo er helfen konnte und helfen Sinn hatte, wer einmal dies glaubte und einmal das, weil er eben ein Mensch und kein Engel war - was sollte der vom Tode fürchten?"
HANS-MARTIN GAUGER
Golo Mann: "Briefe 1932 - 1992". Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt. Hrsg. von Tilmann Lahme und Kathrin Lüssi. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 535 S., 32 Abb., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bekenntnisse eines Unzeitgemäßen: Golo Manns Briefe
Der Freundin Marion Gräfin Dönhoff schrieb Golo Mann, er passe nicht recht in das Jahrhundert, hätte früher leben sollen, etwa als "Hauslehrer oder Bibliothekar" bei einem ihrer Vorfahren - "gerne hätte ich mich mit dem Platz am untersten Ende des Tisches begnügt, geborener Untertan, der ich bin."
Dieser Briefband, umsichtig kommentiert und herausgegeben von Kathrin Lüssi und Tilmann Lahme, präsentiert einen großen Briefschreiber. Und er entfaltet ein breites, persönlich lebendiges Panorama der wahrlich nicht ereignisarmen sechzig Jahre, die diese aus Tausenden ausgewählten 172 Briefe umfassen. Schließlich verändert er auch das Bild von Golo Mann, das Jeroen Koch und, erheblich intensiver, Urs Bitterli gezeichnet haben. So darf man auch auf die im Klappentext angekündigte Biographie Tilmann Lahmes gespannt sein.
Golo Manns Name ist keineswegs verblaßt. Nur geht es ihm, in den Worten Schillers, ein wenig wie seinem Helden Wallenstein: "Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, Schwankt sein Charakterbild" - dies nun nicht geradezu "in der Geschichte", aber in der Erinnerung. Die einen sehen in ihm vor allem den gewissermaßen Linken, den gedanklichen Vorbereiter der Ostpolitik Brandts und Bahrs (da war in der Tat sonst eigentlich nur Rudolf Augstein). Andere, die Altachtundsechziger und andere Linke, erinnern sich nur noch und mit erheblichem Groll an den, der nach anfänglicher Sympathie dezidiert gegen die rebellierenden Studenten auftrat ("Hört auf, Lenin zu spielen!") und sich dann gar für Franz Josef Strauß einsetzte.
Große und bis heute anhaltende Wirkung, stärker als jedes andere Buch dieser Art, hatte seine "Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts", die 1958 erschien. Sie war sein Durchbruch, denn bis dahin war er fast unbekannt. In demselben Jahr kehrte er auch definitiv aus Amerika zurück; da war er schon fast fünfzig. Auch die von ihm mitherausgegebene "Propyläen Weltgeschichte" (1960 bis 1965), dann vor allem sein "Wallenstein" (1971) und die "Erinnerungen und Gedanken" (1986) waren bedeutende Erfolge.
Golo Mann war auch ein großer literarischer, historischer und politischer Essayist und wurde rasch ein vielgefragter, sich dabei allerdings verzettelnder Redner. Am Ende war er beinahe etwas wie der "Praeceptor Germaniae". Als ihn jedoch ein Interview-Partner im Fernsehen so nannte, verwahrte er sich entrüstet: "Ich verbitte mir diese Bezeichnung!"
Was zeichnet diese Briefe aus? Da ist zunächst der bestrickende, etwas altertümliche Stil, in dem Golo Mann aber ganz unmittelbar als er selber hervortritt, denn er stilisiert sich nicht. Ernsthaft, vornehm, offen, oft sehr direkt, hart zuweilen, ganz unabhängig, ganz frei in seinem Urteil, unideologisch - er war gegen die neuen Linken, aber die alten Rechten mochte er noch weniger. Dann ist er bemerkenswert uneitel und unpompös. Obwohl er schon wußte, wer er war, durchschaute er sich, auch gerade in seinen Schwächen, zu denen übrigens auch etwas Nachtragendes gehörte, etwas, das durchaus in Richtung Alberich ging. Er vergaß ungern.
Und vor allem ist da die schöne Mischung aus Melancholie und Humor, bei der man oft nicht weiß, welche beider Komponenten stärker ist. Wenn er etwa 1955 in dem Dankesbrief für das Kondolenzschreiben seines Lehrers Karl Jaspers zum Tod des Vaters schreibt: "Seinen Goethe läßt er einmal seine Schwester sein ,Weibliches Neben-Ich' nennen; ich war etwas wie sein Unter-Ich, und eine Basis für ein vertrauliches, entspanntes Verhältnis konnte das, bei seiner gewaltigen und meiner um so vieles geringeren Persönlichkeit, nicht abgeben. Nun er nicht mehr ist, liegt das natürlich anders."
Das ist gewiß melancholisch, und man kann wohl über das "Unter-Ich" etwas erschrecken, aber Humor, der ja immer mit Realismus zu schaffen hat, liegt darin doch auch. Und dann wird er gleich wegen einer seltsamen Taktlosigkeit von Jaspers beinahe aggressiv: "Die ,Betrachtungen eines Unpolitischen' hätten Sie kaum zu erwähnen brauchen. Es irrt der Mensch, solang er strebt, und die Bedeutendsten am bedeutendsten. Ihr Max Weber ist, glaube ich, einmal Mitglied des Alldeutschen Verbandes gewesen. Bei uns hier hat seit dreißig Jahren niemand an die Gültigkeit - wohl aber an das tiefe historische Interesse - der ,Betrachtungen' geglaubt." Bei uns hier - das ist nun die Familie, "diese verfluchte Familie", wie er in einem anderen Brief, an den Rezensenten, sehr viel später, 1977, schreibt. Da ging es um den Tod des Bruders Michael: "Sehr begabter Mensch, generös, mutig, Draufgänger, also sehr anders als andere." Ein "Draufgänger" war Golo Mann wirklich nicht. Aber auch in diesem Satz sind Melancholie und Humor schwer entwirrbar beieinander.
