»Wenn Sie glauben, mich besuchen zu wollen, ist das sehr nett von Ihnen … Bitte melden Sie sich vorher an.« Der Besuch fand nicht statt, doch beginnt mit diesen Zeilen ein Briefwechsel, der bis in die Wochen von Benns Tod im Sommer 1956 reicht. Benns Briefpartnerin, die selbstbewußte junge Germanistin Astrid Claes, hatte die erste Dissertation über Benns Lyrik verfaßt und ihm geschickt; ihre späteren Fragen zu seinem Werk werden von Benn gelesen und, wie es scheint, zunächst recht summarisch beantwortet. Bald schon gilt Benns Interesse aber auch der angehenden Schriftstellerin: Astrid Claes schickt einige Gedichte und Erzählungen nach Berlin-Schöneberg, die auf großes Lob des berühmten Kollegen stoßen. Rund achtzig, bisher zum großen Teil unveröffentlichte Briefe Benns sind hier gesammelt und mit Anmerkungen von Bernd Witte versehen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.05.2002Ich bin viel, viel morbider, als ich vielleicht aussehe
Am Ende blieb es doch beim Sodawasser und einem Stück matter Prosa: Gottfried Benn wirbt in vergeblichen Briefen um die Germanistin Astrid Claes
Die Bilder des alten Gottfried Benn zeigen einen Herrn, der sich gern in jene überaus gut gepolsterten Fünfziger-Jahre-Anzüge kleidete, deren fester Stoff mit jeder Faser „Friedensqualität” zu sagen schien und die einen schlaffen Leib mit anständiger Panzerung verhüllten. Ein auf dieser Festung ruhendes Mondgesicht blickt uns mit glasigen Augen unter schweren Lidern an; um den Mund spielt ein Zug von schwermütiger Bitternis. Kein Zweifel, dieser Habitus beglaubigte Benns berühmte Verszeile vom „sich umgrenzenden Ich” aufs genaueste.
Dass der katerhaft verschlafene Blick seine Umwelt aufs genaueste wahrnahm, wurde einer entzückten Öffentlichkeit seit der Publikation von Benns Altersbriefen an den Bremer Freund Friedrich Wilhelm Oelze in den späten siebziger Jahren bewusst. Sie haben ganz ähnlich gewirkt wie kurz danach die Tagebücher Thomas Manns: Neben ein literarisches Stilisat trat eine deutlich lebhaftere Person, die sich für viele Leser der Kunstfigur auch künstlerisch ebenbürtig, wenn nicht überlegen zeigte. Bei Benn kommt nun hinzu: Der Kater konnte das Mausen nicht lassen, und die kurz nacheinander herausgekommenen Bände mit den Briefen an seine letzten Geliebten Ursula Ziebarth und jetzt Astrid Claes fügen dem Reiz, den die Bennsche Prosa immer ausübt, die novellistische Spannung von zwei Amouren hinzu.
Beziehungsweise fast, würde Eckhard Henscheid sagen. Denn bei Astrid Claes biss Benn, der nach eigenem Bekunden die Liebe ganz gern ungemischt genoss – ohne das Sodawasser von Kunstgesprächen – letztlich auf Granit, anders als bei der bedenkenloseren Ursula Ziebarth. Fräulein Claes war filigraner, verschatteter, schwieriger, wie nicht nur die Bilder zeigen, sondern auch jene Briefe Benns, die ihre Einsprüche, Vorwürfe, ihr Ausweichen erkennen lassen – man bedauert es, dass ihre Gegenbriefe nicht mitveröffentlicht werden.
Claes promovierte 1953 bei Richard Alewyn über Benns Lyrik, außerdem dichtete sie selbst nicht ohne Talent. Das Briefgespräch kommt in Gang durch Anfragen zur Sache, die Übersendung der Dissertation und weiteres Fachsimpeln. Benn antwortet mit soignierter Knappheit, behält aber von Anfang an unverkennbar die Möglichkeit einer erotischen Verwicklung im Auge. Der beträchtliche komische Reiz dieses schmalen Konvoluts beruht auf der bald nur zu durchsichtigen Drängelei des alten Herrn. Gleich will er ein Zusammentreffen. Er verlangt ein Bild. Er teilt mit: „Sie beschäftigen mich.” Geduldig gibt er Auskünfte, nicht ohne zu stöhnen: „Glauben Sie, man kann alles beantworten?” Offenbar hat Astrid Claes ein allzu feierliches Bild von dem Dichter, wie nicht nur ihre Irritation über einzelne der Mitteilungen Benns zeigt, sondern kurz danach auch ihre Ablehnung seines Bandes „Aprèslude”, der ihr zu leichtgewichtig ist und, wie sie glaubt, zu sorglos gemacht.
Benn wischt das gleichgültig weg, und nicht nur hier zeigt sich, dass der Austausch über Lyrik doch eher ein Vorwand war. Einmal fragt er sie: „Kennen Sie eigentlich mein Buch ,Der Ptolemäer'?” Der Kommentar teilt Astrid Claes' Antwort mit: „Aus dem Ptolemäer habe ich in meiner Dissertation ständig zitiert, (Sie haben die Arbeit also doch nicht gelesen) ich kenne das Buch also.” Und Benn hatte die Arbeit nicht nur ihr gegenüber, sondern auch in einem sehr formellen Schreiben an Professor Alewyn in den höchsten Tönen gepriesen!
Man kann gleichwohl nicht behaupten, Benn habe die dichtende Wissenschaftlerin im Unklaren über seine Absichten gelassen. Er forscht sie aus, will wissen, wer ihr Freund ist, verlangt Aufklärung über Frisuren, Lebensumstände („Erzählen Sie mir irdische Dinge von sich”). Das Gedrängel wird so stark, dass Claes Reitunfälle erfinden muss, um den mit Nachdruck verlangten Begegnungen auszuweichen. Am 29. Juni 1954 kommt es zu einem langwierig eingefädelten Zusammentreffen in einem Kasseler Hotel – aber wieder nur Dichtungsgespräche! Doch Benn gibt die Hoffnung nicht auf, er empfiehlt, zur Erleichterung seiner doppelten Buchführung mit der Ehefrau, die Verwendung separater Zettel: „Wenn Sie mir einmal etwas ganz Persönliches schreiben wollen, legen Sie bitte einen Zettel damit in den übrigen Brief.”
