Als "Auslandskorrespondent im eigenen Land" läßt Julian Barnes im Auftrag des "New Yorkers" seinen geschärften Blick über die britische Heimat schweifen. In fünfzehn Briefen aus London erzählt er von Margaret Thatcher, John Major und Tony Blair, berichtet von der Symbolträchtigkeit englischer Irrgärten, wirft vielsagende Blicke hinter die Kulissen von Lloyd's of London und über die Mauern des Buckingham-Palasts und verrät (fast) alles über "Nonnas Schlüpferskandal" und Britannias neue BH-Größe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1996Gepflegter Abscheu vor Lady Thatcher
Julian Barnes schreibt Briefe aus London / Von Martin Mosebach
Wahrscheinlich hat man sich in der Redaktion des "New Yorker" beglückwünscht, als der englische Romancier Julian Barnes einwilligte, regelmäßig für die Zeitschrift aus Großbritannien zu berichten: Da hatte man einen witzigen, intelligenten Erzähler, einen unideologischen Labour-Freund, dessen Überzeugungen dem demokratischen Ostküstenpublikum vertraut vorkommen würden und der seine transatlantische Leserschaft gewiß nicht mit Kostproben von europäischem Kulturhochmut verstimmte. Aber auch Barnes war von der Aufgabe, "Auslandskorrespondent im eigenen Land" zu sein, fasziniert. Für einen Erzähler bedeutet der Zwang, einen neuen Blick auf sein Land zu werfen, eine Chance und ein Training, die er niemals ausschlagen darf.
Barnes schreibt, als Knabe habe er eine Detektivzeitschrift abonniert, die ihre jungen Leser beständig mit neuen Suchaufträgen durch die Stadt schickte; wer etwa einen pferdegezogenen Gemüsekarren oder einen Portier mit Epauletten entdeckte und nachweisen konnte, bekam einen Preis. Der Auftrag des "New Yorker" sei ihm wie eine Wiederkehr dieser Aufgaben vorgekommen, nur daß es jetzt ein erfahrener Schriftsteller war, der die Lebensumstände seiner Landsleute mit dem Vergrößerungsglas betrachten sollte. Die jetzt auf deutsch erschienene Sammlung der "Briefe aus London", die Julian Barnes zwischen Ende 1989 und Ende 1994 geschrieben hat, vermittelt einen Eindruck von dem Ergebnis dieser Bemühungen.
Barnes hat seine Aufgabe vor allem in der Schilderung politischer Prozesse gesehen, genauer, in der Darstellung der Krisen der seit langem regierenden Konservativen Partei und der teils hilflosen und teils tapferen Operationen der oppositionellen Labour Party. Er hat sich seine Arbeit nicht leichtgemacht und eine imponierende, ja einschüchternde Faktenfülle zusammengetragen, um seinen Lesern ein Bild von den politischen Verwerfungen in seiner Heimat zu verschaffen. Amerikaner, so Barnes, wissen über Großbritannien vor allem, daß es etwa so groß wie der Staat Oregon ist. Da ist für einen gewissenhaften Mann natürlich eine große Anstrengung zu leisten. Woran liegt es, daß nach der Lektüre Zweifel aufkommen, ob diese Anstrengung sinnvoll war?
Als Angelsachse hat Julian Barnes gewiß eine angenehm kühle Einstellung zu seiner Schreiberei; für den "New Yorker" hatte er eine journalistische Aufgabe übernommen, und da war überhaupt nicht einzusehen, warum er sie nicht auch journalistisch lösen sollte. Der Erzähler, der Romancier, der Künstler Julian Barnes wurde professionell verleugnet, der Auslandskorrespondent Barnes wurde erfunden. Das bedeutet eine pflichtbewußte Selbstverleugnung, von der der Auftraggeber wahrscheinlich nicht geträumt hat. Warum verpflichtet man einen Nichtjournalisten als Korrespondenten? Vermutlich, weil man sich ein bißchen Farbe im Blatt davon verspricht: Szenen, Anekdoten, kleine, aus Fakten bestehende Geschichten.
