"Es ist Mode geworden, ´die Wahrheit´ über Beauvoir und Sartre zu schreiben, vor allem über Beauvoir. Und die Wahrheit entspricht, wen wundert´s, nicht der Legende." (EMMA) Die jetzt erschienenen Briefe der Beauvoir räumen endlich mit dem Klischee auf, zu dem Sartre und sie für viele ihrer Verehrer geworden waren.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.1997Auch der Biber wird belogen
Die Briefe Simone de Beauvoirs an Sartre / Von Ulla Hahn
Wer in den Briefen an Sartre die Gedanken einer Feministin und Philosophin sucht, wird enttäuscht. Wer den Esprit der Beauvoir bewundert, etwa in den "Memoiren einer Tochter aus gutem Hause" oder den unvergleichlichen Passagen über die Hausarbeit in "Das andere Geschlecht", muß in diesen Briefen nicht selten mit dem Niveau einer Lokalreporterin vorliebnehmen. Wer sich an den witzig-eleganten Stil der Briefe Sartres an die Beauvoir erinnert, begegnet der Spritzigkeit einer Einkaufsliste. Wie viele Kilometer die Beauvoir bergwandernd hinter sich bringt (vor allem während der Zeit ihres Schuldienstes in Marseille), was sie ißt und mit wem - "Schweinefleisch mit Linsen, dabei zärtlich an Sie gedacht" -, wer wo zum Friseur geht, wie lange an welchem Körperteil ein Furunkel blüht, wann wo wer mit wem wie lange herumsitzt: daß man es hier mit einer der "klügsten Frauen unseres Jahrhunderts" (Klappentext) zu tun haben soll, kann man nicht glauben.
Mag sein, daß Sartre, der in den Jahren 1939 bis Anfang 1941 als Soldat außerhalb von Paris Dienst tun mußte, gar nicht genug Klatsch vom linken Seine-Ufer hören konnte. Bis es wohl selbst ihm zuviel wird und der Brief vom 14. November 1940 auf die Anrede verzichtet und so beginnt: "Keine langen Briefe. Leserliche Schrift." Die Briefe werden kürzer, aber nicht spannender. Von ihren Reisen liefert die Beauvoir wenig originelle Beschreibungen von Städten und Landschaften: Sie ist ständig "im siebten Himmel", findet alles "reizend", "amüsant", "sensationell"; geht ihr einmal etwas wirklich nahe, wird dieser Eindruck als "seltsam" beiseite geschoben. Mit Memoirenbänden, Tagebüchern und Interviews ist das Leben der Beauvoir hinlänglich dokumentiert. Sind diese Briefe überhaupt eine Veröffentlichung wert?
Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre: das Paar. Das Paar dieses Jahrhunderts? Das Paar der fünfziger, sechziger Jahre gewiß. Erfolgreich, berühmt, aufsässig und geehrt, frei und doch vereint: War ihnen im persönlichen Leben geglückt, was der Kommunismus auf gesellschaftlichem Terrain erstrebte - die Quadratur des Kreises? Schockierend für die einen, faszinierend für die anderen, besonders für die junge Linke verkörperten sie die Utopie einer Beziehung zwischen Mann und Frau.
Worin lag diese Faszination? Hält sie dem prüfenden Blick aus historischer Distanz stand? Und schließlich: führen die rund dreihundert Briefe an Sartre zur Festigung oder zum Zusammenbruch des Bildes, das sie nicht müde wurden der Öffentlichkeit zu zelebrieren? Grundlage der Beziehungen zwischen Sartre und Beauvoir war eine Abmachung, die sie den "Freiheitspakt" nannten. 1929, beide hatten gerade ihr Staatsexamen für das höhere Lehramt bestanden, er als Bester, sie als Zweitbeste, schlug der vierundzwanzigjährige Sartre der drei Jahre jüngeren Beauvoir vor, zusammenzuleben, wobei jeder tun und lassen könne, was ihm beliebe. Die Beauvoir zögert; da ködert er sie mit dem Versprechen einer zweijährigen Monogamie, anschließend wolle er dann in Japan leben. Die Beauvoir akzeptiert erst, als dem Pakt noch eine wichtige Komponente hinzugefügt wird: absolute Offenheit, keine Lügen, "alles sagen", was später zu einem Eckpfeiler existentialistischer Philosophie werden sollte. "Authentisch" wollte man leben, jenseits bürgerlicher Moralvorstellungen.
