Marcel Proust war ein äußerst produktiver Briefschreiber. Für den Dichter, der häufig ans Bett gefesselt war, trat der Brief oft an die Stelle des persönlichen Gesprächs. In seinen Korrespondenzen erleben wir den Autor von den verschiedensten Seiten: als Schriftsteller, der mit seinem Verleger bis buchstäblich zum letzten Atemzug um jede Zeile seines Werkes kämpft. Als mutigen Literaten, der im Skandalprozess um den jüdischen Hauptmann Dreyfus früh das Wort ergreift und sich für den zu Unrecht Verurteilten einsetzt. Als Muttersohn und als Werbenden in homoerotischen Freundschaften. Immer wieder brilliert Proust auch als witziger Erzähler mit Blick fürs skurrile Detail. Wie er sich verzweifelt gegen Handwerkerlärm aus der Nachbarwohnung zur Wehr setzt oder auf groteske Finanztransaktionen einlässt, gehört zu den amüsantesten Aspekten dieser Korrespondenz.
Diese erste umfassende deutsche Briefausgabe mit ihren annähernd 600 Briefen an Freunde, an die Mutter, an Schriftstellerkollegen, Gesellschaftsmenschen, Kritiker und Verleger dokumentiert aus Prousts unzensiert-privater Sicht seine ganze Entwicklung von den frühen literarischen Fingerübungen bis hin zur Vollendung der Recherche. Einleitung, ausführliche Stellenkommentare, Zeittafel, Kurzporträts aller Briefempfänger und Register erschließen die Briefe und damit das faszinierende Panorama einer ganzen Epoche.
Diese erste umfassende deutsche Briefausgabe mit ihren annähernd 600 Briefen an Freunde, an die Mutter, an Schriftstellerkollegen, Gesellschaftsmenschen, Kritiker und Verleger dokumentiert aus Prousts unzensiert-privater Sicht seine ganze Entwicklung von den frühen literarischen Fingerübungen bis hin zur Vollendung der Recherche. Einleitung, ausführliche Stellenkommentare, Zeittafel, Kurzporträts aller Briefempfänger und Register erschließen die Briefe und damit das faszinierende Panorama einer ganzen Epoche.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Immerhin 572 der schätzungsweise 90000 Briefe Marcel Prousts liegen nun in einer vorbildlich editierten und kommentierten Ausgabe durch Jürgen Ritte auf Deutsch vor, schwärmt Andreas Isenschmidt. Der Rezensent taucht fasziniert in die Lebenswelt des Autors, der die letzten siebzehn Lebensjahre krankheitsbedingt überwiegend im Bett verbrachte und in den Nachtstunden Briefe an seine Freunde verfasste. Die Briefe erscheinen Isenschmidt wie "gesellige Monologe", in denen Proust seinen Korrespondenten Schmeicheleien und Liebesbekundungen ebenso wie Kritik und Streitigkeiten "bis an die Grenze der Peinlichkeit" schrieb, über seinen Gesundheitszustand informierte und insbesondere in den an Salonkonversationen erinnernden Briefen an Genieve Straus mit seinem "funkelnden" Witz und "sprühendem" Geist überzeugte. Darüber hinaus staunt der Kritiker, wie früh Proust bereits mit dem virtuosen Spiel der Stilimitationen und -parodien begann. Während der Autor seine Homosexualität in den Briefen kaum thematisiert, erhält der Rezensent einige Einblicke in den Entstehungsprozess der "Recherche". In jedem Fall kann Isenschmidt diese Edition nachdrücklich empfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2016Wer hat bloß diesen Dada an mein Buch gelassen?
Verwoben und verliebt ins eigene Werk: Die bislang umfangreichste deutschsprachige Auswahl der Briefe von Marcel Proust erweist sich als ein Buchwunderwerk.
Es ging ihm nicht gut in seinen letzten Jahren, obwohl er erst um die fünfzig war. Doch auf den Fotos der frühen zwanziger Jahre sehen wir einen fröhlichen Marcel Proust. Er hielt auf Etikette, und Fotografie bedeutete für ihn Verheißung von Ewigkeit, also das, was er auch literarisch anstrebte. Dementsprechend waren Porträtaufnahmen nicht der Ort für die Dokumentation von Leiden - wie es auch die Bücher nicht waren, in denen Proust das eigene Leben zur Folie einer Fiktion machte, die alles umstürzte, was man unter Literatur verstand. Darin tritt er selbst als Ich-Erzähler auf, aber nicht im Sinne einer Autobiographie, denn der Marcel der Bücher wird zwar alt, ist aber nicht krank. Hätte sich doch auch da bewahrheitet, was Proust im Oktober 1914 seinem Lebensfreund Reynaldo Hahn mitteilte: "Seit langem bietet mir das Leben nur noch Ereignisse, die ich schon beschrieben habe." Gesundheit jedoch war ihm nicht vergönnt.
Gegenüber Korrespondenzpartnern beklagte Proust immer wieder Erschöpfung, Müdigkeit, Krankheit, und viele seiner Briefe brachen plötzlich mit dieser Floskel ab - zum Selbstschutz, denn er brauchte die verbleibende Kraft ja zur Vollendung seines Lebenswerks, des Romanzyklus "À la recherche du temps perdu" (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). Andere Schreiben, vor allem an ihm unbekannte Menschen, begannen gleich mit dieser Klage: "Monsieur, ein wahres Wunder hat bewirkt, dass ich Ihnen antworten kann. Seitdem ich krank bin, stapeln sich Tausende von ungeöffneten Briefen. Welcher Zufall dem Ihren ein anderes Schicksal beschieden und mir für eine kurze Zeit Kraft zum Antworten gegeben hat, ich weiß es nicht." Wir aber wissen es, denn der Adressat dieses Briefs vom 10. oder 11. Dezember 1920 (Proust datierte seine Schreiben fast nie; man muss den Zeitpunkt ihrer Abfassung also aus dem Inhalt oder, bei den seltenen Fällen, in denen sich der Umschlag erhalten hat, aus den Poststempeln folgern) hieß Harry Swann. "Swann" wie einer der wichtigsten Protagonisten in der "Recherche".
Diese Namensgleichheit wird den Schriftsteller elektrisiert haben, der sich seinem Romanprojekt mit Haut und Haaren buchstäblich verschrieben hatte. Er arbeitete daran, wann immer es ging, obwohl er schon 1913, als der erste Band erschien, das übrige Werk für abgeschlossen hielt. Aber statt damals drei projektierten Teilen sollten es sieben werden, und Proust starb am 18. November 1922 über den ununterbrochen weiterbearbeiteten und ergänzten Druckfahnen. Die letzten drei Bände erschienen erst postum.
