Produktdetails
- insel taschenbuch
- Verlag: Insel Verlag
- Seitenzahl: 444
- Abmessung: 176mm x 108mm x 14mm
- Gewicht: 233g
- ISBN-13: 9783458343189
- ISBN-10: 3458343180
- Artikelnr.: 23913052
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2000Fern vom Feenland
Die Briefe des Kelemen Mikes
Die Helden sind müde. Vierzehn Jahre lang haben sie für die Freiheit Ungarns und Siebenbürgens gegen die Habsburger gekämpft, erst mit Waffen, später, im polnischen und französischen Exil, als Lobbyisten eines erhofften Befreiungskrieges, zu dem es nie kommen sollte. Schließlich folgen sie mit ihrem Anführer, dem siebenbürgischen Fürsten Ferenc Rákóczi II., einem letzten Hoffnungsschimmer: Der osmanische Sultan hat sie gerufen, um ihnen Zuflucht und, so scheint es, militärische Hilfe gegen Österreich zu gewähren.
Im Jahr 1717 kommen die Ungarn in der Türkei an. Lange Zeit werden sie vertröstet, hofiert und verpflegt, ohne dass sich ihnen eine reelle Perspektive auftut. Aufmerksam registrieren sie die Umschwünge der großen europäischen Politik, hoffen auf Verbündete und resignieren angesichts des Friedensschlusses zwischen der Hohen Pforte und Österreich. Schließlich stirbt Ferenc Rákóczi im Jahr 1735, ohne seine Heimat wiedergesehen zu haben.
Dass die Exilanten am Bosporus heute mehr als nur eine Fußnote der ungarischen Geschichte sind, ist Kelemen Mikes zu verdanken. Denn der Sekretär des Fürsten, dem er 1711 als Einundzwanzigjähriger in die Verbannung folgte, hat ein literarisches Dokument des Exils hinterlassen, das bis heute als ein Meisterwerk der ungarischen Literatur gilt. In 207 Briefen an eine imaginäre "herzliebste Cousine" berichtet Mikes 41 Jahre lang vom Leben in der Diaspora, fern der "Feenheimat" Siebenbürgen. Geschildert werden darin weniger die osmanischen Zustände im frühen achtzehnten Jahrhundert, sondern vor allem die psychische Situation der zum Nichtstun verurteilten Exilanten. Insgesamt bleibt die Pracht des Osmanenhofes, die Herrlichkeit des Sultans eher schemenhaft; sehr viel detaillierter beschreibt Mikes dagegen die ärmlichen Lebensbedingungen, denen der siebenbürgische Fürst und seine Getreuen unterworfen sind: Von Insekten ist viel die Rede, von Flöhen und Ohrenkneifern; durch die leeren Fensterhöhlen pfeift der Wind, im Winter ist es schneidend kalt, im Sommer so brütend heiß, dass Mikes sich fühlt wie zu Sülze zerschmolzen. Ab und an treibt eine Pestepidemie die Exilanten in Zelte vor die Tore der Stadt, und trotz aller Vorsicht erwischt es immer einige der Ungarn, deren Zahl stetig abnimmt.
Am schlimmsten aber ist die tief empfundene Ereignislosigkeit, nachdem sich die Träume einer triumphalen Rückkehr in Luft aufgelöst haben: "Ich möchte schon irgendeine Neuigkeit schreiben, so es eine gäbe, aber wir leben hier in solcher Ruh' und Stille, dass es anmutet, als wären anderswo alle gestorben und nur wir am Leben." Aber, fragt Mikes weiter, ist es nicht eigentlich genau umgekehrt: "die andern leben, wir schlafen bloß"? Stunden dehnen sich zu Monaten, Tage zu Jahren, und das geistreiche Spiel, das Mikes in seinen Briefen mit den Zeiteinheiten treibt, übertüncht die Verzweiflung des Autors nur notdürftig.
Diese Passagen sind das eigentlich Großartige des Briefbandes. Das vergeudete Leben des Schreibers aus Siebenbürgen, der sich auch nach dem Tod seines Herrn zu keiner Ortsveränderung aufraffen kann, wird souverän und stilistisch glänzend in Literatur überführt - selbstironisch, gelegentlich sentimental, plaudernd, niemals flach und immer voller Würde - eine Stillage, die den Leser nach 250 Jahren noch unmittelbar anspricht. In die Heimat ist Mikes nie zurückgekehrt. Im Jahr 1761 starb er, mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Fürsten, an der Pest, deren Auswirkungen er zuvor schon oft an seinen Landsleuten beobachtet und beschrieben hatte. Seine fiktiven Briefe sind 1794 erstmals im Druck erschienen. Erst jetzt, mit der neuen, ungekürzten Übersetzung von Paul Kárpáti, kann man sein durch und durch trauriges Buch authentisch auf Deutsch rezipieren, diese Chronik eines in unfreiwilliger Tatenlosigkeit verbrachten Lebens, das mit so hoch gesteckten Erwartungen begonnen wurde.
TILMAN SPRECKELSEN
Kelemen Mikes: "Briefe aus der Türkei". Aus dem Ungarischen übersetzt von Paul Kárpáti. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999. 445 S., br., 22,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Briefe des Kelemen Mikes
Die Helden sind müde. Vierzehn Jahre lang haben sie für die Freiheit Ungarns und Siebenbürgens gegen die Habsburger gekämpft, erst mit Waffen, später, im polnischen und französischen Exil, als Lobbyisten eines erhofften Befreiungskrieges, zu dem es nie kommen sollte. Schließlich folgen sie mit ihrem Anführer, dem siebenbürgischen Fürsten Ferenc Rákóczi II., einem letzten Hoffnungsschimmer: Der osmanische Sultan hat sie gerufen, um ihnen Zuflucht und, so scheint es, militärische Hilfe gegen Österreich zu gewähren.