Ist so eine Verabredung lebbar? Die streng katholisch erzogene Beauvoir versucht es, indem sie sich und Sartre zu einer Unio mystica erhebt, einer Einheit, die nicht mehr von dieser Welt ist, schiere Transzendenz. "Wir sind eins": das ist die Formel, die sich als Beschwörung durch die Briefe zieht, am nachdrücklichsten, wenn Sartre mal wieder mit irgendeiner Olga, Wanda, Vendrine . . . zusammen ist. Und das ist fast ununterbrochen der Fall, ein Leben lang. Nur indem die "Einheit" in die höheren Sphären verlagert wird, können die irdischen Zumutungen ertragen werden.
Je größer die Angst vor dem Verlassenwerden, desto zwanghafter wird diese "unauflösbare Einheit" phantasiert. Da sie nur in der Vorstellung existiert, kann und muß sie nicht bewiesen werden. Sie ist Glaubenssache, Dogma. Sartre und Beauvoir sind eins, ja, aber er ist derjenige, der das "eins" definiert. Er nutzte das Dogma, um zu tun, was er wollte. Persönliches Verhalten und verbale Beteuerungen hatten nichts miteinander zu tun. Der "Freiheitspakt": ein Pakt zum Betrug und Selbstbetrug ohne Ende. Die Briefe zeigen eine Beauvoir, die peinlich bemüht ist, existentialistisch korrekt zu denken und zu fühlen, um ihrem Herrn und Meister zu gefallen. Sartre wird vergötzt, wie es einer gutbürgerlichen Ehefrau mit ihrem Angetrauten kaum in den Sinn kommen würde. Doch wer so vergötzt wird, der wird auch um seine Menschlichkeit gebracht. Auseinandersetzungen mit der wirklichen Person, wie sie in einer aufrichtigen Partnerschaft angebracht gewesen wären, finden in diesen Briefen nicht statt.
Wie lebt die Beauvoir diesen Pakt? Sie versucht gleichzuziehen. Schildert ihr Sartre seine Eroberungen in allen obszönen Einzelheiten, beispielsweise die der Colette Gilbert, so kontert sie zwei Briefe später mit dem Eingeständnis, seinen Schüler, "den kleinen Bost", verführt zu haben. Wohlgemerkt, sie hat verführt, nicht sich verführen lassen. Denn so unterlegen sie sich Sartre fühlte, so überlegen fühlte sie sich dem Rest der Welt. Gibt ihr der "kleine Gatte" einen zärtlichen Brief von einer seiner Geliebten zu lesen, pariert sie mit der Offenbarung heißer Liebesbriefe an sie selbst. Verliebt Sartre sich auf seiner ersten Amerika-Reise 1945 in Dolorès Vanetti, tut die Beauvoir auf ihrer ersten Amerika-Reise zwei Jahre später mit Nelson Algren desgleichen, was sie nicht davon abhält, gleichzeitig brieflich zu jubilieren: ". . . ich stoße überall auf Spuren von Ihnen, und das ist wieder eine Art, mich mit Ihnen vereint zu fühlen", während sich der Adressat in Paris mit Dolorès amüsiert. Verläßt Sartre die Vanetti, läßt sie Algren sitzen, und zwar nach demselben Muster, indem zuerst Sartre, dann sie die jeweiligen Spielgefährten "ins Unrecht setzen". Ausgerechnet "Egoismus" wirft die Beauvoir dem Schriftsteller und Pulitzerpreisträger Algren vor, als der genug hat von der verlogenen Harmonie der Dreieinigkeit.
Während die Beauvoir ihre Männerbeziehungen eher diskret und tiefstapelnd rapportiert, kehrt sie in den Darstellungen ihrer lesbischen Beziehungen drastischere Seiten hervor. Als die Briefe 1990 in Frankreich erschienen, wurden diese Schilderungen als die eigentliche Sensation angesehen. Denn die Beauvoir hatte zeitlebens allen Fragen nach lesbischen Verhältnissen mit jesuitischer Eloquenz auszuweichen gewußt. "Der Mann ist ein geschlechtlicher Mensch", schreibt sie in "Das andere Geschlecht". "Die Frau kann nur dann ein vollständiges Individuum und dem Mann ebenbürtig sein, wenn auch sie ein geschlechtlicher Mensch ist." Und: "Jede Frau ist von Natur aus homosexuell." In den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren vor allem sammelt sie ihre Erfahrungen für diese Thesen. Dennoch versteht sich die Beauvoir nicht als lesbisch, da für sie zum Lesbischsein die Ausschließlichkeit gehört.