Mit den gegenüber Monsieur Swann erwähnten "Tausenden ungeöffneter Briefe" mag Proust nicht einmal drastisch übertrieben haben. Er hat selbst Tausende geschrieben - die bis 1993 von Philipp Kolb erstellte französische Ausgabe seiner Korrespondenz umfasst 24 Bände und mehr Seiten als sein sonstiges Gesamtwerk; zudem tauchen immer wieder bislang noch unbekannte Schreiben auf. Die schon an Kolbs Ausgabe beteiligte Françoise Leriche hat 2004 eine leserfreundliche Auswahl von immerhin auch noch 627 Briefen getroffen, die vor allem in Fragen der Datierung und Kommentierung Maßstabe setzte. Auf der Grundlage dieses Buchs erscheint nun als Doppelband die bislang umfassendste deutsche Ausgabe von Prousts Korrespondenz, wenn man auch vermuten muss, dass diese auf fast 1500 Seiten versammelten 572 Schreiben keine fünf Prozent dessen darstellen, was dieser rastlos schreibende Mensch an Briefen verfasst hat.
Den ältesten uns bekannten schrieb er 1878 mit sieben Jahren an den Großvater, als spätesten hatte Leriche eine Notiz Prousts vom 31. Oktober 1922 an Gaston Gallimard, den Verleger der "Recherche", in ihre Briefauswahl aufgenommen. Die von dem Romanisten Jürgen Ritte betreute deutsche Ausgabe setzt nun einen anderen Schlusspunkt: mit einem Brief an Gallimards Verlagsmitarbeiter Jacques Rivière, der sich als Leiter der Zeitschrift "Nouvelle Revue Française" immer wieder für die "Recherche" eingesetzt hatte. Leriche hat dieses Schreiben gar nicht aufgenommen, Kolb sortierte es vor dem Schreiben an Gallimard ein. Ritte aber verweist in seinen Anmerkungen darauf, dass Proust selbst hier einmal eine Datierung vornahm: "nov.bre 1922", also November. Dabei kam dem Herausgeber zugute, dass das Original des Briefs in der "Bibliotheca Proustiana" des Kölner Sammlers und Proust-Afficionados Reiner Speck liegt.
Speck ist der Spiritus Rector hinter dieser deutschen Ausgabe, die dank jahrelanger Arbeit und phantastischer Ausstattung (Leineneinbände, Schuber mit im Inneren eingeklebtem Proust-Porträt, gegenüber Leriches Buch nochmals verbesserte Kommentierung) unbezahlbar genannt werden kann und dennoch nur vergleichsweise wenig Geld kostet. Möglich wurde das dadurch, dass Speck die Finanzierung übernahm und auch für ein rundes Zehntel der ausgewählten Briefe die Originale zur Verfügung stellen konnte, so dass etliche bei Kolb und Leriche noch unvollständige Lesarten korrigiert und sogar sieben Briefe ergänzt werden konnten, die in beiden französischen Ausgaben noch fehlten. Dass nur etwa die Hälfte der Autographen aus Specks Sammlung in den beiden Bänden auch als sein Besitz ausgewiesen wird, darf man wohl eher als Bescheidenheit denn als Versäumnis der Kompilatoren bewerten. Wie haben sie sonst gearbeitet? Extrem sorgfältig, auch wenn es zwei chronologische Brüche gibt. Ein angeblich im September 1921 verfasster Brief wird hinter mehreren aus dem November jenes Jahres stammenden Schreiben eingeordnet. Aber diese Reihenfolge findet sich schon bei Kolb und Leriche, es mag also einfach in der deutschen Ausgabe ein Druckfehler vorliegen (September statt Dezember). Doch für das Jahr 1922 weicht Ritte von der in den französische Ausgaben etablierten Abfolge ab und plaziert ohne jede Begründung zwischen zwei Briefen aus dem September einen von Ende August. Wie das der Aufmerksamkeit aller Beteiligten entgehen konnte, ist rätselhaft. Ebenso wie das Fehlen jenes unschätzbar wichtigen Fräuleins Rallet, einer Sekretärin aus Gallimards Verlag, im Register. Sie hatte die Idee zu den später berühmt gewordenen aus Fahnen und handschriftlichen Ergänzungen montierten placards, die Proust in einem Brief als "holde Meisterwerke" preist. Die Meisterin selbst aber wird von der Proust-Forschung weiter totgeschwiegen; nicht einmal ihr Vorname ist bekannt.
Aber nicht philologische Makellosigkeit soll primärer Maßstab zur Bewertung dieses Buchwunders sei, sondern inhaltliche. Die Übersetzungen - alle neu angefertigt, selbst in Fällen bereits vorhandener aus früheren deutschen Briefbänden - sind von großer Eleganz und Akkuratesse. Das bislang verbreitete Klischee von Prousts Briefen als Salon-Plaudereien, denen die analytische Schärfe der Romane fehlte, erweist sich als unhaltbar. Hier werden vielmehr alle Stilregister gezogen, vom Charmeur bis zum Zyniker, teilweise in denselben Schreiben. Keines ist zugleich witziger und trauriger als jener Verzweiflungsbrief, den Proust im Mai 1919 anlässlich des Erscheinens von "Im Schatten junger Mädchenblüte", des zweiten Teils der "Recherche", an Gallimard richtete, weil ihm das Buch in zu kleiner Schriftgröße und zu fehlerreich gedruckt war. Im Jahr danach wiederholte sich diese Enttäuschung, als die Fahnen zu "Guermantes" kamen. Proust klagte abermals beredt und bewegt Gallimard sein Leid und bat, ihm angesichts dieses Desasters ein halbes Jahr zur Korrektur einzuräumen, was er mit Verweis auf die Saumseligkeit des Lektorats scheinresigniert wieder zurücknahm: "Doch dann habe ich mir gedacht, dass letztlich sowieso keiner achtgibt. Monsieur (der reizende Dada, der die Fahnen nochmals durchgesehen hat und dessen Name mir im Augenblick entfallen ist) hat geglaubt zu lesen, Jacques Rivière hat geglaubt zu lesen . . . Bauen wir auf die Blindheit der anderen." Der "reizende Dada" war übrigens niemand anderer als André Breton. Die Vorstellung, dass er das Manuskript dadaistisch lektoriert hätte, dürfte sogar Proust zum Lachen gebracht haben.