Wer so etwas sucht, der findet nichts davon in den "Briefen aus London". Statt dessen wird der ganze Unrat der Zeitungsaktualität von gestern und vorgestern ausgebreitet, die letzte Verästelung längst vergessenen inner- und zwischenparteilichen Hickhacks. Barnes will kein Revolverjournalist sein. Die Desaster bei den Tories begleitet er mit melancholischer Schadenfreude, die Strategien der Labour Party mit banger Hoffnung. Er tratscht nicht. Das ist nobel und spricht für seinen Geschmack, aber saftiger macht es das Ragout, sein Londoner Parteien-Einerlei, wirklich nicht.
Dabei brauchte er gar nicht indiskret zu sein, sondern sich nur auf seine erzählerischen Gaben zu verlassen, denn arm an Gestalten, die sich zu schildern lohnte, ist sein Land nicht. Warum gelingt es ihm nicht, aus seinem gepflegten Abscheu vor Lady Thatcher Feuer zu schlagen? Ist es wirklich deren einziges Vergehen, daß sie eine "Zwei plus zwei ist vier"-Politik treibt? Sollte sie etwa eine "Zwei plus zwei ist fünf"-Politik propagieren? Ist es die Schuld von Lady Thatcher, daß "in Großbritannien nun alles nur noch für Geld getan wird"? Das wäre wahrhaftig eine Zerstörungstat, das flötenblasende britische Hirtenvolk mit dem Mammon zu verderben!
François Mauriac hat den verstorbenen Präsidenten Mitterrand eine Romanfigur genannt was ist Lady Thatcher? Welche literarische Form würde dieser fleischgewordenen Kastrationsdrohung, dieser viktorianischen Verblendung, diesem Gouvernantendenkmal aller Nationaltugenden gerecht? Ist sie vielleicht eine Gestalt des P. G. Wodehouse, des Schilderers der allmächtigen schreckenverbreitenden Erbtante? Bei Barnes werden wir darüber nichts erfahren, kaum daß auch nur das Profil der über allen seinen Berichten schwebenden Meduse sichtbar würde, als fürchte er sich, sie richtig anzusehen.
Die Übersetzer haben, um das Signal zu setzen, daß es sich hier um heitere Lektüre handele, das Wörtchen "alldieweil" gleichmäßig über den Text verstreut. Aber dies Signal täuscht. Die "Briefe" sind ein müdes Buch. Gegen Ende erst zeigt Barnes, was er getan hätte, wenn er sich der ganzen Aufgabe wirklich auf seine eigene Weise angenommen hätte. Da wird eine Rede des Labour-Kandidaten Tony Blair auf ihre Substantive reduziert, und das klingt so: "Verantwortung / Vertrauen / Vertrauen / Dienst / Hingabe / Würde / Stolz / Vertrauen / Mission / Hoffnung / Veränderung / Verantwortung / Mission / Geist / Gemeinschaft / Gemeinschaft / Stolz / Stolz / Sozialismus . . ." Für die Entwicklung dieses Verfahrens hat Barnes einen Preis verdient. Aber dieses kostbare Stück ist ein Solitär in dem langen Buch. Und Barnes läßt auch durchblicken, daß ihm das politische Korrespondententum keinen richtigen Spaß gemacht hat.
Seine Vorgängerin, Molly Panter-Downes, hat den "New Yorker" fast ein halbes Jahrhundert lang mit Berichten aus London beliefert. Bei Barnes waren es nur fünf Jahre, und ihm schien, als sei in dieser Zeit "eine Ermüdung und Monotonie im öffentlichen Leben zu spüren" gewesen. Es waren die Jahre, in denen die englische Regierung von der deutschen Wiedervereinigung überrascht wurde, in denen sie mit Bush im Irak Krieg führte und den serbischen Krieg gegen Kroatien und Bosnien unterstützte, die Jahre von Maastricht und des noch nicht gelösten Konfliktes um Nordirland. Fatale Jahre möglicherweise, aber wo ist die Monotonie? Sie ist in den liebenswürdig und witzig plappernden "Briefen aus London" zu Hause, die keines dieser die Stellung Englands in der Welt berührenden Ereignisse zur Kenntnis nimmt, obwohl von nichts anderem als von Politik die Rede ist. Oder sollte man darin am Ende ein künstlerisches Mittel sehen, um das Bild eines selbstvergessenen, quasi autistischen England zu zeichnen, das die Welt nicht mehr versteht und den Blick vom eigenen Schatten nicht lösen kann? Dann hätte der Romancier Barnes schließlich doch die Oberhand über den Korrespondenten erlangt.