Viel eher sind ihre Erlebnisse mit Frauen als Versuch anzusehen, Sartre auch auf diesem Gebiet nachzueifern. ". . . wir . . . haben uns ins Bett gelegt und sind zu Umarmungen übergegangen . . . wir sind aufgewacht, und wie ein gesättigter Mann bin ich den Zärtlichkeiten ausgewichen . . . es kommt mir vor, als steckte ich in diesen Augenblicken in Ihrer Haut". Mit einer Frauenverachtung, die der Sartres in nichts nachsteht, unterbreitet sie ihm in ihren Briefen sexuelle Erfahrungen mit Schülerinnen, Studentinnen und anderen jungen Frauen, manche davon früher, später oder gleichzeitig auch Sartres Geliebte, so daß sich der Verdacht aufdrängt, sie tue das alles in erster Linie nur, um ihm zu gefallen. ". . . meine Sinnlichkeit war stärker beteiligt als gewöhnlich, dabei hatte ich vage den unverschämten Gedanken, ich müsse wenigstens ihren Körper benutzen - da war eine Spur Perversität . . . die, glaube ich, einfach die Abwesenheit von Zärtlichkeit war . . ." Oder: "Umarmungen - wenn ich Ihnen alles sagen soll, abgesehen vom üblichen Geruch ihres Körpers roch sie stark fäkal, was die Sache ziemlich unangenehm machte - die Freundschaft mit ihr mag noch angehen, aber die körperliche Beziehung ist mir äußerst unangenehm." Und: "Ich fragte mich, warum Frauen eher als Männer bei gezielten Liebkosungen ungeschickt sein müssen."
Als sie und Sartre einer gemeinsamen Gespielin schließlich überdrüssig werden und Sartre dem Mädchen einen unverschämten Brief schreibt, den er der Beauvoir als Abschrift zuschickt, glaubt sie zwar bemerken zu müssen, er habe die Person "ein bißchen zu brutal vernichtet - aber das hat keine Bedeutung . . . Was mich ärgert und stört, ist die Hartnäckigkeit, mit der sie mich mit sich in einen Topf wirft." So also funktioniert das "Wir sind eins" eben auch: die Beauvoir als bedingungslose Komplizin des zwanghaften Verführers Sartre. Immer besser lernt sie, seine Affären, die ernsthaften und die zahllosen anderen, zu ertragen und - zu organisieren. Sie verteilt seine kostbare Zeit wie die Herrin des Hauses einen Kuchen an Kinder, wobei sie sich das größte Stück zu sichern weiß. Und alle belügt sie. Nur Sartre nicht. Und der? Von Olivier Todd befragt, wie er denn mit so vielen Frauen zurechtgekommen sei, antwortet er: "Ich belüge sie; das ist leichter und anständiger. - Belügen Sie alle? - Er lächelt: Alle! - Auch den Castor? - Besonders den Castor." (Castor heißt Biber und war der Spitzname Sartres für die Beauvoir, die so auch ihre Briefe unterzeichnet.)
Die fühlt sich zumindest so lange sicher, wie sie die Konkurrenz im Griff hat: "Sie müssen Vendrine zwei Stunden treffen und nicht mehr, während ich in der Schule bin", fordert sie. Im Ton, als verlange sie von Sartre, ein Paar Schuhe umzutauschen, fragt sie: "Wann verlassen Sie Dolorès? Ich hoffe, Sie warten nicht, bis sie nach Spanien abreist, es könnte kein Ende finden." Und lobt ihn nach getaner Tat: "Sie haben es mit Dolorès sehr, sehr gut gemacht!" Im Gegenzug versichert sie ihn unablässig ihrer "demütigen vollen Liebe", raunt, "wenn Sie mich im Stich ließen . . . die Welt würde unter mir zusammenbrechen". "Das wunderbare Glück, in derselben Welt wie Sie zu sein, werde ich niemals zu teuer bezahlen . . ."