Ansonsten war es ihm bitterernst mit der "Recherche", und darüber gibt diese Briefauswahl so deutlich Auskunft wie nur möglich. Bei diesem Buch ging es Proust um Leben und Tod, nämlich im Hinblick auf literarisches Nachleben oder Vergessen, und deshalb nahm er keinerlei Rücksicht auf die eigene Gesundheit. Was man über die Komposition und Verfertigung der "Recherche" aus seinen Briefen lernt, übertrifft jede spätere Interpretation durch andere. Allein eine solche Bemerkung ist die ganze Lektüre dieser beiden Briefbände wert: "Es kommt nur so viel Kontingentes darin vor, wie erforderlich ist, um den Anteil des Kontingenten im Leben auszudrücken. Und folglich ist es im Buch nicht mehr kontingent." Geschrieben wurde das 1912, also noch vor Erscheinen des ersten Bandes. Und noch früher, 1908, als die Arbeit am Zyklus begonnen hatte, listete Proust in einem Brief auf, was er gerade in Arbeit habe: "eine Studie über den Adel, einen Pariser Roman, einen Essay über Saint-Beuve und Flaubert, einen Essay über die Frauen, einen Essay über Päderastie (nicht leicht zu veröffentlichen), eine Studie über Kirchenfenster, eine Studie über Grabsteine, eine Studie über den Roman." Die "Recherche" wurde all das dann zugleich - und noch mehr. Nun kann man verfolgen, wie diese größte Literatur entstand.
ANDREAS PLATTHAUS
Marcel Proust: "Briefe 1879-1922". Hrsg. von Jürgen Ritte. Aus dem Französischen von Jürgen Ritte, Achim Russer und Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 2 Bde. im Schuber, zus. 1479 S., geb., 78,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verwoben und verliebt ins eigene Werk: Die bislang umfangreichste deutschsprachige Auswahl der Briefe von Marcel Proust erweist sich als ein Buchwunderwerk.
Es ging ihm nicht gut in seinen letzten Jahren, obwohl er erst um die fünfzig war. Doch auf den Fotos der frühen zwanziger Jahre sehen wir einen fröhlichen Marcel Proust. Er hielt auf Etikette, und Fotografie bedeutete für ihn Verheißung von Ewigkeit, also das, was er auch literarisch anstrebte. Dementsprechend waren Porträtaufnahmen nicht der Ort für die Dokumentation von Leiden - wie es auch die Bücher nicht waren, in denen Proust das eigene Leben zur Folie einer Fiktion machte, die alles umstürzte, was man unter Literatur verstand. Darin tritt er selbst als Ich-Erzähler auf, aber nicht im Sinne einer Autobiographie, denn der Marcel der Bücher wird zwar alt, ist aber nicht krank. Hätte sich doch auch da bewahrheitet, was Proust im Oktober 1914 seinem Lebensfreund Reynaldo Hahn mitteilte: "Seit langem bietet mir das Leben nur noch Ereignisse, die ich schon beschrieben habe." Gesundheit jedoch war ihm nicht vergönnt.
Gegenüber Korrespondenzpartnern beklagte Proust immer wieder Erschöpfung, Müdigkeit, Krankheit, und viele seiner Briefe brachen plötzlich mit dieser Floskel ab - zum Selbstschutz, denn er brauchte die verbleibende Kraft ja zur Vollendung seines Lebenswerks, des Romanzyklus "À la recherche du temps perdu" (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). Andere Schreiben, vor allem an ihm unbekannte Menschen, begannen gleich mit dieser Klage: "Monsieur, ein wahres Wunder hat bewirkt, dass ich Ihnen antworten kann. Seitdem ich krank bin, stapeln sich Tausende von ungeöffneten Briefen. Welcher Zufall dem Ihren ein anderes Schicksal beschieden und mir für eine kurze Zeit Kraft zum Antworten gegeben hat, ich weiß es nicht." Wir aber wissen es, denn der Adressat dieses Briefs vom 10. oder 11. Dezember 1920 (Proust datierte seine Schreiben fast nie; man muss den Zeitpunkt ihrer Abfassung also aus dem Inhalt oder, bei den seltenen Fällen, in denen sich der Umschlag erhalten hat, aus den Poststempeln folgern) hieß Harry Swann. "Swann" wie einer der wichtigsten Protagonisten in der "Recherche".
Diese Namensgleichheit wird den Schriftsteller elektrisiert haben, der sich seinem Romanprojekt mit Haut und Haaren buchstäblich verschrieben hatte. Er arbeitete daran, wann immer es ging, obwohl er schon 1913, als der erste Band erschien, das übrige Werk für abgeschlossen hielt. Aber statt damals drei projektierten Teilen sollten es sieben werden, und Proust starb am 18. November 1922 über den ununterbrochen weiterbearbeiteten und ergänzten Druckfahnen. Die letzten drei Bände erschienen erst postum.
Mit den gegenüber Monsieur Swann erwähnten "Tausenden ungeöffneter Briefe" mag Proust nicht einmal drastisch übertrieben haben. Er hat selbst Tausende geschrieben - die bis 1993 von Philipp Kolb erstellte französische Ausgabe seiner Korrespondenz umfasst 24 Bände und mehr Seiten als sein sonstiges Gesamtwerk; zudem tauchen immer wieder bislang noch unbekannte Schreiben auf. Die schon an Kolbs Ausgabe beteiligte Françoise Leriche hat 2004 eine leserfreundliche Auswahl von immerhin auch noch 627 Briefen getroffen, die vor allem in Fragen der Datierung und Kommentierung Maßstabe setzte. Auf der Grundlage dieses Buchs erscheint nun als Doppelband die bislang umfassendste deutsche Ausgabe von Prousts Korrespondenz, wenn man auch vermuten muss, dass diese auf fast 1500 Seiten versammelten 572 Schreiben keine fünf Prozent dessen darstellen, was dieser rastlos schreibende Mensch an Briefen verfasst hat.
Den ältesten uns bekannten schrieb er 1878 mit sieben Jahren an den Großvater, als spätesten hatte Leriche eine Notiz Prousts vom 31. Oktober 1922 an Gaston Gallimard, den Verleger der "Recherche", in ihre Briefauswahl aufgenommen. Die von dem Romanisten Jürgen Ritte betreute deutsche Ausgabe setzt nun einen anderen Schlusspunkt: mit einem Brief an Gallimards Verlagsmitarbeiter Jacques Rivière, der sich als Leiter der Zeitschrift "Nouvelle Revue Française" immer wieder für die "Recherche" eingesetzt hatte. Leriche hat dieses Schreiben gar nicht aufgenommen, Kolb sortierte es vor dem Schreiben an Gallimard ein. Ritte aber verweist in seinen Anmerkungen darauf, dass Proust selbst hier einmal eine Datierung vornahm: "nov.bre 1922", also November. Dabei kam dem Herausgeber zugute, dass das Original des Briefs in der "Bibliotheca Proustiana" des Kölner Sammlers und Proust-Afficionados Reiner Speck liegt.