„Unsere Beziehungen sind von einer gewissen Zwiespältigkeit für mich', resümiert der Dichter einen Monat später. „Nämlich: sind Sie eine Frau, also eine Liebespartnerin, stehe ich Ihnen anders gegenüber, als wenn Sie ein feines Herz sind, eine Dichterin, eine Gespielin, die nicht isst, nicht trinkt, nicht schläft, sich ihr goldenes Haar mit einem diamantenen Kamm am hohen Turmfenster kämmt. Also was sind Sie?” Noch ein paar Wochen weiter: „Sie sind das reizendste Wesen, das es überhaupt geben kann.” Es half alles nichts; dieser Fall war dem Charmeur zu schwer. Denn es stellt sich heraus: Fräulein Astrid ist schon vergeben, sie hat einen Freund, den Literaturwissenschaftler Rainer Gruenter, und von ihm ein Kind.
Benn ist furchtbar enttäuscht und wird ganz unzart: „Zu ihrem neulich gesandten Bild: mich stört der Säugling auf Ihrem Arm, sieht so blöd aus. Was liegt auf der Bank neben Ihnen? Pelz? Handtasche? Kinderwäsche?” Der Rest ist peinlich, Erdenrest. Benn muss mit Herrn Gruenter dinieren, hat aber schon Fräulein Ziebarth an der Angel. Fräulein Claes soll für Fräulein Ziebarth eine Stelle in ihrem Verlag besorgen. Die beiden Frauen giften gegeneinander, was die Editionen ihrer Briefbände bis heute belastet. Für Benn bleibt ein einziger Satz übrig: „Ich will nicht mit Plattheiten vor Ihren strengen Blick treten, darum sage ich nur, es gab im Juni einen schönen kurzen Tag, von nachmittags um 3 Uhr bis morgens um 10.” Das war in Kassel. Für Astrid Claes bleibt eine Erzählung von 25 Seiten übrig, „Gin”, die der Briefband nachdruckt – ein mattes, zierliches, symbolisch verkitschtes Stück Prosa mit ein paar wörtlichen Zitaten aus den Briefen.
All das ist ein wenig unter Benns Niveau – auf seiner literarischen Höhe finden wir ihn drei Tage nach Kassel in einem Augenblick der Resignation: „Es ist einer jener grauen Sommertage, wie ich sie liebe, ich bin allein in der Wohnung, es ist still, kein Telefon u. Klingeln zu erwarten. Ich hause in einer Stube, die nach hinten liegt, auf den Hof, die verlasse ich selten. Dies ist meine Heimat, nach der ich mich auch auf Reisen immer sehne. Ich bin viel, viel morbider, als ich vielleicht aussehe u. vielleicht auch auf Sie wirkte. Eigentlich ist Alles längst zu Ende.”
GUSTAV SEIBT
GOTTFRIED BENN: Briefe an Astrid Claes 1951-1956. Herausgegeben von Bernd Witte. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2002. 155 Seiten, 19 Euro.
Gottfried Benn, Astrid Claes
Fotos: Klett-Cotta
Verlag
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Am Ende blieb es doch beim Sodawasser und einem Stück matter Prosa: Gottfried Benn wirbt in vergeblichen Briefen um die Germanistin Astrid Claes
Die Bilder des alten Gottfried Benn zeigen einen Herrn, der sich gern in jene überaus gut gepolsterten Fünfziger-Jahre-Anzüge kleidete, deren fester Stoff mit jeder Faser „Friedensqualität” zu sagen schien und die einen schlaffen Leib mit anständiger Panzerung verhüllten. Ein auf dieser Festung ruhendes Mondgesicht blickt uns mit glasigen Augen unter schweren Lidern an; um den Mund spielt ein Zug von schwermütiger Bitternis. Kein Zweifel, dieser Habitus beglaubigte Benns berühmte Verszeile vom „sich umgrenzenden Ich” aufs genaueste.
Dass der katerhaft verschlafene Blick seine Umwelt aufs genaueste wahrnahm, wurde einer entzückten Öffentlichkeit seit der Publikation von Benns Altersbriefen an den Bremer Freund Friedrich Wilhelm Oelze in den späten siebziger Jahren bewusst. Sie haben ganz ähnlich gewirkt wie kurz danach die Tagebücher Thomas Manns: Neben ein literarisches Stilisat trat eine deutlich lebhaftere Person, die sich für viele Leser der Kunstfigur auch künstlerisch ebenbürtig, wenn nicht überlegen zeigte. Bei Benn kommt nun hinzu: Der Kater konnte das Mausen nicht lassen, und die kurz nacheinander herausgekommenen Bände mit den Briefen an seine letzten Geliebten Ursula Ziebarth und jetzt Astrid Claes fügen dem Reiz, den die Bennsche Prosa immer ausübt, die novellistische Spannung von zwei Amouren hinzu.
Beziehungsweise fast, würde Eckhard Henscheid sagen. Denn bei Astrid Claes biss Benn, der nach eigenem Bekunden die Liebe ganz gern ungemischt genoss – ohne das Sodawasser von Kunstgesprächen – letztlich auf Granit, anders als bei der bedenkenloseren Ursula Ziebarth. Fräulein Claes war filigraner, verschatteter, schwieriger, wie nicht nur die Bilder zeigen, sondern auch jene Briefe Benns, die ihre Einsprüche, Vorwürfe, ihr Ausweichen erkennen lassen – man bedauert es, dass ihre Gegenbriefe nicht mitveröffentlicht werden.