Selbst wenn sie, vor allem auf ihrer Amerika-Reise, einmal etwas wie "glückliche Sorglosigkeit" empfindet, beeilt sie sich, Sartre zu versichern, "daß mein Leben dennoch nicht in meiner Hand ist . . ., daß ich vollkommen von Ihnen abhängig bin . . ., daß wir eins sind . . ." Und ein paar Sätze weiter: "Und es erschüttert mich, meine Liebe in ihrer ganzen Stärke wiederzufinden, ein bißchen, als ob ich während einer Party plötzlich an den Tod denken würde." Was Wunder, daß sie, was selten vorkommt, von ihm träumt: "Sie waren in Uniform, und Sie waren mein Mörder, Sie wollten mich erwürgen . . ." Nachgedacht wird über diesen Traum so wenig wie über das Leben. Von Traurigkeit, Zusammenbrüchen, Verstimmungen wird zwar viel geredet, aber nicht einmal nach dem Grund gefragt. Kaum ein Brief, in dem sie nicht ihr Alleinsein beklagt, ihre Sehnsucht gesteht und im selben Atemzug versichert, daß sie restlos glücklich sei, "im siebten Himmel", wie sie gern schreibt, ist man doch, jawohl, "wir sind eins". Die Angst, Sartre zu verlieren, hindert die Beauvoir ein Leben lang daran, sich als selbständige Person zu begreifen.
Nicht das Alleinsein, sondern die Furcht, von Platz eins in Sartres Liebesleben verdrängt zu werden, trieb die Beauvoir ein Leben lang um - wie es jedem gehen würde, der sich auf einen Pakt mit derartigen psychischen Überforderungen einlassen würde. Die Briefe zeigen, daß sie sich weit weniger unglücklich fühlte, wenn der Soldat Sartre auf seiner Wetterbeobachtungsstation Posten fassen mußte, als wenn er sich in Paris aufhielt, seine Zeit aber nicht mit ihr, sondern mit einer Geliebten verbrachte. Da sie in diesem Pakt keine innere Geborgenheit und Sicherheit entwickeln konnte - erst spät gibt ihr die Anerkennung als Schriftstellerin dafür einen Ersatz -, brauchte sie immer neues emotionales Füllmaterial, um den Zustand der Angst, "der Leere", von der immer wieder die Rede ist, zu betäuben.
Erleben, das wirklich an die Substanz geht und damit ein menschliches Reifen ermöglichen könnte, macht der Pakt ebenfalls unmöglich. Sie betrügt sich selbst um jede wirkliche Erfahrung, weil deren Ausgang am Anfang immer schon festgelegt ist. Alles ist nur Fiktion, und immer heißt es schon: Les jeux sont faits. So ist die ernsthafte Begegnung mit Nelson Algren von vornherein zu Ende. "Denn ihr Tod war in dem Leben enthalten, das ich gewählt habe und das Sie mir gaben", schreibt sie an Sartre. Das Ausweichen vor Auseinandersetzungen mit schmerzlichen Erfahrungen, all das unausgesprochene Leid blockiert auch die Ausdrucksfähigkeit. Angst engt ein, hemmt die Imagination, die Sprache trocknet aus, wird unscharf, schwunglos. Auch davon legen die Briefe Zeugnis ab, mit wenigen Ausnahmen: einer Handvoll Briefe aus Amerika. Hier endlich schreibt die Beauvoir erst für sich und dann für Sartre, wagt sogar das Geständnis: "Ich denke noch genauso viel an Sie, aber es ist nicht mehr Ihr New York, es ist meines."
Die Veröffentlichung der Briefe Simone de Beauvoirs an Jean Paul Sartre haben den Mythos vom "Freiheitspakt" zerstört. Wie der Kommunismus, so funktionierte auch der Freiheitspakt nur auf dem Papier; beide Utopien scheiterten am "menschlichen Faktor". Daß der Mensch ist, wie er ist, nicht wie wir ihn gern hätten, dieser Einsicht sind wir in diesem Jahrhundert auf schmerzhaften Umwegen näher gekommen. So wie der Sozialismus, der die Menschen gleich und frei machen wollte, zu Ungleichheit und Unfreiheit führte, so führte der "Freiheitspakt" bei Sartre und Beauvoir zu einem Gespinst aus Heuchelei, Winkelzügen und Grausamkeit. Das "neue Paar" war nicht weniger eine Illusion als der "neue Mensch".
Die von Simone de Beauvoirs Adoptivtochter Sylvie Le Bon de Beauvoir übersichtlich edierten, ungekürzten Briefe sind mit zahlreichen Fußnoten versehen, die auf die autobiographischen Schriften und Romane der Beauvoir hinweisen. Man sollte diese statt der Briefe lesen; sie sind alle als Taschenbuch zu haben.