Speck ist der Spiritus Rector hinter dieser deutschen Ausgabe, die dank jahrelanger Arbeit und phantastischer Ausstattung (Leineneinbände, Schuber mit im Inneren eingeklebtem Proust-Porträt, gegenüber Leriches Buch nochmals verbesserte Kommentierung) unbezahlbar genannt werden kann und dennoch nur vergleichsweise wenig Geld kostet. Möglich wurde das dadurch, dass Speck die Finanzierung übernahm und auch für ein rundes Zehntel der ausgewählten Briefe die Originale zur Verfügung stellen konnte, so dass etliche bei Kolb und Leriche noch unvollständige Lesarten korrigiert und sogar sieben Briefe ergänzt werden konnten, die in beiden französischen Ausgaben noch fehlten. Dass nur etwa die Hälfte der Autographen aus Specks Sammlung in den beiden Bänden auch als sein Besitz ausgewiesen wird, darf man wohl eher als Bescheidenheit denn als Versäumnis der Kompilatoren bewerten. Wie haben sie sonst gearbeitet? Extrem sorgfältig, auch wenn es zwei chronologische Brüche gibt. Ein angeblich im September 1921 verfasster Brief wird hinter mehreren aus dem November jenes Jahres stammenden Schreiben eingeordnet. Aber diese Reihenfolge findet sich schon bei Kolb und Leriche, es mag also einfach in der deutschen Ausgabe ein Druckfehler vorliegen (September statt Dezember). Doch für das Jahr 1922 weicht Ritte von der in den französische Ausgaben etablierten Abfolge ab und plaziert ohne jede Begründung zwischen zwei Briefen aus dem September einen von Ende August. Wie das der Aufmerksamkeit aller Beteiligten entgehen konnte, ist rätselhaft. Ebenso wie das Fehlen jenes unschätzbar wichtigen Fräuleins Rallet, einer Sekretärin aus Gallimards Verlag, im Register. Sie hatte die Idee zu den später berühmt gewordenen aus Fahnen und handschriftlichen Ergänzungen montierten placards, die Proust in einem Brief als "holde Meisterwerke" preist. Die Meisterin selbst aber wird von der Proust-Forschung weiter totgeschwiegen; nicht einmal ihr Vorname ist bekannt.
Aber nicht philologische Makellosigkeit soll primärer Maßstab zur Bewertung dieses Buchwunders sei, sondern inhaltliche. Die Übersetzungen - alle neu angefertigt, selbst in Fällen bereits vorhandener aus früheren deutschen Briefbänden - sind von großer Eleganz und Akkuratesse. Das bislang verbreitete Klischee von Prousts Briefen als Salon-Plaudereien, denen die analytische Schärfe der Romane fehlte, erweist sich als unhaltbar. Hier werden vielmehr alle Stilregister gezogen, vom Charmeur bis zum Zyniker, teilweise in denselben Schreiben. Keines ist zugleich witziger und trauriger als jener Verzweiflungsbrief, den Proust im Mai 1919 anlässlich des Erscheinens von "Im Schatten junger Mädchenblüte", des zweiten Teils der "Recherche", an Gallimard richtete, weil ihm das Buch in zu kleiner Schriftgröße und zu fehlerreich gedruckt war. Im Jahr danach wiederholte sich diese Enttäuschung, als die Fahnen zu "Guermantes" kamen. Proust klagte abermals beredt und bewegt Gallimard sein Leid und bat, ihm angesichts dieses Desasters ein halbes Jahr zur Korrektur einzuräumen, was er mit Verweis auf die Saumseligkeit des Lektorats scheinresigniert wieder zurücknahm: "Doch dann habe ich mir gedacht, dass letztlich sowieso keiner achtgibt. Monsieur (der reizende Dada, der die Fahnen nochmals durchgesehen hat und dessen Name mir im Augenblick entfallen ist) hat geglaubt zu lesen, Jacques Rivière hat geglaubt zu lesen . . . Bauen wir auf die Blindheit der anderen." Der "reizende Dada" war übrigens niemand anderer als André Breton. Die Vorstellung, dass er das Manuskript dadaistisch lektoriert hätte, dürfte sogar Proust zum Lachen gebracht haben.
Ansonsten war es ihm bitterernst mit der "Recherche", und darüber gibt diese Briefauswahl so deutlich Auskunft wie nur möglich. Bei diesem Buch ging es Proust um Leben und Tod, nämlich im Hinblick auf literarisches Nachleben oder Vergessen, und deshalb nahm er keinerlei Rücksicht auf die eigene Gesundheit. Was man über die Komposition und Verfertigung der "Recherche" aus seinen Briefen lernt, übertrifft jede spätere Interpretation durch andere. Allein eine solche Bemerkung ist die ganze Lektüre dieser beiden Briefbände wert: "Es kommt nur so viel Kontingentes darin vor, wie erforderlich ist, um den Anteil des Kontingenten im Leben auszudrücken. Und folglich ist es im Buch nicht mehr kontingent." Geschrieben wurde das 1912, also noch vor Erscheinen des ersten Bandes. Und noch früher, 1908, als die Arbeit am Zyklus begonnen hatte, listete Proust in einem Brief auf, was er gerade in Arbeit habe: "eine Studie über den Adel, einen Pariser Roman, einen Essay über Saint-Beuve und Flaubert, einen Essay über die Frauen, einen Essay über Päderastie (nicht leicht zu veröffentlichen), eine Studie über Kirchenfenster, eine Studie über Grabsteine, eine Studie über den Roman." Die "Recherche" wurde all das dann zugleich - und noch mehr. Nun kann man verfolgen, wie diese größte Literatur entstand.
