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1974 nimmt Rolf Dieter Brinkmann eine Gastprofessur in Austin/ Texas wahr. In seinem Seminar sitzt der aus Deutschland ausgewanderte Student Hartmut Schnell. Sie werden Freunde. Und nach seiner Rückkehr im Mai 1974 wird Brinkmann um Material für eine Arbeit gebeten, die Hartmut Schnell über seine Lyrik schreiben will Anlaß für die faszinierenden, umfangreichen Briefe Brinkmanns über sein Werk und seinen Alltag in den letzten Monaten seines Lebens. Unter anderem beschreibt Brinkmann darin die Entwicklung von seinen frühen Gedichten, «Momentaufnahmen», zu den letzten «offenen» Gedichten,…mehr

Produktbeschreibung
1974 nimmt Rolf Dieter Brinkmann eine Gastprofessur in Austin/ Texas wahr. In seinem Seminar sitzt der aus Deutschland ausgewanderte Student Hartmut Schnell. Sie werden Freunde. Und nach seiner Rückkehr im Mai 1974 wird Brinkmann um Material für eine Arbeit gebeten, die Hartmut Schnell über seine Lyrik schreiben will Anlaß für die faszinierenden, umfangreichen Briefe Brinkmanns über sein Werk und seinen Alltag in den letzten Monaten seines Lebens. Unter anderem beschreibt Brinkmann darin die Entwicklung von seinen frühen Gedichten, «Momentaufnahmen», zu den letzten «offenen» Gedichten, geschrieben in der assoziativen Art eines Ezra Pound, Burroughs und Kerouac. An diesen Gedichten arbeitet er für den legendär gewordenen Band «Westwärts 1 & 2», der im Mai 1975 erscheinen wird. In einem der letzten Briefe vom 4. März 1975 bittet er Hartmut um die Übertragung einiger Gedichte daraus, denn er möchte diese Gedichte auf dem «Cambridge Poetry Festival» am 18. April 1975 vortragen. Auf dem Rückweg von Cambridge wird es nur fünf Tage später zu dem tödlichen Autounfall in London kommen.
Autorenporträt
Brinkmann, Rolf DieterGeboren am 16.04.1940 in Vechta, begann 1959 eine Buchhandelslehre in Essen. Seit 1962 in Köln; Pädagogikstudium., dann freier Schriftsteller. Aufenthalte in Rom (Villa Massimo), London, Gastdozent in Austin/Texas Brinkmann flüchtete sich in die Rolle des provozierenden Rebellen, für den das Leben «etwas unvorstellbar Gemeines, Viehisches» war: einerseits Auflehnung gegen die biologischen Gegebenheiten des Daseins und Abscheu vor dem Leben, andererseits Faszination und Zustimmung. Sein Credo: «Ich bin für den einzelnen.» Brinkmann machte die amerikanische Pop-Lyrik in Deutschland bekannt und wurde selbst der führende Pop- und Underground-Lyriker Deutschlands in den 60er Jahren. Lyrik war für ihn Spiegelbild und direkter Reflex des Faktischen. Auf die kurzzeiligen Gedichte der Pop-Zeit folgten vielstrophige Gedichte, in denen sein starker vitaler Antrieb zu unaufhörlich sich bewegenden Bildern und elementarisch behandelten alten Themen führt. "Westwärts 1 & 2

" wurde als der wichtigste und virtuoseste Gedichtband der 70-er Jahre bezeichnet. "Rom, Blicke" ist die Ausbeute seines Rom-Aufenthaltes 1972, mit wilder Unerbittlichkeit auf Verfallenes, Obszönes fixiert, ein Konvolut aus Briefen, Notizen, Zeutungsausschnitten, Fotos, als Arbeitsbuch für künftige Projekte. Brinkmann wurde 1975 mit dem Petrarca-Preis ausgezeichnet. Er starb am 23. 4.1975 in London.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999

Auf der Flucht vor den Scheintoten
Ein West-Mythologe kommt zurück: Rolf Dieter Brinkmanns "Briefe an Hartmut" / Von Lothar Müller