Simone de Beauvoir: "Briefe an Sartre". Band I: 1930 bis 1939. Bd. II: 1940 bis 1963. Herausgegeben von Sylvie Le Bon de Beauvoir. Aus dem Französischen übersetzt von Judith Klein. Rowohlt Verlag, Reinbek 1997. 520 und 591 S., geb., je 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Briefe Simone de Beauvoirs an Sartre / Von Ulla Hahn
Wer in den Briefen an Sartre die Gedanken einer Feministin und Philosophin sucht, wird enttäuscht. Wer den Esprit der Beauvoir bewundert, etwa in den "Memoiren einer Tochter aus gutem Hause" oder den unvergleichlichen Passagen über die Hausarbeit in "Das andere Geschlecht", muß in diesen Briefen nicht selten mit dem Niveau einer Lokalreporterin vorliebnehmen. Wer sich an den witzig-eleganten Stil der Briefe Sartres an die Beauvoir erinnert, begegnet der Spritzigkeit einer Einkaufsliste. Wie viele Kilometer die Beauvoir bergwandernd hinter sich bringt (vor allem während der Zeit ihres Schuldienstes in Marseille), was sie ißt und mit wem - "Schweinefleisch mit Linsen, dabei zärtlich an Sie gedacht" -, wer wo zum Friseur geht, wie lange an welchem Körperteil ein Furunkel blüht, wann wo wer mit wem wie lange herumsitzt: daß man es hier mit einer der "klügsten Frauen unseres Jahrhunderts" (Klappentext) zu tun haben soll, kann man nicht glauben.
Mag sein, daß Sartre, der in den Jahren 1939 bis Anfang 1941 als Soldat außerhalb von Paris Dienst tun mußte, gar nicht genug Klatsch vom linken Seine-Ufer hören konnte. Bis es wohl selbst ihm zuviel wird und der Brief vom 14. November 1940 auf die Anrede verzichtet und so beginnt: "Keine langen Briefe. Leserliche Schrift." Die Briefe werden kürzer, aber nicht spannender. Von ihren Reisen liefert die Beauvoir wenig originelle Beschreibungen von Städten und Landschaften: Sie ist ständig "im siebten Himmel", findet alles "reizend", "amüsant", "sensationell"; geht ihr einmal etwas wirklich nahe, wird dieser Eindruck als "seltsam" beiseite geschoben. Mit Memoirenbänden, Tagebüchern und Interviews ist das Leben der Beauvoir hinlänglich dokumentiert. Sind diese Briefe überhaupt eine Veröffentlichung wert?
Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre: das Paar. Das Paar dieses Jahrhunderts? Das Paar der fünfziger, sechziger Jahre gewiß. Erfolgreich, berühmt, aufsässig und geehrt, frei und doch vereint: War ihnen im persönlichen Leben geglückt, was der Kommunismus auf gesellschaftlichem Terrain erstrebte - die Quadratur des Kreises? Schockierend für die einen, faszinierend für die anderen, besonders für die junge Linke verkörperten sie die Utopie einer Beziehung zwischen Mann und Frau.
Worin lag diese Faszination? Hält sie dem prüfenden Blick aus historischer Distanz stand? Und schließlich: führen die rund dreihundert Briefe an Sartre zur Festigung oder zum Zusammenbruch des Bildes, das sie nicht müde wurden der Öffentlichkeit zu zelebrieren? Grundlage der Beziehungen zwischen Sartre und Beauvoir war eine Abmachung, die sie den "Freiheitspakt" nannten. 1929, beide hatten gerade ihr Staatsexamen für das höhere Lehramt bestanden, er als Bester, sie als Zweitbeste, schlug der vierundzwanzigjährige Sartre der drei Jahre jüngeren Beauvoir vor, zusammenzuleben, wobei jeder tun und lassen könne, was ihm beliebe. Die Beauvoir zögert; da ködert er sie mit dem Versprechen einer zweijährigen Monogamie, anschließend wolle er dann in Japan leben. Die Beauvoir akzeptiert erst, als dem Pakt noch eine wichtige Komponente hinzugefügt wird: absolute Offenheit, keine Lügen, "alles sagen", was später zu einem Eckpfeiler existentialistischer Philosophie werden sollte. "Authentisch" wollte man leben, jenseits bürgerlicher Moralvorstellungen.
Ist so eine Verabredung lebbar? Die streng katholisch erzogene Beauvoir versucht es, indem sie sich und Sartre zu einer Unio mystica erhebt, einer Einheit, die nicht mehr von dieser Welt ist, schiere Transzendenz. "Wir sind eins": das ist die Formel, die sich als Beschwörung durch die Briefe zieht, am nachdrücklichsten, wenn Sartre mal wieder mit irgendeiner Olga, Wanda, Vendrine . . . zusammen ist. Und das ist fast ununterbrochen der Fall, ein Leben lang. Nur indem die "Einheit" in die höheren Sphären verlagert wird, können die irdischen Zumutungen ertragen werden.