ANDREAS PLATTHAUS
Marcel Proust: "Briefe 1879-1922". Hrsg. von Jürgen Ritte. Aus dem Französischen von Jürgen Ritte, Achim Russer und Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 2 Bde. im Schuber, zus. 1479 S., geb., 78,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.11.2016Im Hirn seines Herzens
Marcel Proust verabscheute es, Briefe zu schreiben,
und hat doch unzählige hinterlassen. Die zweibändige Ausgabe
seiner Korrespondenzen ist ein formidables Monstrum
VON MICHAEL MAAR
Dafür, dass er Korrespondenzen hasste, hat er eine Menge Briefe geschrieben, einen sogar an einen Hund. Die damals noch dreimal pro Tag ausgelieferten Briefe waren für den asthmakranken Autor, der seine Matratzengruft im letzten Jahrzehnt nur noch selten verließ, die einzige Verbindung zur Außenwelt. Sie waren aber kein Bestandteil des Werks, und das war, was er an ihnen hasste: Nichts sollte die Nachwelt ablenken von der „Suche nach der verlorenen Zeit“, nichts sollte über ihn und sein Privatleben nach außen dringen.
Und genau das, was Marcel Proust befürchtete, dass man seine Briefe fleddern und publizieren würde, sobald er erst seinen Wohnsitz im Grab bezogen hätte – genau das geschah. Jeder Freund oder Bekannte wollte für einen Moment in die Sonne des Ruhmes treten, die inzwischen über ihm aufgegangen war, jeder gab Bändchen mit ausgewählten Briefen heraus oder verkaufte Autografen an Auktionshäuser. Proust-Briefe schwirrten in der Welt herum wie die Hogwarts-Einladungen für Harry Potter bei den verstörten Dursleys, bis sich ein amerikanischer Wissenschaftler, der in Paris Prousts Nichte kennengelernt hatte, entschloss, der „Correspondance de Marcel Proust“ sein Lebenswerk zu widmen. Philip Kolb begann, das epistolarische Werk systematisch zu erfassen und gab von 1970 bis 1993 die kommentierten Proust-Briefe in insgesamt einundzwanzig Bänden heraus; der letzte Band erschien postum.
Kolb wusste, dass er mit den abgedruckten Briefen nur einen kleinen Teil des Corpus hatte aufstöbern können, vielleicht ein Zehntel; aber 4500 Briefe waren besser als nichts. Im Jahr 2004 gab Françoise Leriche, eine Schülerin Kolbs, eine schmale kommentierte Auswahl dieser Correspondance heraus, an der sich der an der Sorbonne lehrende Philologe, Übersetzer und Proust-Experte Jürgen Ritte nun in seiner zweibändigen, ausnehmend schön gestalteten Ausgabe orientiert, die er aber klug erweitert und auf das deutsche Publikum abstimmt.
Mit Blick auf seinen Vorgänger Kolb spricht Ritte von der nicht endenden Mönchsarbeit des Kommentierens. Was Ritte selbst geleistet hat, muss man stupend nennen. Sein Kommentar ist ein Wunderwerk der Gelehrtheit und Akribie. Ritte entschlüsselt die entlegensten Anspielungen, kein Fädchen bleibt unverfolgt. Wenn eine Oper erwähnt wird, zählt er die Besetzung bis in die Nebenrollen auf und berichtet, wie viele Abende sie gespielt wurde. Im Anhang gibt er noch eine alphabetische Auflistung aller Adressaten mit biografischem Abriss, allein das eine monströse Fleißarbeit.
Seiner Akribie entkommt auch der Held dieses Epos nicht. Ritte lässt ihm keine der Übertreibungen durchgehen, zu denen Proust neigte. Nur einmal verteidigt er ihn gegen einen berühmten Kritiker: In Fragen des Stils, der Sprache, der Grammatik hatte Proust unfehlbar recht. Was dessen Privatleben betrifft, ist Ritte fast zu honorig diskret. Warum Proust ein Detektivbüro engagiert, um seinem aus Paris geflüchteten Sekretär Alfred Agostinelli nachzuspionieren, warum er dessen Vater zu bestechen versucht und ein NSA-ähnliches Überwachungsprogramm in Bewegung setzt, das sogar den Fürsten von Monaco involviert, wird nur verständlich, wenn man Agostinelli mit Albertine in Beziehung setzt, dem starknackigen Mädchen, dem Marcel verfällt und dem Proust den Band „Die Entflohene“ widmen wird. Rittes Prinzip, für das Wichtige nur wenige Zeilen zu verwenden und für das weniger Wichtige viele, ist gut für die Kenner, aber für die Laien mitunter schwierig.
Aber sollen Laien das überhaupt alles lesen? Sie müssen es nicht. Doch entginge ihnen das Bild eines Charakters, der dann doch singulär ist in der Welt der Literatur. Prousts Register ist enorm, es gibt alle Tonlagen bei ihm. Es gibt einen großen Stoß ödipaler Briefe an die „chère petite maman“, nach deren Tod er erst zum rücksichtslosen Schriftsteller wird und werden kann. Es gibt die klagenden Briefe an den Redakteur Jacques Rivière und den Verleger Gaston Gallimard, der sich in Proust den größten, aber auch schwierigsten Klienten ins Haus geholt hatte; eine ewige Litanei über Details des Drucks. Es gibt die Briefe an seinen Anlageberater Lionel Hauser, dem Proust berichtet, wie er schon wieder durch Fehlspekulation sein halbes Vermögen verloren hat – ägyptische Vorzugsobligationen, mexikanische Straßenbahnaktien und russische Papiere, deren Wert sofort wieder steigt, sobald er sie verkauft hat. Nicht zuletzt gibt es die albern-intimen und entzückenden Briefe an Bunibuls, seinen frühen Geliebten und lebenslangen Freund Reynaldo Hahn, in einem privatsprachlichen Idiom verfasst, dem die ansonsten tadellose Übersetzung kaum gerecht werden kann – tadellos, auch wenn man ein modisches „verortet“ bei Proust so wenig lesen will wie ein „außen vor lassen“, und auch wenn man die Übersetzung des Schnorrbriefs des sechzehnjährigen Marcel an seinen Großvater, in dem er ihn um 13 Francs für einen weiteren Bordellbesuch bittet, nachdem er beim ersten vor Aufregung versagt und zudem einen Topf (3 Francs) zerschlagen habe – auch wenn man die Übersetzung des dort einschlägigen Verbs „baiser“ mit „beischlafen“ als etwas zu keusch empfinden kann. Man denke sich Virginie Despentes’ Skandalfilm „Baise-moi!“ in dieser Übertragung – „Schlafe mir bei!“
Viele, vielleicht die meisten seiner Briefe sind taktisch. Proust hat ein Ziel im Auge und schlängelt es an. Es gibt keinen größeren, geschickteren Schmeichler, manchmal auch Schleimer, der seine Hilfe mit der Entschuldigung anbietet, manchmal könne auch eine Ameise einem Löwen einen Dienst erweisen (wobei er zwei Fabeln La Fontaines vermischt, wie der Kommentar sanft korrigiert). Es gibt aber auch keinen einfühlsameren Kondolenzbriefschreiber, keinen raffinierteren Strategen im Literaturkampf, keinen gedächtnisstärkeren Leser, der alles aus dem Kopf zitiert, keinen rührenderen Freund, auch keinen bedachtsameren politischen Beurteiler, worauf zu Recht Wolf Lepenies hinwies.