Claes promovierte 1953 bei Richard Alewyn über Benns Lyrik, außerdem dichtete sie selbst nicht ohne Talent. Das Briefgespräch kommt in Gang durch Anfragen zur Sache, die Übersendung der Dissertation und weiteres Fachsimpeln. Benn antwortet mit soignierter Knappheit, behält aber von Anfang an unverkennbar die Möglichkeit einer erotischen Verwicklung im Auge. Der beträchtliche komische Reiz dieses schmalen Konvoluts beruht auf der bald nur zu durchsichtigen Drängelei des alten Herrn. Gleich will er ein Zusammentreffen. Er verlangt ein Bild. Er teilt mit: „Sie beschäftigen mich.” Geduldig gibt er Auskünfte, nicht ohne zu stöhnen: „Glauben Sie, man kann alles beantworten?” Offenbar hat Astrid Claes ein allzu feierliches Bild von dem Dichter, wie nicht nur ihre Irritation über einzelne der Mitteilungen Benns zeigt, sondern kurz danach auch ihre Ablehnung seines Bandes „Aprèslude”, der ihr zu leichtgewichtig ist und, wie sie glaubt, zu sorglos gemacht.
Benn wischt das gleichgültig weg, und nicht nur hier zeigt sich, dass der Austausch über Lyrik doch eher ein Vorwand war. Einmal fragt er sie: „Kennen Sie eigentlich mein Buch ,Der Ptolemäer'?” Der Kommentar teilt Astrid Claes' Antwort mit: „Aus dem Ptolemäer habe ich in meiner Dissertation ständig zitiert, (Sie haben die Arbeit also doch nicht gelesen) ich kenne das Buch also.” Und Benn hatte die Arbeit nicht nur ihr gegenüber, sondern auch in einem sehr formellen Schreiben an Professor Alewyn in den höchsten Tönen gepriesen!
Man kann gleichwohl nicht behaupten, Benn habe die dichtende Wissenschaftlerin im Unklaren über seine Absichten gelassen. Er forscht sie aus, will wissen, wer ihr Freund ist, verlangt Aufklärung über Frisuren, Lebensumstände („Erzählen Sie mir irdische Dinge von sich”). Das Gedrängel wird so stark, dass Claes Reitunfälle erfinden muss, um den mit Nachdruck verlangten Begegnungen auszuweichen. Am 29. Juni 1954 kommt es zu einem langwierig eingefädelten Zusammentreffen in einem Kasseler Hotel – aber wieder nur Dichtungsgespräche! Doch Benn gibt die Hoffnung nicht auf, er empfiehlt, zur Erleichterung seiner doppelten Buchführung mit der Ehefrau, die Verwendung separater Zettel: „Wenn Sie mir einmal etwas ganz Persönliches schreiben wollen, legen Sie bitte einen Zettel damit in den übrigen Brief.”
„Unsere Beziehungen sind von einer gewissen Zwiespältigkeit für mich', resümiert der Dichter einen Monat später. „Nämlich: sind Sie eine Frau, also eine Liebespartnerin, stehe ich Ihnen anders gegenüber, als wenn Sie ein feines Herz sind, eine Dichterin, eine Gespielin, die nicht isst, nicht trinkt, nicht schläft, sich ihr goldenes Haar mit einem diamantenen Kamm am hohen Turmfenster kämmt. Also was sind Sie?” Noch ein paar Wochen weiter: „Sie sind das reizendste Wesen, das es überhaupt geben kann.” Es half alles nichts; dieser Fall war dem Charmeur zu schwer. Denn es stellt sich heraus: Fräulein Astrid ist schon vergeben, sie hat einen Freund, den Literaturwissenschaftler Rainer Gruenter, und von ihm ein Kind.
Benn ist furchtbar enttäuscht und wird ganz unzart: „Zu ihrem neulich gesandten Bild: mich stört der Säugling auf Ihrem Arm, sieht so blöd aus. Was liegt auf der Bank neben Ihnen? Pelz? Handtasche? Kinderwäsche?” Der Rest ist peinlich, Erdenrest. Benn muss mit Herrn Gruenter dinieren, hat aber schon Fräulein Ziebarth an der Angel. Fräulein Claes soll für Fräulein Ziebarth eine Stelle in ihrem Verlag besorgen. Die beiden Frauen giften gegeneinander, was die Editionen ihrer Briefbände bis heute belastet. Für Benn bleibt ein einziger Satz übrig: „Ich will nicht mit Plattheiten vor Ihren strengen Blick treten, darum sage ich nur, es gab im Juni einen schönen kurzen Tag, von nachmittags um 3 Uhr bis morgens um 10.” Das war in Kassel. Für Astrid Claes bleibt eine Erzählung von 25 Seiten übrig, „Gin”, die der Briefband nachdruckt – ein mattes, zierliches, symbolisch verkitschtes Stück Prosa mit ein paar wörtlichen Zitaten aus den Briefen.
All das ist ein wenig unter Benns Niveau – auf seiner literarischen Höhe finden wir ihn drei Tage nach Kassel in einem Augenblick der Resignation: „Es ist einer jener grauen Sommertage, wie ich sie liebe, ich bin allein in der Wohnung, es ist still, kein Telefon u. Klingeln zu erwarten. Ich hause in einer Stube, die nach hinten liegt, auf den Hof, die verlasse ich selten. Dies ist meine Heimat, nach der ich mich auch auf Reisen immer sehne. Ich bin viel, viel morbider, als ich vielleicht aussehe u. vielleicht auch auf Sie wirkte. Eigentlich ist Alles längst zu Ende.”
GUSTAV SEIBT
GOTTFRIED BENN: Briefe an Astrid Claes 1951-1956. Herausgegeben von Bernd Witte. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2002. 155 Seiten, 19 Euro.