Je größer die Angst vor dem Verlassenwerden, desto zwanghafter wird diese "unauflösbare Einheit" phantasiert. Da sie nur in der Vorstellung existiert, kann und muß sie nicht bewiesen werden. Sie ist Glaubenssache, Dogma. Sartre und Beauvoir sind eins, ja, aber er ist derjenige, der das "eins" definiert. Er nutzte das Dogma, um zu tun, was er wollte. Persönliches Verhalten und verbale Beteuerungen hatten nichts miteinander zu tun. Der "Freiheitspakt": ein Pakt zum Betrug und Selbstbetrug ohne Ende. Die Briefe zeigen eine Beauvoir, die peinlich bemüht ist, existentialistisch korrekt zu denken und zu fühlen, um ihrem Herrn und Meister zu gefallen. Sartre wird vergötzt, wie es einer gutbürgerlichen Ehefrau mit ihrem Angetrauten kaum in den Sinn kommen würde. Doch wer so vergötzt wird, der wird auch um seine Menschlichkeit gebracht. Auseinandersetzungen mit der wirklichen Person, wie sie in einer aufrichtigen Partnerschaft angebracht gewesen wären, finden in diesen Briefen nicht statt.
Wie lebt die Beauvoir diesen Pakt? Sie versucht gleichzuziehen. Schildert ihr Sartre seine Eroberungen in allen obszönen Einzelheiten, beispielsweise die der Colette Gilbert, so kontert sie zwei Briefe später mit dem Eingeständnis, seinen Schüler, "den kleinen Bost", verführt zu haben. Wohlgemerkt, sie hat verführt, nicht sich verführen lassen. Denn so unterlegen sie sich Sartre fühlte, so überlegen fühlte sie sich dem Rest der Welt. Gibt ihr der "kleine Gatte" einen zärtlichen Brief von einer seiner Geliebten zu lesen, pariert sie mit der Offenbarung heißer Liebesbriefe an sie selbst. Verliebt Sartre sich auf seiner ersten Amerika-Reise 1945 in Dolorès Vanetti, tut die Beauvoir auf ihrer ersten Amerika-Reise zwei Jahre später mit Nelson Algren desgleichen, was sie nicht davon abhält, gleichzeitig brieflich zu jubilieren: ". . . ich stoße überall auf Spuren von Ihnen, und das ist wieder eine Art, mich mit Ihnen vereint zu fühlen", während sich der Adressat in Paris mit Dolorès amüsiert. Verläßt Sartre die Vanetti, läßt sie Algren sitzen, und zwar nach demselben Muster, indem zuerst Sartre, dann sie die jeweiligen Spielgefährten "ins Unrecht setzen". Ausgerechnet "Egoismus" wirft die Beauvoir dem Schriftsteller und Pulitzerpreisträger Algren vor, als der genug hat von der verlogenen Harmonie der Dreieinigkeit.
Während die Beauvoir ihre Männerbeziehungen eher diskret und tiefstapelnd rapportiert, kehrt sie in den Darstellungen ihrer lesbischen Beziehungen drastischere Seiten hervor. Als die Briefe 1990 in Frankreich erschienen, wurden diese Schilderungen als die eigentliche Sensation angesehen. Denn die Beauvoir hatte zeitlebens allen Fragen nach lesbischen Verhältnissen mit jesuitischer Eloquenz auszuweichen gewußt. "Der Mann ist ein geschlechtlicher Mensch", schreibt sie in "Das andere Geschlecht". "Die Frau kann nur dann ein vollständiges Individuum und dem Mann ebenbürtig sein, wenn auch sie ein geschlechtlicher Mensch ist." Und: "Jede Frau ist von Natur aus homosexuell." In den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren vor allem sammelt sie ihre Erfahrungen für diese Thesen. Dennoch versteht sich die Beauvoir nicht als lesbisch, da für sie zum Lesbischsein die Ausschließlichkeit gehört.