Zu Prousts Ruf als Snob passte es eben gerade nicht, dass er als einer der Ersten den Protest gegen die Dreyfus-Verurteilung unterschrieb, ja den Protest überhaupt organisierte; beim Adel machte ihm das so wenig Freunde wie in den nationalistisch aufgewühlten Zeiten später sein Unwille, die Deutschen „boches“ zu nennen und unter Generalverdacht zu stellen. Hellsichtiger als viele andere Intellektuelle auch in Deutschland schreibt er schon Anfang August 1914 an Lionel Hauser: Obwohl er ungläubig sei, hoffe er, dass ein höchstes Wunder in letzter Sekunde das Auslösen der allesmordenden Maschine verhindere. „Aber ich frage mich, wie ein gläubiger Mensch, ein praktizierender Katholik wie der Kaiser Franz Joseph, der davon überzeugt ist, nach seinem baldigen Tod vor Gott zu erscheinen, es auf sich nehmen kann, ihm für Millionen Menschenleben Rechenschaft ablegen zu müssen, die nicht aufzuopfern in seiner Macht gestanden hätte.“
Die Millionen hatten damals nicht viele vorhergesehen. Einer von ihnen war Arthur Schnitzler in Wien. Schnitzler und Proust, selten miteinander verglichen, sind sich verblüffend ähnlich in ihrer abgründigen, nichts sich schönredenden Psychologie und ihrem Sinn für die Flusen und Flausen der unwillkürlichen Erinnerung. Es wäre reizvoll, Schnitzlers deprimierte Tagebucheinträge und Prousts Briefe aus der Anfangszeit der grande guerre zusammen zu lesen, schon deshalb, weil auch Schnitzler unter dem aufflammenden Antisemitismus litt wie Proust, der seine jüdische Mutter auch gegenüber dem Dreyfus-feindlichen Adel nicht verleugnete – jedenfalls einmal nicht, dies nebenbei.
In einem Brief an ausgerechnet Lionel Hauser findet sich dann überraschend Prousts religiöses Bekenntnis. „Mich persönlich“, schreibt er dem Freund, der ihm nicht nur Börsentipps gab, sondern nebenbei auch theosophische Traktate verfasste, „mich persönlich drängt das fortlaufende Studium der inneren Phänomene, das Hören auf unerklärliche Reminiszenzen zu der Annahme, dass unser gegenwärtiges Leben tatsächlich nicht das erste ist und dass der Schwamm des Vergessens die Erinnerungen an die vorherigen nicht vollständig getilgt hat.“
Dieses Studium der inneren Phänomene war die eigentliche Aufgabe seiner, vielleicht jeder Literatur. Dichter werde man nur, sofern man tief hinabsteige „in das Herz seines Herzens oder vielmehr in das Hirn seines Herzens“. Angekündigt hatte sich dieser Abstieg schon früh. Im Januar 1903 schreibt Proust dem Freund Antoine Bibesco, hundert Romanfiguren, tausend Ideen flehten ihn an, ihnen Gestalt zu geben, wie jene Schatten, die Odysseus darum bitten, ihnen ein wenig Blut zu trinken zu geben, um sie zum Leben zu erwecken. Er habe seinen Geist seiner Ruhe unterworfen, doch indem er dessen Ketten gelöst habe, im Glauben, einen Sklaven zu befreien, habe er sich einen Herrn geschaffen, „dessen Anforderungen ich körperlich nicht gewachsen bin und der mich töten wird, wenn ich ihm nicht widerstehe.“
Im November 1909 gibt es einen Wendepunkt. Proust spürt, dass es seine Pflicht sei, jetzt alles dem Versuch unterzuordnen, sein Werk zu Ende zu bringen. Sein Leben, der schäbige Rest, wie es bei Arno Schmidt heißt, dient nur noch der Hervorbringung der „Recherche“. Wie der chinesische Maler der Legende zieht Proust sich durch ein Pförtchen in das von ihm gemalte Bild zurück. Die Jünger winken ihm noch nach, bevor er in seinem Werk verschwindet. 1919 wird Proust mit dem Goncourt-Preis zur offiziellen Zelebrität. Den Anhauch des Weltruhms bekommt er in seiner Korkhöhle noch mit. In Deutschland schreibt Robert Curtius über ihn, in England studiert ihn Henry James. Mit seiner Gesundheit geht es rapide bergab. Nur einundfünfzig Jahre alt, stirbt er am 18. November 1922. Seinen Kampf hat er gewonnen. Er hinterlässt einen der größten Romane, die je geschrieben wurden.
Der Kommentar endet nach 1364 Seiten, ohne ein Wort über die Agonie des Helden – keine Girlanden, kein Lorbeer, nicht mal ein Blättchen. Der alphabetische Anhang endet mit „Zadig“, dem nach einer Voltaire-Figur benannten Langhaardackel Reynaldo Hahns. Es sei nur ein Brief von Marcel Proust an Zadig erhalten. „Briefe von Zadig an Proust sind bis heute nicht aufgetaucht.“ Mit diesem eleganten Schlenker schließt ein zweibändiges Monument, das zu den formidabelsten Proustiana der letzten Jahrzehnte zählt.
Proust war ein taktischer
Briefeschreiber; er fasst ein Ziel
ins Auge und schlängelt es an
Von 1909 an verschwindet er
in seinem Werk. Der „Recherche“
ordnet er nun alles andere unter
Was die Menschen lesen, hat Steve McCurry nie gefragt. Ihn fasziniert der Moment der Versenkung, wie ihn jener Zeitungsleser in Mumbai, Indien, erlebt.
Marcel Proust:Briefe
1879 – 1922. Zwei Bände.
Herausgegeben, ausgewählt
und kommentiert von
Jürgen Ritte. Aus dem
Französischen von
Jürgen Ritte, Achim Russe
und Bernd Schwibs.