Gottfried Benn, Astrid Claes
Fotos: Klett-Cotta
Verlag
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ein chronischer Frauenheld
Auf diese Publikation mussten die Leser lange warten. Bereits 1997 sollten die Briefe Gottfried Benns an Astrid Claes veröffentlicht werden. Benns Geliebte, Ursula Ziebarth, jedoch sah aufgrund einiger abfälliger Äußerungen Benns über beispielsweise "das amoralische Fräulein Z." ihre Persönlichkeitsrechte verletzt und verhinderte zunächst die Herausgabe. Jetzt liegen die Briefe an Astrid Claes 1951-1956, 80 an der Zahl, endlich vor.
Vom "Sehr verehrten Fräulein" zur "Allerliebsten Astrid"
Die Germanistin Astrid Claes hatte 1953 mit einer Arbeit über Benns lyrischen Sprachstil promoviert und sich dem Dichter per Brief genähert. Der war zunächst gewohnt distanziert, bis sie ihm schilderte, dass sie "eine schlanke, elegante attraktive junge Dame" sei. Das ließ Benn aufhorchen, und er begann, sie unermüdlich zu umwerben, allerdings ohne Erfolg. Ein Treffen der beiden in Kassel blieb harmlos.
Die Dichtkunst stand im Mittelpunkt
So dreht sich denn der Briefwechsel in erster Linie auch nicht um die Liebe, sondern um die Dichtkunst. Es sind poetische Fragen und Antworten, die die beiden austauschen, zumal Astrid Claes selber Lyrikerin war. Der erotische Unterton allerdings, der aus Benns Briefen herausklingt, lässt sich nicht überhören. Sein Werben und Hoffen wecken in ihm, wie so oft zuvor in seinem Leben, seine ganze sprachliche und poetische Kraft. Wären die Briefe von Astrid Claes an Benn mitveröffentlicht, wäre die Publikation perfekt.
(Eva Hepper, literaturtest.de)
Auf diese Publikation mussten die Leser lange warten. Bereits 1997 sollten die Briefe Gottfried Benns an Astrid Claes veröffentlicht werden. Benns Geliebte, Ursula Ziebarth, jedoch sah aufgrund einiger abfälliger Äußerungen Benns über beispielsweise "das amoralische Fräulein Z." ihre Persönlichkeitsrechte verletzt und verhinderte zunächst die Herausgabe. Jetzt liegen die Briefe an Astrid Claes 1951-1956, 80 an der Zahl, endlich vor.
Vom "Sehr verehrten Fräulein" zur "Allerliebsten Astrid"
Die Germanistin Astrid Claes hatte 1953 mit einer Arbeit über Benns lyrischen Sprachstil promoviert und sich dem Dichter per Brief genähert. Der war zunächst gewohnt distanziert, bis sie ihm schilderte, dass sie "eine schlanke, elegante attraktive junge Dame" sei. Das ließ Benn aufhorchen, und er begann, sie unermüdlich zu umwerben, allerdings ohne Erfolg. Ein Treffen der beiden in Kassel blieb harmlos.
Die Dichtkunst stand im Mittelpunkt
So dreht sich denn der Briefwechsel in erster Linie auch nicht um die Liebe, sondern um die Dichtkunst. Es sind poetische Fragen und Antworten, die die beiden austauschen, zumal Astrid Claes selber Lyrikerin war. Der erotische Unterton allerdings, der aus Benns Briefen herausklingt, lässt sich nicht überhören. Sein Werben und Hoffen wecken in ihm, wie so oft zuvor in seinem Leben, seine ganze sprachliche und poetische Kraft. Wären die Briefe von Astrid Claes an Benn mitveröffentlicht, wäre die Publikation perfekt.
(Eva Hepper, literaturtest.de)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.04.2002Sie dürfen nicht machen, was Sie wollen!
Streit um Benn: Mit fünfjähriger Verspätung erscheinen die Briefe des Dichters an Astrid Claes
Die Frauen! Meine grösste Leidenschaft war eine Ausländerin gewesen, die nie den Namen Nietzsche gehört hatte. Eine andere, mit der ich ein paar Jahre verbrachte, sagte oft: ,so was wie Dich finde ich alle Tage', dann verschwand sie nach Wien u. nach 3 Monaten eines Nachmittags tauchte sie wieder auf mit einer Salami u. einem Blumenstrauß u. es sollte wieder weitergehn. 3 Monate später nahm sie sich das Leben. Von meinen Freundschaften endeten zwei durch Erschossenwerden (eine von einem eifersüchtigen Freund, eine aus politischen Gründen kürzlich in Russland), vier durch Selbstmorde, zwei weitere sehr nahe Beziehungen starben so."
Die Frauen! Fast zwanzig Jahre nachdem Gottfried Benn dem Freund Oelze seine Vorliebe für Affären mit eher ungebildeten Damen mehr herausposaunte als gestand (Brief vom 29. Juli 1938), verwickelte sich der Dichter in eine Doppelaffäre mit zwei jungen Literatinnen, die den fast siebzigjährigen Dichter häufig in intellektuelle Dispute verwickelten: über seine Verse ebenso wie über die eigene Lyrikproduktion. Denn Ursula Ziebarth und Astrid Claes, wiewohl grundverschieden, schrieben beide, Lyrik wie Prosa, und zögerten nicht, den Meister in deutlichen Worten zu kritisieren, wenn es ihnen nötig schien. "Sie sind der Dichter der Morgue und der Trunkenen Flut, Sie dürfen mit dem Namen Gottfried Benn doch heute nicht mehr machen, was Sie wollen. Sie haben die Welt beschenkt, wie sie es nie verdient hatte; sie hat dieses Geschenk angenommen. Was veranlasst Sie also zu dieser Ungeduld, die Sie dem von Ihnen selbstgestellten Anspruch untreu werden lässt? Warum warten Sie nicht mehr?".
