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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999

Warum muß ich nur immer so angeben?
Hans Joachim Iwand lehrt den modernen Menschen Demut / Von Friedrich Wilhelm Graf

Die Versöhnungslehre ist unstreitig Fundamentallehre der christlichen Religion. Sie wird in den Urkunden dieser Religion so oft und nachdrücklich vorgetragen, der ganze Zweck der Sendung des Stifters des Christenthums wird so oft und so deutlich dahin bestimmt: Jesus sollte die Menschen mit Gott versöhnen, ihre Sündenschuld tilgen, für sie sein Leben zum Sühnopfer hingeben usw. - daß es vergebliche Mühe ist, jene Lehre aus den Schriften des neuen Bundes weg exegisiren zu wollen. Gleichwohl hat die Versöhnungslehre von jeher, und gerade von Seiten der besten Köpfe so vielen und so heftigen Widerspruch gefunden, daß es beinahe ein charakteristisches Merkmal einer aufgeklärten Denkart in der Theologie geworden zu sein scheint, an jene Lehre nicht mehr zu glauben." Mit dieser Problemskizze eröffnete der Rationalist Wilhelm Traugott Krug 1802 eine Monographie über "Den Widerstreit der Vernunft mit sich selbst in der Versöhnungslehre dargestellt und aufgelöst". Kants Nachfolger auf dem Königsberger Lehrstuhl für Philosophie wollte alte religiöse Vorstellungen durch vernünftige Begriffe ersetzen. Eine kompensatorische Tilgung unserer Sündenschuld durch das freiwillige Strafleiden des sündlosen Jesu von Nazareth verwarf er als inhuman. Zwar könne X die finanziellen Schulden von Y übernehmen. Bei moralischen Verbindlichkeiten sei dies jedoch sittenwidrig. Wer die Sünden eines anderen übernehmen wolle, beraube ihn seiner Schuldfähigkeit. Um der Freiheit des Menschen willen insistierte Krug auf der individuellen Zurechnung von Schuld. Diese Kritik am Satisfaktionsdogma klingt bis in Tilman Mosers Protest gegen seine "Gottesvergiftung" oder den Verfassungsstreit über das Kruzifix im Schulzimmer nach. Ist es nicht barbarisch, dem Leiden und Sterben eines Menschen einen befreienden religiösen Sinn zuzuerkennen?

Der Lutheraner Hans Joachim Iwand war ein exzellenter Kenner der neuzeitlichen Philosophie- und Theologiegeschichte. Seine nun erstmals edierten Vorlesungen zur Christologie lassen eine intime Vertrautheit mit den Traditionen moderner Christentumskritik erkennen. In der 1953/54 gehaltenen Bonner Vorlesung "Christologie. Eine Einführung in ihre Probleme" prüfte Iwand mit strenger Sachlichkeit das Für und Wider der gegen die klassische Christologie erhobenen Einwände. Der theoriegeschichtlichen Propädeutik folgten 1958/59 Vorlesungen über "Inkarnation" und "Tod und Auferstehung Jesu Christi". Protestantischer Gewissensernst, biblizistisches Vertrauen in die Schrift und scharfe Intellektualität verbanden sich zum anspruchsvollen Programm, die Wahrheit des neutestamentlichen Christuszeugnisses modernen Reflexionsbedingungen gemäß zu erweisen.

Alle Aufklärung ist Aufklärung des Menschen über sich selbst. Will Theologie den kritischen Rationalitätsstandards der Moderne Genüge tun, muß sie die Selbstaufklärung des Menschen befördern. Iwand klärt im Medium der Christologie über die Grenzen vernünftiger Selbstaufklärung des Menschen auf. Er entfaltet das biblische Zeugnis von Jesus Christus und rekonstruiert die Versuche der Kirchenlehrer, die unvernünftig erscheinende Auszeichnung des Juden Jesus als des Retters aller Menschen in philosophischen Begriffen zu erfassen. Mit Kant werden die alten metaphysischen Konzepte als hohl erwiesen. Der "Philosoph des Protestantismus" zwang die Theologen dazu, Person und Werk des Erlösers auf nachmetaphysischen Wegen zu deuten. Seit Schleiermacher und Hegel wurden vorrangig zwei Denkwege beschritten. Entweder wurde der historische Jesus als Urbild wahrer, von sündhafter Egozentrik freier Humanität gezeichnet. Oder man erklärte den spekulativen Christus zum exemplarischen Repräsentanten des versöhnten Lebens. Mit Kierkegaard und Nietzsche unterzieht Iwand dies einer beißenden Kritik. Hier seien bloß bourgeoiser Moralismus und seichter Harmonieglaube verstärkt worden.