Julian Barnes: "Briefe aus London". Aus dem Englischen übersetzt von Gertraude Krueger und Robin Cackett. Haffmans Verlag, Zürich 1995. 376 S., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Julian Barnes schreibt Briefe aus London / Von Martin Mosebach
Wahrscheinlich hat man sich in der Redaktion des "New Yorker" beglückwünscht, als der englische Romancier Julian Barnes einwilligte, regelmäßig für die Zeitschrift aus Großbritannien zu berichten: Da hatte man einen witzigen, intelligenten Erzähler, einen unideologischen Labour-Freund, dessen Überzeugungen dem demokratischen Ostküstenpublikum vertraut vorkommen würden und der seine transatlantische Leserschaft gewiß nicht mit Kostproben von europäischem Kulturhochmut verstimmte. Aber auch Barnes war von der Aufgabe, "Auslandskorrespondent im eigenen Land" zu sein, fasziniert. Für einen Erzähler bedeutet der Zwang, einen neuen Blick auf sein Land zu werfen, eine Chance und ein Training, die er niemals ausschlagen darf.
Barnes schreibt, als Knabe habe er eine Detektivzeitschrift abonniert, die ihre jungen Leser beständig mit neuen Suchaufträgen durch die Stadt schickte; wer etwa einen pferdegezogenen Gemüsekarren oder einen Portier mit Epauletten entdeckte und nachweisen konnte, bekam einen Preis. Der Auftrag des "New Yorker" sei ihm wie eine Wiederkehr dieser Aufgaben vorgekommen, nur daß es jetzt ein erfahrener Schriftsteller war, der die Lebensumstände seiner Landsleute mit dem Vergrößerungsglas betrachten sollte. Die jetzt auf deutsch erschienene Sammlung der "Briefe aus London", die Julian Barnes zwischen Ende 1989 und Ende 1994 geschrieben hat, vermittelt einen Eindruck von dem Ergebnis dieser Bemühungen.
Barnes hat seine Aufgabe vor allem in der Schilderung politischer Prozesse gesehen, genauer, in der Darstellung der Krisen der seit langem regierenden Konservativen Partei und der teils hilflosen und teils tapferen Operationen der oppositionellen Labour Party. Er hat sich seine Arbeit nicht leichtgemacht und eine imponierende, ja einschüchternde Faktenfülle zusammengetragen, um seinen Lesern ein Bild von den politischen Verwerfungen in seiner Heimat zu verschaffen. Amerikaner, so Barnes, wissen über Großbritannien vor allem, daß es etwa so groß wie der Staat Oregon ist. Da ist für einen gewissenhaften Mann natürlich eine große Anstrengung zu leisten. Woran liegt es, daß nach der Lektüre Zweifel aufkommen, ob diese Anstrengung sinnvoll war?
Als Angelsachse hat Julian Barnes gewiß eine angenehm kühle Einstellung zu seiner Schreiberei; für den "New Yorker" hatte er eine journalistische Aufgabe übernommen, und da war überhaupt nicht einzusehen, warum er sie nicht auch journalistisch lösen sollte. Der Erzähler, der Romancier, der Künstler Julian Barnes wurde professionell verleugnet, der Auslandskorrespondent Barnes wurde erfunden. Das bedeutet eine pflichtbewußte Selbstverleugnung, von der der Auftraggeber wahrscheinlich nicht geträumt hat. Warum verpflichtet man einen Nichtjournalisten als Korrespondenten? Vermutlich, weil man sich ein bißchen Farbe im Blatt davon verspricht: Szenen, Anekdoten, kleine, aus Fakten bestehende Geschichten.
Wer so etwas sucht, der findet nichts davon in den "Briefen aus London". Statt dessen wird der ganze Unrat der Zeitungsaktualität von gestern und vorgestern ausgebreitet, die letzte Verästelung längst vergessenen inner- und zwischenparteilichen Hickhacks. Barnes will kein Revolverjournalist sein. Die Desaster bei den Tories begleitet er mit melancholischer Schadenfreude, die Strategien der Labour Party mit banger Hoffnung. Er tratscht nicht. Das ist nobel und spricht für seinen Geschmack, aber saftiger macht es das Ragout, sein Londoner Parteien-Einerlei, wirklich nicht.