Gottfried Benn hatte kein Jahr mehr zu leben, als ihm die junge Astrid Claes diese Frage stellte. Die Mißbilligung der Bewunderin, die sich mit ihrem Brief vom 12. September 1955 als Hüterin des Werkes empfiehlt und auch bereit ist, seinen Rang gegen dessen Schöpfer selbst zu verteidigen, hatte sich an Benns Gedichtband "Aprèslude" entzündet. Es mag Zufall sein, daß sich diese Kritik ausgerechnet auf jene Gedichte bezog, auf die Ursula Ziebarth keinen geringen Einfluß gehabt haben soll, aber es wirft doch ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnisse der beiden jungen Frauen: Sie waren Rivalinnen. Daß Benn diese Rivalität nicht unrecht war, ja daß er sie geradezu befördert hat, durfte man lange vermuten. Die soeben erschienene Ausgabe von Benns Briefen an Astrid Claes läßt die Hypothese zur Gewißheit werden.
Schon einmal, vor fünf Jahren, waren diese Briefe im Klett-Cotta-Verlag angekündigt worden. Sogar eine Rezension ist 1997 erschienen. Ihr Verfasser hatte nach den Fahnen gearbeitet und nicht damit gerechnet, daß der Verlag den Band zurückziehen würde. Über die Gründe wurde damals viel spekuliert. Unumstritten ist, daß Ursula Ziebarth einen Anwalt beauftragte, den Verlag darüber zu informieren, daß sie die sie betreffenden Passagen der Briefe einsehen möchte, und sich den Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte vorbehielt. Ob es stimmt, daß Astrid Claes sich weigerte, dem Verlag die Originalbriefe vorzulegen, wissen nur die Beteiligten selbst. Als im vorigen Jahr "Hernach" erschien (F.A.Z. vom 23. August 2001), die Ausgabe der etwa 250 Briefe Benns an Ursula Ziebarth, versehen mit ausführlichen "Nachschriften" der Empfängerin, erwachte das Interesse an den Claes-Briefen erneut.
Astrid Claes hatte Benn, über dessen Werk sie promovieren wollte, im November 1951 erstmals geschrieben und um ein Treffen gebeten. Nachdem zunächst die Briefe in großen, fast zwölf Monate währenden Abständen gewechselt werden, entwickelt sich ab April 1954 eine dichte Korrespondenz, die in der vorliegenden Ausgabe sechsundsechzig Schreiben umfaßt: lange, inhaltsreiche Briefe, kurze, rasch hingeworfene Nachrichten, einige Telegramme. Ob damit sämtliche Briefe an Astrid Claes vorliegen, darf jedoch bezweifelt werden. Zwar versichert der Verlag, man habe die 1997 angekündigte Ausgabe ohne jede Änderung übernommen, aber schon ein erster Blick in die alten Fahnen zeigt, daß dies nicht ganz richtig sein kann - umfaßte die Edition 1997 65 Positionen, so versammelt sie heute 66 Schreiben. Darauf geht die editorische Anmerkung im Anhang nicht ein. Allerdings wird hier darauf hingewiesen, daß neun Briefe bereits veröffentlicht waren. Max Rychner hatte sie in seine 1957 erschienene Ausgabe der "Ausgewählten Briefe" aufgenommen. Daß damit ein großer Teil der schönsten und bedeutendsten Briefe bereits publiziert war, mindert kaum den Wert der neuen Ausgabe: Man liest Benns Episteln gern als Solitäre, und zwar nicht nur dort, wo sie von der Lyrik handeln und dabei auch ins handwerkliche Detail gehen. Aber erst im Zusammenhang der gesamten Korrespondenz werden Entwicklungslinien, Konflikte oder Leitmotive erkennbar.
Die Philologie der Benn-Briefe ist keine einfache Sache. Ursula Ziebarths schlichtes Archiv-System erwies sich als Glücksfall. Sie hat alle Briefe in einem Karton aufbewahrt, chronologisch geordnet, die Umschläge, die für die Datierung entscheidend sein können, sind vollständig erhalten. Zuweilen hat Benn mehrere Blätter unterschiedlichen Formats in ein Kuvert gesteckt, ein Verfahren, das seine Briefpartnerinnen nachahmen sollten, wenn sie allzu Intimes mitteilen wollten. Denn gelegentlich hielt Benn es für angebracht, die Episteln seiner jungen Bewunderinnen seiner Frau Ilse zur Ansicht vorzulegen. Dann nahm er den Zettel mit Verfänglichem heraus und legte der Gemahlin nur den harmlosen Brief vor. Bei allen praktischen Vorzügen für das Eheleben birgt dieses Verfahren eine editorische Gefahr: Allzu leicht können die oft undatierten Zettel durcheinandergeraten. Dies mag die Ursache dafür sein, daß der Wortlaut in Rychners Ausgabe von der neuen Edition abweicht. Der Herausgeber Bernd Witte führt Abweichnungen jedenfalls darauf zurück, daß damals "Teile mehrerer nicht zusammengehöriger Briefe unzulässigerweise unter dem Datum eines einzigen Schreibens zusammengefaßt wurden". Differenzen sind dadurch zwar erklärbar, aber Auslassungen?
Wer den Brief Benns vom 25. Juli 1954 in beiden Ausgaben vergleicht, wird feststellen, daß in der neuen Edition ein ganzer Absatz fehlt, ohne daß dies kenntlich gemacht würde. Darin kommt Benn auf die Begegnung zurück, die er mit Astrid Claes in Kassel hatte. Das Treffen ist zentral für die vielleicht nicht ganz so zentrale Frage, ob der Dichter in seinen letzten Lebensjahren neben seiner Ehefrau Ilse ein oder zwei Geliebte hatte. Vermutlich war Astrid Claes' bemüht, die Freundschaft zu dem Mann, den sie als Dichter bewunderte, auf einer geistigen Ebene zu halten. Benns Interesse war dies nicht. Ohne jedes Feingefühl wiederholte er die in Kassel gestellte Frage, ob Astrid Claes lesbisch sei. Daß die Passage in der neuen Ausgabe fehlt, ist vor allem in einer Hinsicht von Belang, denn nun ist die Frage nach der Textgenauigkeit der Edition aufgeworfen.