Viel eher sind ihre Erlebnisse mit Frauen als Versuch anzusehen, Sartre auch auf diesem Gebiet nachzueifern. ". . . wir . . . haben uns ins Bett gelegt und sind zu Umarmungen übergegangen . . . wir sind aufgewacht, und wie ein gesättigter Mann bin ich den Zärtlichkeiten ausgewichen . . . es kommt mir vor, als steckte ich in diesen Augenblicken in Ihrer Haut". Mit einer Frauenverachtung, die der Sartres in nichts nachsteht, unterbreitet sie ihm in ihren Briefen sexuelle Erfahrungen mit Schülerinnen, Studentinnen und anderen jungen Frauen, manche davon früher, später oder gleichzeitig auch Sartres Geliebte, so daß sich der Verdacht aufdrängt, sie tue das alles in erster Linie nur, um ihm zu gefallen. ". . . meine Sinnlichkeit war stärker beteiligt als gewöhnlich, dabei hatte ich vage den unverschämten Gedanken, ich müsse wenigstens ihren Körper benutzen - da war eine Spur Perversität . . . die, glaube ich, einfach die Abwesenheit von Zärtlichkeit war . . ." Oder: "Umarmungen - wenn ich Ihnen alles sagen soll, abgesehen vom üblichen Geruch ihres Körpers roch sie stark fäkal, was die Sache ziemlich unangenehm machte - die Freundschaft mit ihr mag noch angehen, aber die körperliche Beziehung ist mir äußerst unangenehm." Und: "Ich fragte mich, warum Frauen eher als Männer bei gezielten Liebkosungen ungeschickt sein müssen."
Als sie und Sartre einer gemeinsamen Gespielin schließlich überdrüssig werden und Sartre dem Mädchen einen unverschämten Brief schreibt, den er der Beauvoir als Abschrift zuschickt, glaubt sie zwar bemerken zu müssen, er habe die Person "ein bißchen zu brutal vernichtet - aber das hat keine Bedeutung . . . Was mich ärgert und stört, ist die Hartnäckigkeit, mit der sie mich mit sich in einen Topf wirft." So also funktioniert das "Wir sind eins" eben auch: die Beauvoir als bedingungslose Komplizin des zwanghaften Verführers Sartre. Immer besser lernt sie, seine Affären, die ernsthaften und die zahllosen anderen, zu ertragen und - zu organisieren. Sie verteilt seine kostbare Zeit wie die Herrin des Hauses einen Kuchen an Kinder, wobei sie sich das größte Stück zu sichern weiß. Und alle belügt sie. Nur Sartre nicht. Und der? Von Olivier Todd befragt, wie er denn mit so vielen Frauen zurechtgekommen sei, antwortet er: "Ich belüge sie; das ist leichter und anständiger. - Belügen Sie alle? - Er lächelt: Alle! - Auch den Castor? - Besonders den Castor." (Castor heißt Biber und war der Spitzname Sartres für die Beauvoir, die so auch ihre Briefe unterzeichnet.)
Die fühlt sich zumindest so lange sicher, wie sie die Konkurrenz im Griff hat: "Sie müssen Vendrine zwei Stunden treffen und nicht mehr, während ich in der Schule bin", fordert sie. Im Ton, als verlange sie von Sartre, ein Paar Schuhe umzutauschen, fragt sie: "Wann verlassen Sie Dolorès? Ich hoffe, Sie warten nicht, bis sie nach Spanien abreist, es könnte kein Ende finden." Und lobt ihn nach getaner Tat: "Sie haben es mit Dolorès sehr, sehr gut gemacht!" Im Gegenzug versichert sie ihn unablässig ihrer "demütigen vollen Liebe", raunt, "wenn Sie mich im Stich ließen . . . die Welt würde unter mir zusammenbrechen". "Das wunderbare Glück, in derselben Welt wie Sie zu sein, werde ich niemals zu teuer bezahlen . . ."
Selbst wenn sie, vor allem auf ihrer Amerika-Reise, einmal etwas wie "glückliche Sorglosigkeit" empfindet, beeilt sie sich, Sartre zu versichern, "daß mein Leben dennoch nicht in meiner Hand ist . . ., daß ich vollkommen von Ihnen abhängig bin . . ., daß wir eins sind . . ." Und ein paar Sätze weiter: "Und es erschüttert mich, meine Liebe in ihrer ganzen Stärke wiederzufinden, ein bißchen, als ob ich während einer Party plötzlich an den Tod denken würde." Was Wunder, daß sie, was selten vorkommt, von ihm träumt: "Sie waren in Uniform, und Sie waren mein Mörder, Sie wollten mich erwürgen . . ." Nachgedacht wird über diesen Traum so wenig wie über das Leben. Von Traurigkeit, Zusammenbrüchen, Verstimmungen wird zwar viel geredet, aber nicht einmal nach dem Grund gefragt. Kaum ein Brief, in dem sie nicht ihr Alleinsein beklagt, ihre Sehnsucht gesteht und im selben Atemzug versichert, daß sie restlos glücklich sei, "im siebten Himmel", wie sie gern schreibt, ist man doch, jawohl, "wir sind eins". Die Angst, Sartre zu verlieren, hindert die Beauvoir ein Leben lang daran, sich als selbständige Person zu begreifen.
