Zum ersten Mal liegen die Briefe des umstrittenen Autors an seine Freundinnen und Geliebten auf Deutsch vor. Sie zeigen eine zerrissene Persönlichkeit und dokumentieren den Wandel des Louis-Ferdinand Destouche - wie er mit bürgerlichem Namen hieß - zum Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline. Céline schreibt an ganz unterschiedliche Frauen: da ist Erika Irrgang, eine angehende deutsche Journalistin, N., eine der linksintellektuellen Szene Wiens angehörende Jüdin, die belgische Autorin Evelyn Pollet, die dänische Tänzerin Karen Marie Jensen und die französische Pianistin Lucienne Delforge. Die Briefe geben einen faszinierenden Einblick in das Innenleben eines Dichters, der nach den Erfahrungen im 1. Weltkrieg und in den Kolonnien in Afrika im Menschen wenig mehr als einen verachtungswürdigen Barbaren sah. Zugleich erkennt der Leser aber auch einen anderen Céline, der sich fürsorglich um seine Freundinnen kümmert und Hilfe und Unterstützung anbietet.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.12.2007Von Schreihälsen, Schriftstellern, Nazis und der Liebe
Zwischen Wutanfall und Popo-Phantasie: Auch als Briefeschreiber war Céline ein ebenso brutal-drastisches wie fürsorgliches Temperament
Louis-Ferdinand Destouches, der unter dem nom de plume Céline berühmt und berüchtigt wurde, ist längst als Klassiker der französischen Literatur und Wegbereiter der Moderne anerkannt. Dennoch irritiert er Leser und Kritiker bis heute wegen seines wilden Antisemitismus und seiner Kollaboration mit den deutschen Besatzern. Er folgte ihnen im August 1944 nach Sigmaringen und floh später nach Dänemark, von wo er erst 1951 nach Frankreich zurückkehren konnte. Der in Gifkendorf bei Lüneburg beheimatete Merlin-Verlag bemüht sich seit einigen Jahren erfolgreich um die Übersetzung und Verbreitung wenig bekannter Werke Célines in Deutschland. Als fünfter Band dieser Reihe sind jetzt die „Briefe an Freundinnen” aus den Jahren 1932 bis 1948 erschienen, die der australische Céline-Forscher Colin W. Nettelbeck gesammelt und bereits 1979 bei Gallimard herausgegeben hatte. Die vorliegende Übersetzung erweist sich als eine unbearbeitete Version von Nettelbecks Ausgabe nebst Kommentar. Das ist nicht ganz unproblematisch, denn die Erkenntnisse der dreibändigen Studie von François Gibault (hier vor allem Band II, 1985) werden dabei nicht berücksichtigt. Immerhin hat der Verlag an einigen Stellen auf den 2004 bei Plon erschienenen „Dictionnaire Céline” von Philippe Alméras hingewiesen, der sozusagen ein ständiger Begleiter für jeden Célinisten ist. Allerdings wurden dessen Informationen nicht völlig ausgeschöpft. Unter den hier insgesamt publizierten 217 Briefen, von denen 1979 noch 140 unveröffentlicht waren, bildet die Korrespondenz zwischen Céline und N. mit 82 Briefen den Hauptteil. N. ist aber längst als die Wiener Gymnastiklehrerin Cillie Pam identifiziert, sodass das Versteckspiel mit ihrer Person keinen Sinn mehr macht.
Bei Célines Briefen handelt es sich meist um Liebes-, in einigen Fällen auch
um reine Freundschaftsbriefe, die von ihrem Verfasser nie zur Publikation vorgesehen waren und, streng genommen, in den Privatbereich gehören. Das gilt vor allem in den Fällen, wo Céline seine erotischen Phantasien auslebt, zum Beispiel in den Popo-Briefen an N. Aber ein bedeutender Autor wie er, der sein Publikum lebenslang provoziert und schockiert hat, hat wohl kein Anrecht auf Privatsphäre. Dafür sind die Briefe literarisch zu bedeutend. Céline thematisiert in aphoristischer Form vieles: Sein Konzept von der Rolle des Schriftstellers („Gott bewahre Sie vor dem Erfolg, ich kann Ihnen sagen, dass das sehr unerfreulich ist”), seine Abneigung gegen die USA („eine Nation betrunkener Automechaniker, Schreihälse und bald komplett Juden”) und Sowjetrussland („welch ein Horror! Welch ein niederträchtiger Bluff! Was für eine dreckige stupide Geschichte!”), seinen Antisemitismus („Nachdem die Juden aus Deutschland gejagt worden sind, muss es dort einige Stellen für die anderen Intellektuellen geben? Heil Hitler! Profitieren Sie davon!”), sein gespaltenes Verhältnis zu Nazi-Deutschland („Die Nazis in Österreich sind anscheinend weniger bösartig als die in Berlin, aber das bleibt vielleicht nicht so?”), vor allem aber sein Interesse an der Psychoanalyse. Über Cillie Pam lernte er in Wien A. J. Storfer, den Direktor des Internationalen Psychoanalytischen Verlages und Verleger von Freud und Wilhelm Reich, in Prag Annie Reich, die erste Frau von Wilhelm Reich und selber eine bekannte Psychoanalytikerin, sowie die Wiener Freudschülerin Anny Angel-Katan kennen.