Im Jahr 1717 kommen die Ungarn in der Türkei an. Lange Zeit werden sie vertröstet, hofiert und verpflegt, ohne dass sich ihnen eine reelle Perspektive auftut. Aufmerksam registrieren sie die Umschwünge der großen europäischen Politik, hoffen auf Verbündete und resignieren angesichts des Friedensschlusses zwischen der Hohen Pforte und Österreich. Schließlich stirbt Ferenc Rákóczi im Jahr 1735, ohne seine Heimat wiedergesehen zu haben.
Dass die Exilanten am Bosporus heute mehr als nur eine Fußnote der ungarischen Geschichte sind, ist Kelemen Mikes zu verdanken. Denn der Sekretär des Fürsten, dem er 1711 als Einundzwanzigjähriger in die Verbannung folgte, hat ein literarisches Dokument des Exils hinterlassen, das bis heute als ein Meisterwerk der ungarischen Literatur gilt. In 207 Briefen an eine imaginäre "herzliebste Cousine" berichtet Mikes 41 Jahre lang vom Leben in der Diaspora, fern der "Feenheimat" Siebenbürgen. Geschildert werden darin weniger die osmanischen Zustände im frühen achtzehnten Jahrhundert, sondern vor allem die psychische Situation der zum Nichtstun verurteilten Exilanten. Insgesamt bleibt die Pracht des Osmanenhofes, die Herrlichkeit des Sultans eher schemenhaft; sehr viel detaillierter beschreibt Mikes dagegen die ärmlichen Lebensbedingungen, denen der siebenbürgische Fürst und seine Getreuen unterworfen sind: Von Insekten ist viel die Rede, von Flöhen und Ohrenkneifern; durch die leeren Fensterhöhlen pfeift der Wind, im Winter ist es schneidend kalt, im Sommer so brütend heiß, dass Mikes sich fühlt wie zu Sülze zerschmolzen. Ab und an treibt eine Pestepidemie die Exilanten in Zelte vor die Tore der Stadt, und trotz aller Vorsicht erwischt es immer einige der Ungarn, deren Zahl stetig abnimmt.
Am schlimmsten aber ist die tief empfundene Ereignislosigkeit, nachdem sich die Träume einer triumphalen Rückkehr in Luft aufgelöst haben: "Ich möchte schon irgendeine Neuigkeit schreiben, so es eine gäbe, aber wir leben hier in solcher Ruh' und Stille, dass es anmutet, als wären anderswo alle gestorben und nur wir am Leben." Aber, fragt Mikes weiter, ist es nicht eigentlich genau umgekehrt: "die andern leben, wir schlafen bloß"? Stunden dehnen sich zu Monaten, Tage zu Jahren, und das geistreiche Spiel, das Mikes in seinen Briefen mit den Zeiteinheiten treibt, übertüncht die Verzweiflung des Autors nur notdürftig.
Diese Passagen sind das eigentlich Großartige des Briefbandes. Das vergeudete Leben des Schreibers aus Siebenbürgen, der sich auch nach dem Tod seines Herrn zu keiner Ortsveränderung aufraffen kann, wird souverän und stilistisch glänzend in Literatur überführt - selbstironisch, gelegentlich sentimental, plaudernd, niemals flach und immer voller Würde - eine Stillage, die den Leser nach 250 Jahren noch unmittelbar anspricht. In die Heimat ist Mikes nie zurückgekehrt. Im Jahr 1761 starb er, mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Fürsten, an der Pest, deren Auswirkungen er zuvor schon oft an seinen Landsleuten beobachtet und beschrieben hatte. Seine fiktiven Briefe sind 1794 erstmals im Druck erschienen. Erst jetzt, mit der neuen, ungekürzten Übersetzung von Paul Kárpáti, kann man sein durch und durch trauriges Buch authentisch auf Deutsch rezipieren, diese Chronik eines in unfreiwilliger Tatenlosigkeit verbrachten Lebens, das mit so hoch gesteckten Erwartungen begonnen wurde.
TILMAN SPRECKELSEN
Kelemen Mikes: "Briefe aus der Türkei". Aus dem Ungarischen übersetzt von Paul Kárpáti. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1999. 445 S., br., 22,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Laszlo F. Földenyi legt dem Leser dieses Buch wärmstens ans Herz: Ein "eminent ungarisches Buch", das helfe, die Geschichte und Literatur Ungarns zu verstehen. Anschaulich erzählt er in seiner Rezension die Geschichte des Autors, der als Knappe Fürst Ferenc Rakoczis II. Anfang des 18. Jahrhunderts in der Türkei landete. Der ungarische Freiheitskamp war niedergeschlagen, Ungarn fest in Habsburger Hand. Anders als die meisten Briefroman aus dieser Zeit, hätten Mikes` "Briefe aus der Türkei" keinen Bekenntnischarakter. Alles an diesem Briefroman sei fiktiv, erklärt Földenyi: die Briefe, die Adressatin (eine Gräfin P. in Konstantinopel), sogar die Welt, die hier beschrieben werde, sei eine Traumwelt. Umgeben von "türkisch, armenisch und griechisch geprägten" Gruppen, träumten die ungarischen Aufständischen in ihrem Exil, dass die europäischen Fürsten noch "mit ihnen rechneten". So beschreibe Mikes den Alltag der verschiedenen Gruppen und gebe Dutzende von Anekdoten zum besten, "doch herrscht zugleich ständige Hoffnungslosigkeit". Eine der "bedeutenden und beispielgebenden Schöpfungen der ungarischen Prosaliteratur", schreibt Földenyi und legt noch nach: ein "grandioses Werk".
© Perlentaucher Medien GmbH
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