Nicht das Alleinsein, sondern die Furcht, von Platz eins in Sartres Liebesleben verdrängt zu werden, trieb die Beauvoir ein Leben lang um - wie es jedem gehen würde, der sich auf einen Pakt mit derartigen psychischen Überforderungen einlassen würde. Die Briefe zeigen, daß sie sich weit weniger unglücklich fühlte, wenn der Soldat Sartre auf seiner Wetterbeobachtungsstation Posten fassen mußte, als wenn er sich in Paris aufhielt, seine Zeit aber nicht mit ihr, sondern mit einer Geliebten verbrachte. Da sie in diesem Pakt keine innere Geborgenheit und Sicherheit entwickeln konnte - erst spät gibt ihr die Anerkennung als Schriftstellerin dafür einen Ersatz -, brauchte sie immer neues emotionales Füllmaterial, um den Zustand der Angst, "der Leere", von der immer wieder die Rede ist, zu betäuben.
Erleben, das wirklich an die Substanz geht und damit ein menschliches Reifen ermöglichen könnte, macht der Pakt ebenfalls unmöglich. Sie betrügt sich selbst um jede wirkliche Erfahrung, weil deren Ausgang am Anfang immer schon festgelegt ist. Alles ist nur Fiktion, und immer heißt es schon: Les jeux sont faits. So ist die ernsthafte Begegnung mit Nelson Algren von vornherein zu Ende. "Denn ihr Tod war in dem Leben enthalten, das ich gewählt habe und das Sie mir gaben", schreibt sie an Sartre. Das Ausweichen vor Auseinandersetzungen mit schmerzlichen Erfahrungen, all das unausgesprochene Leid blockiert auch die Ausdrucksfähigkeit. Angst engt ein, hemmt die Imagination, die Sprache trocknet aus, wird unscharf, schwunglos. Auch davon legen die Briefe Zeugnis ab, mit wenigen Ausnahmen: einer Handvoll Briefe aus Amerika. Hier endlich schreibt die Beauvoir erst für sich und dann für Sartre, wagt sogar das Geständnis: "Ich denke noch genauso viel an Sie, aber es ist nicht mehr Ihr New York, es ist meines."
Die Veröffentlichung der Briefe Simone de Beauvoirs an Jean Paul Sartre haben den Mythos vom "Freiheitspakt" zerstört. Wie der Kommunismus, so funktionierte auch der Freiheitspakt nur auf dem Papier; beide Utopien scheiterten am "menschlichen Faktor". Daß der Mensch ist, wie er ist, nicht wie wir ihn gern hätten, dieser Einsicht sind wir in diesem Jahrhundert auf schmerzhaften Umwegen näher gekommen. So wie der Sozialismus, der die Menschen gleich und frei machen wollte, zu Ungleichheit und Unfreiheit führte, so führte der "Freiheitspakt" bei Sartre und Beauvoir zu einem Gespinst aus Heuchelei, Winkelzügen und Grausamkeit. Das "neue Paar" war nicht weniger eine Illusion als der "neue Mensch".
Die von Simone de Beauvoirs Adoptivtochter Sylvie Le Bon de Beauvoir übersichtlich edierten, ungekürzten Briefe sind mit zahlreichen Fußnoten versehen, die auf die autobiographischen Schriften und Romane der Beauvoir hinweisen. Man sollte diese statt der Briefe lesen; sie sind alle als Taschenbuch zu haben.
Simone de Beauvoir: "Briefe an Sartre". Band I: 1930 bis 1939. Bd. II: 1940 bis 1963. Herausgegeben von Sylvie Le Bon de Beauvoir. Aus dem Französischen übersetzt von Judith Klein. Rowohlt Verlag, Reinbek 1997. 520 und 591 S., geb., je 58,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Simone de Beauvoir hatte etwas zu verbergen - die Briefe enthüllen zwei ihrer bestgehüteten Geheimnisse. Das eine Geheimnis sind die Schattenseiten ihres Paktes mit Sartre ... Das zweite Geheimnis ist Beauvoirs lebenslange Bisexualität. Alice Schwarzer