Jetzt, wo die jüngere Literatur wieder einmal ihr Heil in der Musik sucht, wo Romane erscheinen, die lieber ein Soloalbum wären als ein Buch, und die Lyrik sich beim "Open Mike" an die Verstärkeranlagen anschließt, jetzt ist plötzlich auch Rolf Dieter Brinkmann wieder da. Nie der Kriegskindheit entkommen, mürrisch und fluchend wie eh und je, das Maschinengewehr im Anschlag gegen die Metapher und gegen den Begriff "Literatur", lebt er immer noch von jener Urszene des Jahres 1956, als dem Sechzehnjährigen aus einer Musikbox plötzlich der Rock 'n' Roll entgegenschallte und alle Vorsätze auslöschte, die lateinische Übersetzung, die vormittags in der Schule verabreicht wurde, je in Angriff zu nehmen. Monoton murmelt er seine suggestive Litanei vor sich hin, die eiserne Zitatration der Dramaturgen im Off-Theater, den Film in Worten, die Endlosschleife der Popmoderne: "Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock-'n'-Roll-Sänger machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, man spricht, man macht Zeichen, Zeichen an den Häuserwänden, Zeichen auf der Straße, Zeichen in den Maschinen ..."

Der Gedichtband "Westwärts 1 & 2" war jahrelang vergriffen. Er erschien im Frühjahr 1975, kurz nach dem Tod seines Autors, der im Alter von fünfunddreißig Jahren am 24. April in London von einem Auto überfahren wurde. Da klang die Vorrede, in der alle und alles weitermachen, wie ein Testament: "Ich hätte gerne viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs. Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, mit zwei Fingern." Zur Neuauflage des Gedichtbandes kommt nun ein weiteres Stück aus dem Nachlaß. Schon der Titel dieser Flaschenpost aus den siebziger Jahren klingt nach Schlaghose: "Briefe an Hartmut". Sie sind von Juni 1974 bis zum Unfalltod Brinkmanns in dessen enger Wohnung in der Kölner Engelbertstraße zu einer Zeit entstanden, in der er als Autor kaum noch präsent war. Der erste Roman, die frühen Gedichtbände und die Anthologien "Acid" (1969) und "Silverscreen" (1969) lagen schon Jahre zurück. Die Gedichte in "Gras" (1970) stießen auf flaue bis vernichtende Kritik. Der Ertrag des Stipendiums in der Villa Massimo im Jahre 1973 erschien erst postum unter dem Titel "Rom, Blicke" (1979). Von Januar bis Mai 1974 war Brinkmann auf Einladung des German Department Gastdozent an der Universität von Texas in Austin gewesen. Es war sein erster und letzter Amerika-Aufenthalt. Dort hatte er Hartmut Schnell, einen ausgewanderten deutschen Germanistikstudenten, kennengelernt. Austin ist in diesen Briefen das verlorene Paradies, Köln die deutsche Spießerhölle. Der Haß des mittellosen Dichters auf die deutsche Literaturszene mit ihren Stipendien wächst im beschleunigten Rhythmus der Pfändungsklagen. In der Kleinfamilie mit examensgeplagter Frau und krankem Kind steigen die Spannungen. Draußen die Welt ist nichts als eine Zumutung, Brinkmann drinnen ist ein unfrohes Rumpelstilzchen, das ständig vor Wut auf "diese miesen kleinen Wichtelmänner" zu platzen scheint und keinen Rentner vorbeigehen sehen kann, ohne in ihm das gesamte verrottete, häßliche, vollkommen falsch amerikanisierte Westdeutschland zu entlarven. "Straßenbahnen voller Scheintoter ziehen durch die Gegend." - "Ein kranker Sex schleicht rum durch die Straßen."