Célines hier wiedergegebene Briefe datieren vor allem aus den dreißiger Jahren und fallen in die Zeit zwischen der Trennung von der amerikanischen Tänzerin Elizabeth Craig (1934) und dem dauernden Zusammenleben mit seiner späteren Frau, der Tänzerin Lucette Almanzor (1937), in denen Céline ungebunden war. Er fühlte sich offenbar besonders zu Künstlerinnen hingezogen und war bei seinen Beziehungen international. Auch störte es ihn nicht, wenn eine seiner Freundinnen Jüdin war. Außer den Briefen an Cillie Pam finden wir solche an die Breslauer Studentin Erika Irrgang, die Pariser Journalistin Élisabeth Porquerol, die belgische Schriftstellerin Évelyne Pollet, die dänische Tänzerin Karen Marie Jensen und die Pariser Pianistin Lucienne Delforge. Wenngleich der vorliegende Band für den Kenner Célines nur wenig Neues bringt, zeigt er dem deutschen Publikum einen mal erstaunlich fürsorglichen und liebevollen, mal überdeutlichen und brutalen Autor, der seine Eigenwilligkeit nie verleugnet. Die Briefe wurden von Katharina Hock, die bereits drei andere Bände der Céline-Reihe im Merlin Verlag übertragen hat, adäquat übersetzt. Kleinere stilistische Ungeschicklichkeiten und Gallizismen („Ich habe ihren Brief gut erhalten”, „Das ist auch nicht das, was mich ernähren wird”) und Übersetzungsfehler („le sexe” heißt damals noch nicht „Sex”, sondern „Geschlecht”) hätten bei genauer Lektorierung beseitigt werden können.FRANK-RUTGER HAUSMANN
LOUIS FERDINAND CÉLINE: Briefe an Freundinnen. Gesammelt von Colin W. Nettelbeck. Deutsch von Katarina Hock. Merlin Verlag, Gifkendorf 2007. 213 Seiten, 16,90 Euro.
„Die Nazis in Österreich sind weniger bösartig als die in Berlin, aber das bleibt vielleicht nicht so?”
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Zwischen Wutanfall und Popo-Phantasie: Auch als Briefeschreiber war Céline ein ebenso brutal-drastisches wie fürsorgliches Temperament
Louis-Ferdinand Destouches, der unter dem nom de plume Céline berühmt und berüchtigt wurde, ist längst als Klassiker der französischen Literatur und Wegbereiter der Moderne anerkannt. Dennoch irritiert er Leser und Kritiker bis heute wegen seines wilden Antisemitismus und seiner Kollaboration mit den deutschen Besatzern. Er folgte ihnen im August 1944 nach Sigmaringen und floh später nach Dänemark, von wo er erst 1951 nach Frankreich zurückkehren konnte. Der in Gifkendorf bei Lüneburg beheimatete Merlin-Verlag bemüht sich seit einigen Jahren erfolgreich um die Übersetzung und Verbreitung wenig bekannter Werke Célines in Deutschland. Als fünfter Band dieser Reihe sind jetzt die „Briefe an Freundinnen” aus den Jahren 1932 bis 1948 erschienen, die der australische Céline-Forscher Colin W. Nettelbeck gesammelt und bereits 1979 bei Gallimard herausgegeben hatte. Die vorliegende Übersetzung erweist sich als eine unbearbeitete Version von Nettelbecks Ausgabe nebst Kommentar. Das ist nicht ganz unproblematisch, denn die Erkenntnisse der dreibändigen Studie von François Gibault (hier vor allem Band II, 1985) werden dabei nicht berücksichtigt. Immerhin hat der Verlag an einigen Stellen auf den 2004 bei Plon erschienenen „Dictionnaire Céline” von Philippe Alméras hingewiesen, der sozusagen ein ständiger Begleiter für jeden Célinisten ist. Allerdings wurden dessen Informationen nicht völlig ausgeschöpft. Unter den hier insgesamt publizierten 217 Briefen, von denen 1979 noch 140 unveröffentlicht waren, bildet die Korrespondenz zwischen Céline und N. mit 82 Briefen den Hauptteil. N. ist aber längst als die Wiener Gymnastiklehrerin Cillie Pam identifiziert, sodass das Versteckspiel mit ihrer Person keinen Sinn mehr macht.