Dabei brauchte er gar nicht indiskret zu sein, sondern sich nur auf seine erzählerischen Gaben zu verlassen, denn arm an Gestalten, die sich zu schildern lohnte, ist sein Land nicht. Warum gelingt es ihm nicht, aus seinem gepflegten Abscheu vor Lady Thatcher Feuer zu schlagen? Ist es wirklich deren einziges Vergehen, daß sie eine "Zwei plus zwei ist vier"-Politik treibt? Sollte sie etwa eine "Zwei plus zwei ist fünf"-Politik propagieren? Ist es die Schuld von Lady Thatcher, daß "in Großbritannien nun alles nur noch für Geld getan wird"? Das wäre wahrhaftig eine Zerstörungstat, das flötenblasende britische Hirtenvolk mit dem Mammon zu verderben!
François Mauriac hat den verstorbenen Präsidenten Mitterrand eine Romanfigur genannt was ist Lady Thatcher? Welche literarische Form würde dieser fleischgewordenen Kastrationsdrohung, dieser viktorianischen Verblendung, diesem Gouvernantendenkmal aller Nationaltugenden gerecht? Ist sie vielleicht eine Gestalt des P. G. Wodehouse, des Schilderers der allmächtigen schreckenverbreitenden Erbtante? Bei Barnes werden wir darüber nichts erfahren, kaum daß auch nur das Profil der über allen seinen Berichten schwebenden Meduse sichtbar würde, als fürchte er sich, sie richtig anzusehen.
Die Übersetzer haben, um das Signal zu setzen, daß es sich hier um heitere Lektüre handele, das Wörtchen "alldieweil" gleichmäßig über den Text verstreut. Aber dies Signal täuscht. Die "Briefe" sind ein müdes Buch. Gegen Ende erst zeigt Barnes, was er getan hätte, wenn er sich der ganzen Aufgabe wirklich auf seine eigene Weise angenommen hätte. Da wird eine Rede des Labour-Kandidaten Tony Blair auf ihre Substantive reduziert, und das klingt so: "Verantwortung / Vertrauen / Vertrauen / Dienst / Hingabe / Würde / Stolz / Vertrauen / Mission / Hoffnung / Veränderung / Verantwortung / Mission / Geist / Gemeinschaft / Gemeinschaft / Stolz / Stolz / Sozialismus . . ." Für die Entwicklung dieses Verfahrens hat Barnes einen Preis verdient. Aber dieses kostbare Stück ist ein Solitär in dem langen Buch. Und Barnes läßt auch durchblicken, daß ihm das politische Korrespondententum keinen richtigen Spaß gemacht hat.
Seine Vorgängerin, Molly Panter-Downes, hat den "New Yorker" fast ein halbes Jahrhundert lang mit Berichten aus London beliefert. Bei Barnes waren es nur fünf Jahre, und ihm schien, als sei in dieser Zeit "eine Ermüdung und Monotonie im öffentlichen Leben zu spüren" gewesen. Es waren die Jahre, in denen die englische Regierung von der deutschen Wiedervereinigung überrascht wurde, in denen sie mit Bush im Irak Krieg führte und den serbischen Krieg gegen Kroatien und Bosnien unterstützte, die Jahre von Maastricht und des noch nicht gelösten Konfliktes um Nordirland. Fatale Jahre möglicherweise, aber wo ist die Monotonie? Sie ist in den liebenswürdig und witzig plappernden "Briefen aus London" zu Hause, die keines dieser die Stellung Englands in der Welt berührenden Ereignisse zur Kenntnis nimmt, obwohl von nichts anderem als von Politik die Rede ist. Oder sollte man darin am Ende ein künstlerisches Mittel sehen, um das Bild eines selbstvergessenen, quasi autistischen England zu zeichnen, das die Welt nicht mehr versteht und den Blick vom eigenen Schatten nicht lösen kann? Dann hätte der Romancier Barnes schließlich doch die Oberhand über den Korrespondenten erlangt.
Julian Barnes: "Briefe aus London". Aus dem Englischen übersetzt von Gertraude Krueger und Robin Cackett. Haffmans Verlag, Zürich 1995. 376 S., geb., 44,- DM.
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