Die Adressaten sind sehr verschieden. Da sind öffentliche Personen: Adenauer, Brandt, Bahr, Hans-Jochen Vogel, dem er zwar Vorhaltungen macht (wegen des Linksrucks seiner Partei), für den er jedoch unter den Politikern besondere Hochachtung hatte. Stoiber, damals Generalsekretär der CSU, muß sich einiges anhören zu seiner Verlautbarung, der Nationalsozialismus sei im wesentlichen Sozialismus gewesen: "Hitler einen Marxisten zu nennen, ist nun wirklich die äußerste Narretei!"
Sehr aufschlußreich, prophetisch beinahe der lange Brief zur Ostpolitik an den vormaligen Minister Theodor Oberländer; dann Joachim Fest, den er schätzte, aber mit gewissem Widerstand, und der ihn seinerseits in seinen "Begegnungen" doch wohl verzeichnet hat (Golo Mann, dies zeigen gerade diese Briefe, war keineswegs immer so angespannt und grimmig, wie Fest ihn erfuhr); dann Ernst Jünger, den er persönlich mochte und mehrmals besuchte, oder Verleger Ernst Klett, der sie zusammenbrachte, oder der Jugendfreund Pierre Bertaux.
Leider gingen viele, vor allem frühe Briefe verloren, schon in der Emigration, aber auch noch nach seinem Tod - besonders jene an die Familie: an den Vater, die Mutter (da ist nur ein versprengter Brief von 1932 des Heidelberger Studenten), an Klaus, mit dem er sich immer gut verstand und über den er auch bewegend geschrieben hat (nur zwei Briefe sind erhalten). Um so wichtiger die Briefe an Onkel Heinrich und an die frühe Freundin Lise Bauer, Mitschülerin in Salem, die ihn mochte. Dann an Erich von Kahler, Joseph Breitbach, an den Schweizer Journalisten und, sagen wir, Lebemann Manuel Gasser, später an die geliebte Freundin Margaret von Hessen ("Peg"), deren Schloß Wolfsgarten bei Darmstadt ihm zu einem emotionalen Zentrum wurde, oder an den Franzosen Adolphe Dahringer, einen Freund aus den alten Tagen in St.-Cloud, 1933, später Germanist in Nantes, der ihm dort zu seiner Freude einen Ehrendoktor verschaffte, was übrigens keine deutsche Fakultät getan hat; Dahringer verstarb im vergangenen Sommer.
Wie immer man diese Briefe liest, durcheinander oder, besser, nacheinander von Anfang an - es ist, so oder so, eine wunderbare, informierende und bewegende Lektüre. Der schönste Brief ist ohne Zweifel der vom August 1989 an Julio del Val Caturla, den er "Polo" oder "Polito" nannte ("Bruder Polito"), ein Freund aus der Salemer Zeit und übrigens für Thomas Mann die ,Vorlage' seines "Jungen Joseph".
Da geht es um den Tod. Im Postskriptum (Golo Mann liebte Postskripta, zuweilen gibt es deren drei), schreibt er: "Wer sich sein reifes Leben lang Mühe gab, wer Freude für sich und Andere suchte, wer mit angeborenen Schwächen so weit wie möglich zurechtkam, wer seine Talente nicht brach liegen ließ, wer an Treue glaubte und sie übte, wer half, wo er helfen konnte und helfen Sinn hatte, wer einmal dies glaubte und einmal das, weil er eben ein Mensch und kein Engel war - was sollte der vom Tode fürchten?"
HANS-MARTIN GAUGER
Golo Mann: "Briefe 1932 - 1992". Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt. Hrsg. von Tilmann Lahme und Kathrin Lüssi. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 535 S., 32 Abb., geb., 32,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Uneingeschränktes Glück hat der Band dem Rezensenten beschert. Ein Füllhorn menschlicher Schönheit und Geisteskraft erkennt Gustav Seibt in diesem Vermächtnis "eines der letzten großen Briefeschreiber". Die Sorgfalt der Kommentierung macht den Band für ihn zur "tragenden Säule" im Lebenswerk Golo Manns. Die aus einer Riesenmenge ausgewählten Briefe selber muten dem Rezensenten wie ein Naturwunder an: Ungeschliffen, geprägt von Wahrhaftigkeit und Ungebundenheit. Moralische Kritik an öffentlichen Figuren wie Joachim Fest oder Edmund Stoiber gesteht Seibt dem Autor darum gerne zu. Sichtlich beeindruckt stellt er die Vitalität und Unvoreingenommenheit Manns auch bei der positiven Beurteilung von Zeitgenossen wie Joseph Breitenbach fest (dessen Bücher er sich am liebsten gleich bestellen möchte) und staunt über die "vollkommene Uneitelkeit" des Autors beim Blick auf die eigene, familiär "vorbelastete" Identität. Laut Rezensent berichtigt der Band das "aseptische" Bild Golo Manns, das Urs Bitterlis Biografie entwirft: Der Briefeschreiber Golo Mann erscheint ihm als lustvoll selbstironischer Mensch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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