Mag sein, daß Astrid Claes die Sätze strich, weil sie ihren Verfasser schützen und sich selbst nicht der erneuten Verletzung aussetzen wollte. Auch beinahe ein halbes Jahrhundert nachdem sie gefallen sind, können Benns Worte noch verletzen. Das gilt für beide Frauen, Astrid Claes wie Ursula Ziebarth. Die dritte Betroffene, Benns letzte Ehefrau Ilse, starb 1993. Die 1997 umstrittenen Passagen, in denen Benn die Geliebte Ursula Ziebarth der umworbenen Astrid Claes gegenüber als "intelligent, aber völlig amoralisch" bezeichnet, sind ungekürzt abgedruckt. "Es gibt ihr gegenüber nur eins, was ich leider erst zu spät bemerkt habe: sie ausschalten und kaltstellen.", heißt es im selben Brief vom 27. Juli 1955.
Ursula Ziebarth wird nicht gegen den Abdruck vorgehen, obwohl ihre Persönlichkeitsrechte verletzt wurden. Sie ist für eine ungekürzte Edition der Briefe, auch wenn ihr einige Passagen nicht angenehm sind. Auf Wunsch der Betroffenen hat sie jedoch in "Hernach" mehrere für Astrid Claes ungünstige Äußerungen Benns gestrichen und die Auslassungen kenntlich gemacht. Zwei Damen in ihren Siebzigern und Achtzigern, so sagt sie, sollten nicht streiten, nicht einmal, wenn es um Gottfried Benn geht.
Benn war ein begnadeter Briefeschreiber, ein Epistolograph, der auf Rezeptblöcken und fliegenden Zetteln Sätze verewigte, die zum Teil klingen wie über den Hinterhof gerufen: direkt, kraftvoll, zuweilen derb und sehr oft vom Charme der mündlichen Rede getragen. Benns Offenheit, sein freier, ungekünstelter Ton, ein Übermut, der an Albernheit grenzte und diese Grenze unbekümmert überschritt - all dies hat in "Hernach" überwältigt und findet sich in den Briefen an Astrid Claes weitaus seltener. Hier begegnet ein ernster, nicht begeistert liebender, sondern tastend werbender Benn, der ärztlichen Rat erteilt, im Gegenüber zu lesen versteht, vor der allzu intensiven Beschäftigung mit Else Lasker-Schüler warnt und nur einziges Mal in den Kindchen-Ton verfällt und von sich als "Onkel" spricht.
Was er im Jahr 1938 als frisch Vermählter dem Freund Oelze schreibt, daß seine Frau, Herta von Wedemeyer, ihm "eigentlich in keiner Lage" mißfalle, auch wenn sie nicht wisse, "was eine Amphore ist, ja nicht einmal, ob Napoleon vor Friedrich dem Grossen lebte", konnte Giselher, der Barbar, wie er in Gedichten der Lasker-Schüler heißt, über Ursula Ziebarth und Astrid Claes sicherlich nicht sagen. Beide haben ihm Widerstand geleistet, jede auf ihre Art. Man sollte die Korrespondenzen des späten Benn zusammen lesen, "Hernach" und die "Briefe an Astrid Claes 1951 bis 1956" als einander ergänzende Dokumente betrachten, darüber jedoch nicht vergessen, daß manches, was Benn beiden Damen, allen Frauen verschwieg, womöglich nur Freund Oelze erfuhr.
Gottfried Benn: "Briefe an Astrid Claes 1951 - 1956." Herausgegeben von Bernd Witte. Klett Cotta Verlag, Stuttgart 2002. 157 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Streit um Benn: Mit fünfjähriger Verspätung erscheinen die Briefe des Dichters an Astrid Claes
Die Frauen! Meine grösste Leidenschaft war eine Ausländerin gewesen, die nie den Namen Nietzsche gehört hatte. Eine andere, mit der ich ein paar Jahre verbrachte, sagte oft: ,so was wie Dich finde ich alle Tage', dann verschwand sie nach Wien u. nach 3 Monaten eines Nachmittags tauchte sie wieder auf mit einer Salami u. einem Blumenstrauß u. es sollte wieder weitergehn. 3 Monate später nahm sie sich das Leben. Von meinen Freundschaften endeten zwei durch Erschossenwerden (eine von einem eifersüchtigen Freund, eine aus politischen Gründen kürzlich in Russland), vier durch Selbstmorde, zwei weitere sehr nahe Beziehungen starben so."
Die Frauen! Fast zwanzig Jahre nachdem Gottfried Benn dem Freund Oelze seine Vorliebe für Affären mit eher ungebildeten Damen mehr herausposaunte als gestand (Brief vom 29. Juli 1938), verwickelte sich der Dichter in eine Doppelaffäre mit zwei jungen Literatinnen, die den fast siebzigjährigen Dichter häufig in intellektuelle Dispute verwickelten: über seine Verse ebenso wie über die eigene Lyrikproduktion. Denn Ursula Ziebarth und Astrid Claes, wiewohl grundverschieden, schrieben beide, Lyrik wie Prosa, und zögerten nicht, den Meister in deutlichen Worten zu kritisieren, wenn es ihnen nötig schien. "Sie sind der Dichter der Morgue und der Trunkenen Flut, Sie dürfen mit dem Namen Gottfried Benn doch heute nicht mehr machen, was Sie wollen. Sie haben die Welt beschenkt, wie sie es nie verdient hatte; sie hat dieses Geschenk angenommen. Was veranlasst Sie also zu dieser Ungeduld, die Sie dem von Ihnen selbstgestellten Anspruch untreu werden lässt? Warum warten Sie nicht mehr?".