Suhrkamp Verlag, Berlin
2016. 1479 Seiten, 78 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Marcel Proust verabscheute es, Briefe zu schreiben,
und hat doch unzählige hinterlassen. Die zweibändige Ausgabe
seiner Korrespondenzen ist ein formidables Monstrum
VON MICHAEL MAAR
Dafür, dass er Korrespondenzen hasste, hat er eine Menge Briefe geschrieben, einen sogar an einen Hund. Die damals noch dreimal pro Tag ausgelieferten Briefe waren für den asthmakranken Autor, der seine Matratzengruft im letzten Jahrzehnt nur noch selten verließ, die einzige Verbindung zur Außenwelt. Sie waren aber kein Bestandteil des Werks, und das war, was er an ihnen hasste: Nichts sollte die Nachwelt ablenken von der „Suche nach der verlorenen Zeit“, nichts sollte über ihn und sein Privatleben nach außen dringen.
Und genau das, was Marcel Proust befürchtete, dass man seine Briefe fleddern und publizieren würde, sobald er erst seinen Wohnsitz im Grab bezogen hätte – genau das geschah. Jeder Freund oder Bekannte wollte für einen Moment in die Sonne des Ruhmes treten, die inzwischen über ihm aufgegangen war, jeder gab Bändchen mit ausgewählten Briefen heraus oder verkaufte Autografen an Auktionshäuser. Proust-Briefe schwirrten in der Welt herum wie die Hogwarts-Einladungen für Harry Potter bei den verstörten Dursleys, bis sich ein amerikanischer Wissenschaftler, der in Paris Prousts Nichte kennengelernt hatte, entschloss, der „Correspondance de Marcel Proust“ sein Lebenswerk zu widmen. Philip Kolb begann, das epistolarische Werk systematisch zu erfassen und gab von 1970 bis 1993 die kommentierten Proust-Briefe in insgesamt einundzwanzig Bänden heraus; der letzte Band erschien postum.
Kolb wusste, dass er mit den abgedruckten Briefen nur einen kleinen Teil des Corpus hatte aufstöbern können, vielleicht ein Zehntel; aber 4500 Briefe waren besser als nichts. Im Jahr 2004 gab Françoise Leriche, eine Schülerin Kolbs, eine schmale kommentierte Auswahl dieser Correspondance heraus, an der sich der an der Sorbonne lehrende Philologe, Übersetzer und Proust-Experte Jürgen Ritte nun in seiner zweibändigen, ausnehmend schön gestalteten Ausgabe orientiert, die er aber klug erweitert und auf das deutsche Publikum abstimmt.
Mit Blick auf seinen Vorgänger Kolb spricht Ritte von der nicht endenden Mönchsarbeit des Kommentierens. Was Ritte selbst geleistet hat, muss man stupend nennen. Sein Kommentar ist ein Wunderwerk der Gelehrtheit und Akribie. Ritte entschlüsselt die entlegensten Anspielungen, kein Fädchen bleibt unverfolgt. Wenn eine Oper erwähnt wird, zählt er die Besetzung bis in die Nebenrollen auf und berichtet, wie viele Abende sie gespielt wurde. Im Anhang gibt er noch eine alphabetische Auflistung aller Adressaten mit biografischem Abriss, allein das eine monströse Fleißarbeit.
Seiner Akribie entkommt auch der Held dieses Epos nicht. Ritte lässt ihm keine der Übertreibungen durchgehen, zu denen Proust neigte. Nur einmal verteidigt er ihn gegen einen berühmten Kritiker: In Fragen des Stils, der Sprache, der Grammatik hatte Proust unfehlbar recht. Was dessen Privatleben betrifft, ist Ritte fast zu honorig diskret. Warum Proust ein Detektivbüro engagiert, um seinem aus Paris geflüchteten Sekretär Alfred Agostinelli nachzuspionieren, warum er dessen Vater zu bestechen versucht und ein NSA-ähnliches Überwachungsprogramm in Bewegung setzt, das sogar den Fürsten von Monaco involviert, wird nur verständlich, wenn man Agostinelli mit Albertine in Beziehung setzt, dem starknackigen Mädchen, dem Marcel verfällt und dem Proust den Band „Die Entflohene“ widmen wird. Rittes Prinzip, für das Wichtige nur wenige Zeilen zu verwenden und für das weniger Wichtige viele, ist gut für die Kenner, aber für die Laien mitunter schwierig.
Aber sollen Laien das überhaupt alles lesen? Sie müssen es nicht. Doch entginge ihnen das Bild eines Charakters, der dann doch singulär ist in der Welt der Literatur. Prousts Register ist enorm, es gibt alle Tonlagen bei ihm. Es gibt einen großen Stoß ödipaler Briefe an die „chère petite maman“, nach deren Tod er erst zum rücksichtslosen Schriftsteller wird und werden kann. Es gibt die klagenden Briefe an den Redakteur Jacques Rivière und den Verleger Gaston Gallimard, der sich in Proust den größten, aber auch schwierigsten Klienten ins Haus geholt hatte; eine ewige Litanei über Details des Drucks. Es gibt die Briefe an seinen Anlageberater Lionel Hauser, dem Proust berichtet, wie er schon wieder durch Fehlspekulation sein halbes Vermögen verloren hat – ägyptische Vorzugsobligationen, mexikanische Straßenbahnaktien und russische Papiere, deren Wert sofort wieder steigt, sobald er sie verkauft hat. Nicht zuletzt gibt es die albern-intimen und entzückenden Briefe an Bunibuls, seinen frühen Geliebten und lebenslangen Freund Reynaldo Hahn, in einem privatsprachlichen Idiom verfasst, dem die ansonsten tadellose Übersetzung kaum gerecht werden kann – tadellos, auch wenn man ein modisches „verortet“ bei Proust so wenig lesen will wie ein „außen vor lassen“, und auch wenn man die Übersetzung des Schnorrbriefs des sechzehnjährigen Marcel an seinen Großvater, in dem er ihn um 13 Francs für einen weiteren Bordellbesuch bittet, nachdem er beim ersten vor Aufregung versagt und zudem einen Topf (3 Francs) zerschlagen habe – auch wenn man die Übersetzung des dort einschlägigen Verbs „baiser“ mit „beischlafen“ als etwas zu keusch empfinden kann. Man denke sich Virginie Despentes’ Skandalfilm „Baise-moi!“ in dieser Übertragung – „Schlafe mir bei!“
Viele, vielleicht die meisten seiner Briefe sind taktisch. Proust hat ein Ziel im Auge und schlängelt es an. Es gibt keinen größeren, geschickteren Schmeichler, manchmal auch Schleimer, der seine Hilfe mit der Entschuldigung anbietet, manchmal könne auch eine Ameise einem Löwen einen Dienst erweisen (wobei er zwei Fabeln La Fontaines vermischt, wie der Kommentar sanft korrigiert). Es gibt aber auch keinen einfühlsameren Kondolenzbriefschreiber, keinen raffinierteren Strategen im Literaturkampf, keinen gedächtnisstärkeren Leser, der alles aus dem Kopf zitiert, keinen rührenderen Freund, auch keinen bedachtsameren politischen Beurteiler, worauf zu Recht Wolf Lepenies hinwies.