Bei Célines Briefen handelt es sich meist um Liebes-, in einigen Fällen auch
um reine Freundschaftsbriefe, die von ihrem Verfasser nie zur Publikation vorgesehen waren und, streng genommen, in den Privatbereich gehören. Das gilt vor allem in den Fällen, wo Céline seine erotischen Phantasien auslebt, zum Beispiel in den Popo-Briefen an N. Aber ein bedeutender Autor wie er, der sein Publikum lebenslang provoziert und schockiert hat, hat wohl kein Anrecht auf Privatsphäre. Dafür sind die Briefe literarisch zu bedeutend. Céline thematisiert in aphoristischer Form vieles: Sein Konzept von der Rolle des Schriftstellers („Gott bewahre Sie vor dem Erfolg, ich kann Ihnen sagen, dass das sehr unerfreulich ist”), seine Abneigung gegen die USA („eine Nation betrunkener Automechaniker, Schreihälse und bald komplett Juden”) und Sowjetrussland („welch ein Horror! Welch ein niederträchtiger Bluff! Was für eine dreckige stupide Geschichte!”), seinen Antisemitismus („Nachdem die Juden aus Deutschland gejagt worden sind, muss es dort einige Stellen für die anderen Intellektuellen geben? Heil Hitler! Profitieren Sie davon!”), sein gespaltenes Verhältnis zu Nazi-Deutschland („Die Nazis in Österreich sind anscheinend weniger bösartig als die in Berlin, aber das bleibt vielleicht nicht so?”), vor allem aber sein Interesse an der Psychoanalyse. Über Cillie Pam lernte er in Wien A. J. Storfer, den Direktor des Internationalen Psychoanalytischen Verlages und Verleger von Freud und Wilhelm Reich, in Prag Annie Reich, die erste Frau von Wilhelm Reich und selber eine bekannte Psychoanalytikerin, sowie die Wiener Freudschülerin Anny Angel-Katan kennen.
Célines hier wiedergegebene Briefe datieren vor allem aus den dreißiger Jahren und fallen in die Zeit zwischen der Trennung von der amerikanischen Tänzerin Elizabeth Craig (1934) und dem dauernden Zusammenleben mit seiner späteren Frau, der Tänzerin Lucette Almanzor (1937), in denen Céline ungebunden war. Er fühlte sich offenbar besonders zu Künstlerinnen hingezogen und war bei seinen Beziehungen international. Auch störte es ihn nicht, wenn eine seiner Freundinnen Jüdin war. Außer den Briefen an Cillie Pam finden wir solche an die Breslauer Studentin Erika Irrgang, die Pariser Journalistin Élisabeth Porquerol, die belgische Schriftstellerin Évelyne Pollet, die dänische Tänzerin Karen Marie Jensen und die Pariser Pianistin Lucienne Delforge. Wenngleich der vorliegende Band für den Kenner Célines nur wenig Neues bringt, zeigt er dem deutschen Publikum einen mal erstaunlich fürsorglichen und liebevollen, mal überdeutlichen und brutalen Autor, der seine Eigenwilligkeit nie verleugnet. Die Briefe wurden von Katharina Hock, die bereits drei andere Bände der Céline-Reihe im Merlin Verlag übertragen hat, adäquat übersetzt. Kleinere stilistische Ungeschicklichkeiten und Gallizismen („Ich habe ihren Brief gut erhalten”, „Das ist auch nicht das, was mich ernähren wird”) und Übersetzungsfehler („le sexe” heißt damals noch nicht „Sex”, sondern „Geschlecht”) hätten bei genauer Lektorierung beseitigt werden können.FRANK-RUTGER HAUSMANN
LOUIS FERDINAND CÉLINE: Briefe an Freundinnen. Gesammelt von Colin W. Nettelbeck. Deutsch von Katarina Hock. Merlin Verlag, Gifkendorf 2007. 213 Seiten, 16,90 Euro.
„Die Nazis in Österreich sind weniger bösartig als die in Berlin, aber das bleibt vielleicht nicht so?”
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Thomas Laux begrüsst diese Briefedition sehr, obwohl sie aus seiner Sicht "rein literarisch gesehen" grundsätzlich nichts Spektakuläres bietet, da sich ihr Wert für ihn lediglich in einem biografischen Kontext bemessen lässt. Hier allerdings notiert er dankbar, dass das "Klischee des Misanthropen", dass man Celine mitunter anhängt, nicht sehr weit trägt. Die Briefe sind an sechs verschiedene Freundinnen adressiert und stammen aus der für Celine "hochbrisanten" Zeit eines "persönlichen Umbruchs" und des sich ausbreitenden Faschismus? in Europa. Beides laufe auf der Reflexionsebene der Briefe mit, und werde immer wieder mal auch direkt erwähnt - je nach Intensitätsgrad der Beziehung. Wiederkehrendes Thema sind auch Celines notorische Geldprobleme. Interessant findet der Rezensent außerdem, wie sich an den Beziehungen zu den Frauen Celines politische Entwicklung durch die 1930er Jahre nachvollziehen lässt, an erster Stelle sein sich verstärkender Antisemitismus. Nicht immer nimmt der Rezensent das allerdings ernst, manchmal kommen ihm die diesbezüglichen Ausfälle einfach nur "kurios" vor.
© Perlentaucher Medien GmbH
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