Brinkmann kultiviert die abgebrauchte Pose des großen Einzelgängers, aber er liest, was alle um ihn herum als Geheimtip lesen: Arno Schmidt, Burroughs, Bukowski, Ken Kesey. Er entdeckt, was alle um ihn herum entdecken: Paul Bowles, Carlos Castaneda, Ronald D. Laing. Er begeistert sich für Musik, die alle um ihn herum hören: Velvet Underground, Soft Machine und, vor allem, die "Doors". Deren Texte übernimmt er in seine Gedichtzeilen: "Light my fire", "Summer's almost gone" und, immer wieder, "When the music's over". Das Modewort "intensiv" rangiert auch bei ihm auf der obersten Wertskala. Noch flattert über allem der Slogan: "Besser als eine Revolution ist Musik machen und Musik hören." Aber das aggressive Aufbruchspathos von "Acid" ist aufgebraucht. Es dominiert der nervös-depressive O-Ton der Weltverachtungsfraktion der siebziger Jahre.

Es war eine im Kern studentische Fraktion, Brinkmann hat ihren Haß auf alles "Akademische" zur Waffe im Literaturkampf zugespitzt. Heißenbüttel, Enzensberger, Walser, Kunert, Johnson, die "Generation davor", gelten ihm als "sehr akademisch im akademischen Literaturbegriff befangen". Vor allem gegenüber Enzensberger pflegt er eine herzliche Abneigung. Sie entstammt der Rivalität. Enzensberger hatte William Carlos Williams übersetzt, den Brinkmanns selbst gern gegen Ezra Pound ausspielte und dessen Formel "No ideas but in things" er zum Grundgesetz der eigenen Lyrik gemacht hatte. Brinkmann, der langsame Norddeutsche aus Vechta in Oldenburg, der in der Kindheit nur Platt sprach, machte sich auf seine Weise, wie ein Stier, an die Aufgabe, dem Deutschen einen amerikanischen Akzent beizubringen. Für seine grobe, aber fruchtbare Formel - Austreibung der "Oberbegriffe" - hatte er in Fritz Mauthner, dem Kritiker des "Wortaberglaubens", einen theoretischen Gewährsmann gefunden. Brinkmann nahm die "Beiträge zur Kritik der Sprache" als Lizenz, sich das Amerikanische als ein Eldorado jenseits der Oberbegriffe und Abstraktionen zurechtzudenken. Den Rest überwies er ans Europäisch-Akademische. Er pries die "Direktheit, die Vitalität amerikanischer Autoren" wie Frank O'Hara, dessen "Lunch Poems" er übersetzt hatte, und hielt sich das Amerika von Thomas Pynchon, John Barth, Donald Barthelme, Saul Bellow oder Philip Roth vom Leibe: "Das sind alles Akademiker."

Die Politik der noch jungen Ära Schmidt ist Brinkmann kaum eine Andeutung wert, die Entführung des CDU-Politikers Lorenz in Berlin findet nur beiläufig ein Echo. Das einzige, was für den Autor der "Briefe an Hartmut" wirklich zählt, ist das eigene Werk. Das Rumpelstilzchen lacht höhnisch über "Viehlologie" und "Ziviehlisation", aber hier arbeitet ein Autor in vollem Ernst an seiner autoritativen Selbstauslegung und entwirft nichtgehaltene Poetik-Vorlesungen. Diese überraschende Geschichte der Selbstverwandlung Brinkmanns in ein Objekt der Philologie beginnt mit einer freundlichen Hilfestellung. Weil Hartmut im glücklichen Austin sich für seine Abschlußarbeit den expressionistischen Dichter Alfred Lichtenstein gewählt hat, macht Brinkmann sich auf in die Kölner Bibliotheken und kommt mit einer ansehnlichen kommentierten Lichtenstein-Bibliographie zurück. Aber da hat Hartmut schon beschlossen, die Arbeit über Brinkmann statt über Lichtenstein zu schreiben. Damit nimmt das Unheil seinen Lauf. Brinkmann behandelt nun sich selbst wie Lichtenstein, und wie nun aus dem wüsten Antiakademiker ein Philologe, Archivar und Buchhalter seiner selbst heraustritt, der lange bibliographische Listen verfaßt, verborgene Quellen aufdeckt, anonyme Zitate markiert, das eigene Werk in den Kontext der Zeitgenossen stellt und immer neue Gliederungen entwirft, das ist von nicht unbeträchtlicher Komik. Nur westwärts, bei Hartmut, kann es die Philologie geben, die dem eigenen Werk angemessen ist. Ihr steht der Dichter als Geburtshelfer bei, während er, schimpfend über Kürzungsauflagen, den Gedichtband "Westwärts 1 & 2" für den Druck fertigstellt.