Gottfried Benn hatte kein Jahr mehr zu leben, als ihm die junge Astrid Claes diese Frage stellte. Die Mißbilligung der Bewunderin, die sich mit ihrem Brief vom 12. September 1955 als Hüterin des Werkes empfiehlt und auch bereit ist, seinen Rang gegen dessen Schöpfer selbst zu verteidigen, hatte sich an Benns Gedichtband "Aprèslude" entzündet. Es mag Zufall sein, daß sich diese Kritik ausgerechnet auf jene Gedichte bezog, auf die Ursula Ziebarth keinen geringen Einfluß gehabt haben soll, aber es wirft doch ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnisse der beiden jungen Frauen: Sie waren Rivalinnen. Daß Benn diese Rivalität nicht unrecht war, ja daß er sie geradezu befördert hat, durfte man lange vermuten. Die soeben erschienene Ausgabe von Benns Briefen an Astrid Claes läßt die Hypothese zur Gewißheit werden.
Schon einmal, vor fünf Jahren, waren diese Briefe im Klett-Cotta-Verlag angekündigt worden. Sogar eine Rezension ist 1997 erschienen. Ihr Verfasser hatte nach den Fahnen gearbeitet und nicht damit gerechnet, daß der Verlag den Band zurückziehen würde. Über die Gründe wurde damals viel spekuliert. Unumstritten ist, daß Ursula Ziebarth einen Anwalt beauftragte, den Verlag darüber zu informieren, daß sie die sie betreffenden Passagen der Briefe einsehen möchte, und sich den Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte vorbehielt. Ob es stimmt, daß Astrid Claes sich weigerte, dem Verlag die Originalbriefe vorzulegen, wissen nur die Beteiligten selbst. Als im vorigen Jahr "Hernach" erschien (F.A.Z. vom 23. August 2001), die Ausgabe der etwa 250 Briefe Benns an Ursula Ziebarth, versehen mit ausführlichen "Nachschriften" der Empfängerin, erwachte das Interesse an den Claes-Briefen erneut.
Astrid Claes hatte Benn, über dessen Werk sie promovieren wollte, im November 1951 erstmals geschrieben und um ein Treffen gebeten. Nachdem zunächst die Briefe in großen, fast zwölf Monate währenden Abständen gewechselt werden, entwickelt sich ab April 1954 eine dichte Korrespondenz, die in der vorliegenden Ausgabe sechsundsechzig Schreiben umfaßt: lange, inhaltsreiche Briefe, kurze, rasch hingeworfene Nachrichten, einige Telegramme. Ob damit sämtliche Briefe an Astrid Claes vorliegen, darf jedoch bezweifelt werden. Zwar versichert der Verlag, man habe die 1997 angekündigte Ausgabe ohne jede Änderung übernommen, aber schon ein erster Blick in die alten Fahnen zeigt, daß dies nicht ganz richtig sein kann - umfaßte die Edition 1997 65 Positionen, so versammelt sie heute 66 Schreiben. Darauf geht die editorische Anmerkung im Anhang nicht ein. Allerdings wird hier darauf hingewiesen, daß neun Briefe bereits veröffentlicht waren. Max Rychner hatte sie in seine 1957 erschienene Ausgabe der "Ausgewählten Briefe" aufgenommen. Daß damit ein großer Teil der schönsten und bedeutendsten Briefe bereits publiziert war, mindert kaum den Wert der neuen Ausgabe: Man liest Benns Episteln gern als Solitäre, und zwar nicht nur dort, wo sie von der Lyrik handeln und dabei auch ins handwerkliche Detail gehen. Aber erst im Zusammenhang der gesamten Korrespondenz werden Entwicklungslinien, Konflikte oder Leitmotive erkennbar.
Die Philologie der Benn-Briefe ist keine einfache Sache. Ursula Ziebarths schlichtes Archiv-System erwies sich als Glücksfall. Sie hat alle Briefe in einem Karton aufbewahrt, chronologisch geordnet, die Umschläge, die für die Datierung entscheidend sein können, sind vollständig erhalten. Zuweilen hat Benn mehrere Blätter unterschiedlichen Formats in ein Kuvert gesteckt, ein Verfahren, das seine Briefpartnerinnen nachahmen sollten, wenn sie allzu Intimes mitteilen wollten. Denn gelegentlich hielt Benn es für angebracht, die Episteln seiner jungen Bewunderinnen seiner Frau Ilse zur Ansicht vorzulegen. Dann nahm er den Zettel mit Verfänglichem heraus und legte der Gemahlin nur den harmlosen Brief vor. Bei allen praktischen Vorzügen für das Eheleben birgt dieses Verfahren eine editorische Gefahr: Allzu leicht können die oft undatierten Zettel durcheinandergeraten. Dies mag die Ursache dafür sein, daß der Wortlaut in Rychners Ausgabe von der neuen Edition abweicht. Der Herausgeber Bernd Witte führt Abweichnungen jedenfalls darauf zurück, daß damals "Teile mehrerer nicht zusammengehöriger Briefe unzulässigerweise unter dem Datum eines einzigen Schreibens zusammengefaßt wurden". Differenzen sind dadurch zwar erklärbar, aber Auslassungen?
Wer den Brief Benns vom 25. Juli 1954 in beiden Ausgaben vergleicht, wird feststellen, daß in der neuen Edition ein ganzer Absatz fehlt, ohne daß dies kenntlich gemacht würde. Darin kommt Benn auf die Begegnung zurück, die er mit Astrid Claes in Kassel hatte. Das Treffen ist zentral für die vielleicht nicht ganz so zentrale Frage, ob der Dichter in seinen letzten Lebensjahren neben seiner Ehefrau Ilse ein oder zwei Geliebte hatte. Vermutlich war Astrid Claes' bemüht, die Freundschaft zu dem Mann, den sie als Dichter bewunderte, auf einer geistigen Ebene zu halten. Benns Interesse war dies nicht. Ohne jedes Feingefühl wiederholte er die in Kassel gestellte Frage, ob Astrid Claes lesbisch sei. Daß die Passage in der neuen Ausgabe fehlt, ist vor allem in einer Hinsicht von Belang, denn nun ist die Frage nach der Textgenauigkeit der Edition aufgeworfen.