Zu Prousts Ruf als Snob passte es eben gerade nicht, dass er als einer der Ersten den Protest gegen die Dreyfus-Verurteilung unterschrieb, ja den Protest überhaupt organisierte; beim Adel machte ihm das so wenig Freunde wie in den nationalistisch aufgewühlten Zeiten später sein Unwille, die Deutschen „boches“ zu nennen und unter Generalverdacht zu stellen. Hellsichtiger als viele andere Intellektuelle auch in Deutschland schreibt er schon Anfang August 1914 an Lionel Hauser: Obwohl er ungläubig sei, hoffe er, dass ein höchstes Wunder in letzter Sekunde das Auslösen der allesmordenden Maschine verhindere. „Aber ich frage mich, wie ein gläubiger Mensch, ein praktizierender Katholik wie der Kaiser Franz Joseph, der davon überzeugt ist, nach seinem baldigen Tod vor Gott zu erscheinen, es auf sich nehmen kann, ihm für Millionen Menschenleben Rechenschaft ablegen zu müssen, die nicht aufzuopfern in seiner Macht gestanden hätte.“
Die Millionen hatten damals nicht viele vorhergesehen. Einer von ihnen war Arthur Schnitzler in Wien. Schnitzler und Proust, selten miteinander verglichen, sind sich verblüffend ähnlich in ihrer abgründigen, nichts sich schönredenden Psychologie und ihrem Sinn für die Flusen und Flausen der unwillkürlichen Erinnerung. Es wäre reizvoll, Schnitzlers deprimierte Tagebucheinträge und Prousts Briefe aus der Anfangszeit der grande guerre zusammen zu lesen, schon deshalb, weil auch Schnitzler unter dem aufflammenden Antisemitismus litt wie Proust, der seine jüdische Mutter auch gegenüber dem Dreyfus-feindlichen Adel nicht verleugnete – jedenfalls einmal nicht, dies nebenbei.
In einem Brief an ausgerechnet Lionel Hauser findet sich dann überraschend Prousts religiöses Bekenntnis. „Mich persönlich“, schreibt er dem Freund, der ihm nicht nur Börsentipps gab, sondern nebenbei auch theosophische Traktate verfasste, „mich persönlich drängt das fortlaufende Studium der inneren Phänomene, das Hören auf unerklärliche Reminiszenzen zu der Annahme, dass unser gegenwärtiges Leben tatsächlich nicht das erste ist und dass der Schwamm des Vergessens die Erinnerungen an die vorherigen nicht vollständig getilgt hat.“
Dieses Studium der inneren Phänomene war die eigentliche Aufgabe seiner, vielleicht jeder Literatur. Dichter werde man nur, sofern man tief hinabsteige „in das Herz seines Herzens oder vielmehr in das Hirn seines Herzens“. Angekündigt hatte sich dieser Abstieg schon früh. Im Januar 1903 schreibt Proust dem Freund Antoine Bibesco, hundert Romanfiguren, tausend Ideen flehten ihn an, ihnen Gestalt zu geben, wie jene Schatten, die Odysseus darum bitten, ihnen ein wenig Blut zu trinken zu geben, um sie zum Leben zu erwecken. Er habe seinen Geist seiner Ruhe unterworfen, doch indem er dessen Ketten gelöst habe, im Glauben, einen Sklaven zu befreien, habe er sich einen Herrn geschaffen, „dessen Anforderungen ich körperlich nicht gewachsen bin und der mich töten wird, wenn ich ihm nicht widerstehe.“
Im November 1909 gibt es einen Wendepunkt. Proust spürt, dass es seine Pflicht sei, jetzt alles dem Versuch unterzuordnen, sein Werk zu Ende zu bringen. Sein Leben, der schäbige Rest, wie es bei Arno Schmidt heißt, dient nur noch der Hervorbringung der „Recherche“. Wie der chinesische Maler der Legende zieht Proust sich durch ein Pförtchen in das von ihm gemalte Bild zurück. Die Jünger winken ihm noch nach, bevor er in seinem Werk verschwindet. 1919 wird Proust mit dem Goncourt-Preis zur offiziellen Zelebrität. Den Anhauch des Weltruhms bekommt er in seiner Korkhöhle noch mit. In Deutschland schreibt Robert Curtius über ihn, in England studiert ihn Henry James. Mit seiner Gesundheit geht es rapide bergab. Nur einundfünfzig Jahre alt, stirbt er am 18. November 1922. Seinen Kampf hat er gewonnen. Er hinterlässt einen der größten Romane, die je geschrieben wurden.
Der Kommentar endet nach 1364 Seiten, ohne ein Wort über die Agonie des Helden – keine Girlanden, kein Lorbeer, nicht mal ein Blättchen. Der alphabetische Anhang endet mit „Zadig“, dem nach einer Voltaire-Figur benannten Langhaardackel Reynaldo Hahns. Es sei nur ein Brief von Marcel Proust an Zadig erhalten. „Briefe von Zadig an Proust sind bis heute nicht aufgetaucht.“ Mit diesem eleganten Schlenker schließt ein zweibändiges Monument, das zu den formidabelsten Proustiana der letzten Jahrzehnte zählt.
Proust war ein taktischer
Briefeschreiber; er fasst ein Ziel
ins Auge und schlängelt es an
Von 1909 an verschwindet er
in seinem Werk. Der „Recherche“
ordnet er nun alles andere unter
Was die Menschen lesen, hat Steve McCurry nie gefragt. Ihn fasziniert der Moment der Versenkung, wie ihn jener Zeitungsleser in Mumbai, Indien, erlebt.
Marcel Proust:Briefe
1879 – 1922. Zwei Bände.
Herausgegeben, ausgewählt
und kommentiert von
Jürgen Ritte. Aus dem
Französischen von
Jürgen Ritte, Achim Russe
und Bernd Schwibs.
Suhrkamp Verlag, Berlin
2016. 1479 Seiten, 78 Euro.
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»Eine prächtige Auswahlausgabe ...« Stefan Zweifel Neue Zürcher Zeitung 20170213