Mit Luther konzipiert Iwand Christologie als kritische Anthropologie. Der Reformator hatte den Christusglauben als äußerst krisenhafte, aber befreiende Konfrontation des Menschen mit seiner Vergänglichkeit gedeutet. Wer auf den Gekreuzigten blicke, könne den ideologischen Charakter unserer Selbstbilder vom schönen, guten, gottgleichen Vernunftwesen erkennen. "Christus macht uns sich gleichförmig und kreuzigt uns, indem er aus unglücklichen und stolzen Göttern wahre Menschen macht, das heißt Elende und Sünder", hieß es 1519 in den "Operationes in Psalmos". Diese Christologie zerstörte illusionäre Ich-Imaginationen zugunsten einer realistischen Selbstwahrnehmung des sterblichen homo carnalis.

Seit Descartes wollten Subjektivitätsphilosophen zeigen, daß sich der Mensch durch vernünftige Introspektion selbst erkennen kann. Reflexionstheorien transzendentaler Subjektivität sind jedoch aporetisch. Das Ich, das sich in der erkennenden Rückwendung auf sich als dieses Ich identifiziert, setzt dazu schon ein Wissen von sich beziehungsweise eine ursprüngliche Identität von erkennendem und erkanntem Ich voraus. Die Begründungsprobleme verschärfen sich, will sich das empirische Subjekt in den Blick nehmen. Individuen können sich durch Dauerreflexion nur begrenzt transparent werden.

Iwand will aus den Defiziten der Subjektivitätstheorien theologisches Kapital schlagen. Wie Heidegger oder die Frankfurter sieht er "das moderne Subjekt" durch instrumentelle Vernunft, Identitätszwang und Allmachtsphantasien geprägt. "Der moderne Mensch" sei neurotisch selbstbezüglich und unterwerfe alle Objektivität seinen Verwertungsinteressen. Iwand deutet ihn als den Menschen, der sein will wie Gott. Der klassischen Religionskritik stimmt er darin zu, daß sich dieses machtfixierte Herrschaftssubjekt um seiner religiösen Sicherung willen ins Unendliche vergrößert hat. Durch Religion wolle sich der atomistisch vereinzelte "moderne Mensch" metaphysische Geborgenheit verschaffen. Als Freund Karl Barths grenzt Iwand den christlichen Glauben streng vom "religiösen Bewußtsein", einer Selbstermächtigungsideologie des Menschen, ab. Im Medium der Christologie soll ein alternativer, gelungener Vollzug von Subjektivität erschlossen werden. Die omnipotenten Götter der modernen Machtphantasten konfrontiert Iwand mit dem leidensfähigen und sterblichen deus incarnatus der Christen. Die Selbstentäußerung des menschwerdenden Gottes denkt er so konsequent, daß er Jesu Kreuzestod als annihilatio Dei, Tod Gottes, faßt. Göttlichkeit manifestiert sich nicht in unbegrenzter Allgewalt. Sie äußert sich in Gottes Fähigkeit, durch Selbstnegation Leid und Tod seiner Geschöpfe zu teilen. So repräsentiert dieser Gott in Jesus Christus wahres Menschsein. Iwand rekonstruiert die alte Denkfigur der Stellvertretung als eine Theorie vermittelter Selbstbestimmung: Im Blick auf Jesus von Nazareth, der sich freiwillig dem Willen des Vaters beugt, soll der Mensch vom Zwang befreit werden, sich als allmächtiges Wesen inszenieren zu müssen. Iwand knüpft damit an die Urbildchristologie Schleiermachers an, die er ansonsten verwirft. Sein Christus-Urbild ermöglicht heilsame Selbstbegrenzung und entlastet von lebensfeindlichen Vollkommenheitsansprüchen.