Mag sein, daß Astrid Claes die Sätze strich, weil sie ihren Verfasser schützen und sich selbst nicht der erneuten Verletzung aussetzen wollte. Auch beinahe ein halbes Jahrhundert nachdem sie gefallen sind, können Benns Worte noch verletzen. Das gilt für beide Frauen, Astrid Claes wie Ursula Ziebarth. Die dritte Betroffene, Benns letzte Ehefrau Ilse, starb 1993. Die 1997 umstrittenen Passagen, in denen Benn die Geliebte Ursula Ziebarth der umworbenen Astrid Claes gegenüber als "intelligent, aber völlig amoralisch" bezeichnet, sind ungekürzt abgedruckt. "Es gibt ihr gegenüber nur eins, was ich leider erst zu spät bemerkt habe: sie ausschalten und kaltstellen.", heißt es im selben Brief vom 27. Juli 1955.
Ursula Ziebarth wird nicht gegen den Abdruck vorgehen, obwohl ihre Persönlichkeitsrechte verletzt wurden. Sie ist für eine ungekürzte Edition der Briefe, auch wenn ihr einige Passagen nicht angenehm sind. Auf Wunsch der Betroffenen hat sie jedoch in "Hernach" mehrere für Astrid Claes ungünstige Äußerungen Benns gestrichen und die Auslassungen kenntlich gemacht. Zwei Damen in ihren Siebzigern und Achtzigern, so sagt sie, sollten nicht streiten, nicht einmal, wenn es um Gottfried Benn geht.
Benn war ein begnadeter Briefeschreiber, ein Epistolograph, der auf Rezeptblöcken und fliegenden Zetteln Sätze verewigte, die zum Teil klingen wie über den Hinterhof gerufen: direkt, kraftvoll, zuweilen derb und sehr oft vom Charme der mündlichen Rede getragen. Benns Offenheit, sein freier, ungekünstelter Ton, ein Übermut, der an Albernheit grenzte und diese Grenze unbekümmert überschritt - all dies hat in "Hernach" überwältigt und findet sich in den Briefen an Astrid Claes weitaus seltener. Hier begegnet ein ernster, nicht begeistert liebender, sondern tastend werbender Benn, der ärztlichen Rat erteilt, im Gegenüber zu lesen versteht, vor der allzu intensiven Beschäftigung mit Else Lasker-Schüler warnt und nur einziges Mal in den Kindchen-Ton verfällt und von sich als "Onkel" spricht.
Was er im Jahr 1938 als frisch Vermählter dem Freund Oelze schreibt, daß seine Frau, Herta von Wedemeyer, ihm "eigentlich in keiner Lage" mißfalle, auch wenn sie nicht wisse, "was eine Amphore ist, ja nicht einmal, ob Napoleon vor Friedrich dem Grossen lebte", konnte Giselher, der Barbar, wie er in Gedichten der Lasker-Schüler heißt, über Ursula Ziebarth und Astrid Claes sicherlich nicht sagen. Beide haben ihm Widerstand geleistet, jede auf ihre Art. Man sollte die Korrespondenzen des späten Benn zusammen lesen, "Hernach" und die "Briefe an Astrid Claes 1951 bis 1956" als einander ergänzende Dokumente betrachten, darüber jedoch nicht vergessen, daß manches, was Benn beiden Damen, allen Frauen verschwieg, womöglich nur Freund Oelze erfuhr.
Gottfried Benn: "Briefe an Astrid Claes 1951 - 1956." Herausgegeben von Bernd Witte. Klett Cotta Verlag, Stuttgart 2002. 157 S., geb., 19,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Das wurde aber auch Zeit! Seit 1997 liegt der Briefwechsel Benns mit Astrid Claes fix und fertig zur Veröffentlichung beim Klett-Cotta Verlag, berichtet Ina Hartwig. Verhindert hat die Herausgabe bisher Ursula Ziebart, Benns letzte Geliebte, deren Briefwechsel mit Benn im letzten Jahr beim Wallstein Verlag erschienen sind. Ziebarth hatte mit Klage gedroht. Hartwig fragt sich, warum? Sicher, es gebe in den Briefen an Claes ein paar unfreundliche Bemerkungen über das "amoralische Fräulein Z.", aber Hartwig findet das nicht so schlimm. Sie freut sich, dass jetzt endlich das "entscheidende Korrektiv" für die letzten Lebensjahre Benns erschienen ist. Im Gegensatz zu Ziebarth, der "fordernden und unbequemen" Geliebten, war Astrid Claes eine "kontrollierte Akademikerin" aus gutem Haus, die kein erotisches Interesse an Benn hatte, schreibt Hartwig. "Kühn domptiert" sie das Gespräch und ist dabei "nicht ganz frei von Karriere-Kalkül". Immerhin half Benn bei der Veröffentlichung ihrer Gedichte. Eine ihrer Erzählungen, die in dem Band abgedruckt ist, zeigt nach Hartwig eine "außergewöhnliche" wenn auch etwas "altkluge" "Geistesschärfe". Das Beste an den Briefen ist für Hartwig jedoch, dass sich hier der "komplette Benn" zeigt: der "chronische Verführer", "temporeiche Formulierer", "Witzbold", "abgeklärte Menschenkenner" und Arzt. Und nicht zuletzt beweist sich Benn als kluger Mann, der in dieser Viererkonstellation mit Doktorandin Claes, Geliebter Ziebarth, die seine "Apresludes" beeinflusste und seiner Ehefrau, der Zahnärztin Dr. Ilse Benn, "weiß Gott" zeigte, dass er sich aus "dummen Frauen" nichts machte. Die älteren Rezensenten, die Ursula Ziebarth für ihre indiskreten Briefe kritisierten, sind so klug nicht, meint Hartwig.
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