Die "Briefe an Hartmut" sind die Gründungsurkunde der Brinkmann-Philologie. Zu ihren Paradoxien gehört, daß Brinkmann immer deutscher wird, je genauer man sich seine West-Mythologie ansieht. Eine ihrer Wurzeln reicht hinab bis in den Sturm und Drang. In Johann Gottfried Herders Klage über das Zeitalter der "Halbideen" und "Schattenbegriffe" aus dem Briefwechsel "Über Ossian und die Lieder alter Völker" (1773) findet Brinkmann seine Befürchtung wieder, das Deutsche werde zur toten Sprache, weil man es nicht so singen könne wie die Songs des Westens. Herders Wendung "Wir sehen und fühlen kaum mehr" montiert er in "Westwärts 1 & 2" ein. Von Karl Philipp Moritz über Jean Paul und Ludwig Tieck bis Alfred Lichtenstein und Gottfried Benn verläuft die Linie der deutschen Gewährsmänner Brinkmanns.

Die Legende will, daß der frühe Tod dem rebellischen Poeten die ewige Jugend an der Seite von Jimi Hendrix und Jim Morrison geschenkt hat. Dagegen ist zu erinnern, daß der Unfalltod dem Autor Brinkmann vor allem Entwicklungsmöglichkeiten genommen hat. Erfolgreich war Brinkmann vor allem als Nivellierer der Differenz zwischen Kunst und Leben, als Anwalt der Veralltäglichung der Poesie. Kaputte Wasserhähne und Müllhalden, Experimente mit Satzspiegel und Zeilensprung, verrostete Fahrräder und halbvolle Kaffetassen hat es seit den siebziger Jahren im Übermaß gegeben. An Lockerungsübungen mit Musikbegleitung fehlt es nicht, die Plädoyers gegen die Form und für den Zufall hat gierig der literarische Dilettantismus aufgegriffen. Der Reiz von Brinkmanns Gedichten liegt nun nicht mehr in der Erschließung des Trivialen und im rauhen Ton, mag der auch nach wie vor als Gegengift zum glatten Parlando und zu den Verlockungen des Klassizismus taugen. Er liegt auch nicht mehr in der deutschen Parallelaktion zum dirty speech des amerikanischen Underground, in der verzweifelt großspurigen Parteinahme gegen die Liebe der schönen Seelen, für die rüde Sexualität der Körper. Statt in dem, was sie lautstark der verhaßten Außenwelt abgetrotzt hat, liegt der Reiz dieser Lyrik nun in dem, was sie sich selbst abgetrotzt hat. In ihrer heimlichen Sehnsucht nach den verspotteten Dichterworten, in ihren verschämten Lastern der Sanftmut, die sie hinter obszönen Gesten verbirgt. In dieser Backstage-Welt sind die four letter words sehr alt. Sie heißen "blau", "Mond", "Berg" oder "Sand", und manchmal treten sie aus einem Bild von Caspar David Friedrich hervor. Selbst das "Einsamer nie" Gottfried Benns, des einzigen neueren deutschen Dichters, den Brinkmann gelten ließ, wird hier ins Sanfte umgeschrieben: "Sanfter nie / als im August, da die Erde leicht und locker / zu werden beginnt, hellgelber Sand, dein / Schatten zärtlich ..."

Brinkmann ist wieder da, weil auf der Vorderbühne Literatur und Popmusik wieder frisch verliebt sind. Mag sein, daß er sich inzwischen auf der Hinterbühne vergnügt.

Rolf Dieter Brinkmann: "Briefe an Hartmut. 1974 bis 1975". Mit einer fiktiven Antwort von Hartmut Schnell. Rowohlt Verlag, Reinbek 1999. 248 S., br., 45,- DM. Rolf Dieter Brinkmann: "Westwärts 1 & 2". Gedichte. Mit Fotos des Autors. Neuausgabe. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1999. 186 S., br., 18,90 DM.

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