Der Kantianer Krug hatte die Vernunft von ihrem Widerstreit befreien wollen, indem er den Stellvertretungsgedanken verabschiedete. Sein autonomer Mensch will keines Stellvertreters bedürfen. Mit Kantischen Mitteln will Iwand die Gegenposition rechtfertigen. Erst der Stellvertreter könne dem individuellen Subjekt wahre Freiheit erschließen. Wenn die Vernunft in ihrem Identitätszwang sich alles andere gleich mache, werde sie dogmatisch. Die Christologie erschließt die Kritisierbarkeit aller Vernunftdogmatismen. Sie bezeichnet ein absolutes Vernunft-Faktum, das aller rationalen Konstruktion vorausliegt. Allerdings läßt sich ein ursprüngliches Faktum nicht vernünftig demonstrieren. So wechselt Iwand die Sprachform und beginnt assertorisch, beteuernd zu reden. Die Herausgeber deuten dies als genuinen Vollzug christlicher Verkündigung. Iwands Pathos von Kampf und Entscheidung erinnert indes an die Rhetorik des politischen Dezisionismus. Zur Kritik "des modernen Menschen" gebraucht er eine extrem autoritäre Semantik, die den Kantischen Elementen seiner Gedankenführung widerstreitet.

In der protestantischen Tradition wurde Sünde nicht als moralische Verfehlung, sondern als amor sui, neurotische Egozentrik, bestimmt. Indem Iwand die Metaphern vom homo incurvatus in se unmittelbar auf "den neuzeitlichen Menschen" bezieht, begibt er sich in die Nähe zu Kulturpessimisten, die "die Moderne" nur in verfallsgeschichtlichen Perspektiven wahrnehmen können. Iwand will in der Christologie das Bild eines "neuen Menschen" zeichnen, der in souveräner Gelassenheit andere anders sein lassen kann. Doch wie kann der alte sündhafte Ego-Trieb-Täter zum neuen, christologisch emanzipierten Menschen werden? Der Mensch bedarf geöffneter Ohren, um das ihn verwandelnde Wort Gottes vernehmen zu können. Eine Botschaft kann ihre Rezipierbarkeit nicht selbst erzeugen. Aufgrund seiner Pauschalkritik des modernen Menschen vermag Iwand nicht zu erklären, wie sich dem Sünder das ihn richtende und rechtfertigende Christuszeugnis erschließt. So flüchtet er sich in Appelle zu Buße, Bekehrung und Umkehr. Auch der Wort-Gottes-Theologe betreibt nur jene Moralisierung der Christologie, die er den Bürgertheologen des neunzehnten Jahrhunderts vorwirft.

Alle prägnanten Begriffe der Christologie sind implizit politische Begriffe. Iwand präsentiert die christlichen Zentralsymbole als einen starken Mythos, der die Heroenmythen der Moderne entzaubert. Mehrfach zitiert er Begriffe Max Webers. Aber sub specie Christi stellt sich der Kampf der Wertgötter anders als im Sinne der Rationalisierungsthese dar. Hier rationalisiert nicht die Vernunft den Glauben. Vielmehr entmythologisiert der Glaube eine sich monomythisch verabsolutierende Vernunft. Iwand beschreibt diese "Aufklärung Gottes" als Herrschaftskritik. Jesus Christus konfrontiert die Übermenschen unseres Jahrhunderts mit dem wirklichen, endlichen Menschen. Der Heiland vertritt die Einsicht, "daß wir nicht als Heilande der anderen geschaffen sind. Wir werden gerade unsere Menschlichkeit verfehlen, wenn wir das sein wollten. Nicht nur, daß wir keine Götter sind, sondern auch, daß wir keine Erlöser, keine Christusfiguren und -gestalten sind, ist damit gesagt". Iwands Christologie läßt sich als ein wohltuend ironischer Text lesen: Der Stellvertreter aus Nazareth erlöst von aufklärungsstolzen Gutmenschen.

Hans Joachim Iwand: "Nachgelassene Werke - Neue Folge". Band 2: Christologie. Verlag Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1999. 539 S., geb., 178,- DM.

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