Als Adorno seine Eltern im Juni 1939 in Havanna wiedersah, waren sie erst wenige Wochen auf Kuba. Oscar und Maria Wiesengrund hatten sich in letzter Minute aus Nazideutschland retten können. Von Kuba zogen sie Ende 1939 zunächst nach Florida und dann nach New York, wo sie von August 1940 an bis zum Ende ihres Lebens blieben. Erst mit Adornos Übersiedlung nach Kalifornien Ende 1941 berichten seine Briefe wieder und fast regelmäßig alle vierzehn Tage von der Arbeit und den Lebensumständen sowie den Freunden, Bekannten und Größen des damaligen Hollywood. Erzählungen von der gemeinsamen Arbeit mit Max Horkheimer, Thomas Mann und Hanns Eisler stehen neben Partyberichten, Clownereien mit Charlie Chaplin und unglücklichen Liebesaffären. Die Briefe bergen aber auch die ungestillte Sehnsucht nach Europa: So beginnt Adorno schon bei Kriegseintritt Amerikas, sich Gedanken über die Rückkehr zu machen. Die »Briefe an die Eltern« - die wohl offensten und persönlichsten, die er je geschrieben hat - eröffnen nicht nur einen Blick auf die Erfahrungen, die am Anfang der berühmten 'Minima Moralia' standen, sondern zeigen Adorno von einer bisher unbekannten, überaus persönlichen Seite.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.08.2003Die vielen Hansjürgens und Utes
Böser Nilpferdkönig: Adornos Briefe an seine Eltern
Gegenüber seinen Eltern genoß Adorno die Rolle des Kindes, des "Bubs", wie ihn seine Mutter in der Korrespondenz ansprach. Einem Kind trägt man nichts nach, man weiß, daß sein Verantwortungsgefühl noch begrenzt ist und daß zu seiner, mit Freud gesprochen: polymorph-perversen Triebausstattung der Sadismus nun einmal dazugehört. Zum brieflichen Beschnuppern der "Nilpferdstute" Maria Wiesengrund-Adorno, ihres Mannes Oscar Wiesengrund (im Briefwechsel meist "WK" genannt), des "Nilpferdkönigs Archibald", also Adornos, und der "Giraffe" - das ist Gretel Adorno - gehörten deshalb auch die regelmäßigen Ausfälle gegen die "Brut", das "Gesindel" der in Deutschland zurückgebliebenen Adorno-Verwandtschaft, besonders gegen den von Teddie mit grotesker Wut verfolgten Onkel Louis, genannt Louische, den er, wie er einmal schreibt, am liebsten seinem Hund als Braten vorgesetzt hätte.
Brieflicher Sadismus kann, wie man aus der Korrespondenz des britischen Romanciers Evelyn Waugh weiß, für den Leser im höchsten Maß erheiternd wirken: Die Entlastung von der inneren Zensur entlädt sich im befreiten Lachen. Hier aber gibt es Stellen, bei denen es dem Leser nicht wohl wird. Daß die emigrierte Familie, deren Oberhaupt nach dem Novemberpogrom von 1938 schwer gelitten hatte, auf die Niederlage Hitlers hoffte, ist selbstverständlich. Aber wenn Adorno am 26. September 1943 an die Eltern schreibt: "Fast muß man bitten, daß es nicht zu schnell geht: daß nicht ein politischer Zusammenbruch erfolgt, der den Deutschen die offene militärische Niederlage erspart und sie doch nicht so am eigenen Leibe fühlen läßt, was sie angerichtet haben" - dann mag auch den in der Wolle gefärbten Adorniten ein Schauder überlaufen. Der Brief fährt fort: "Ich habe nichts gegen die Rache als solche, wenn man auch nicht deren Exekutor sein möchte - nur gegen deren Rationalisierung als Recht und Gesetz. Also: möchten die Horst Güntherchen in ihrem Blut sich wälzen und die Inges den polnischen Bordellen überwiesen werden, mit Vorzugsscheinen für Juden." In Adornos Brief vom 7. April 1945 artikuliert sich die Befriedigung über das bevorstehende Ende des Nationalsozialismus in einer Sprache der spaßigen Grausamkeit: "In Deutschland hat die große allgemeine Turnerei eingesetzt, die ich mit ungeteilter Freude verfolge." Besonders fällt der Kontrast auf, wenn der Verfasser im gleichen Brief die eigenen Leiden beklagt: Kopfschmerzen und einen "Entzündungsherd im Hals-Nasensystem". Schließlich, am 1. Mai 1945: "Alles ist eingetreten, was man sich jahrelang gewünscht hat, das Land vermüllt, Millionen von Hansjürgens und Utes tot."
Daß es zuweilen um mehr als um infantilen Sadismus ging, nämlich um geschichtsphilosophische Gewißheiten des Marxisten Adorno, die sich mit den antipathischen Affekten vermischten, behauptet in einer noch unveröffentlichten Arbeit der Frankfurter Germanist Hartmut Scheible. Sein Beleg ist ein Brief Adornos an seine Eltern, in dem dieser über den emigrierten Violinvirtuosen Fritz Kreisler meldete: "In bezug auf Kreisler bin ich völlig Eurer Meinung. Er ist schon lange auf den Hund gekommen und hat jeden Maßstab verloren. Diese ganze Art des Musizierens gehört liquidiert, und man fragt sich manchmal, ob die deutsche Barbarei, die zu dieser Liquidation beiträgt, nicht hier wie in vielem anderen gegen den eigenen Willen einen sehr gerechten Urteilsspruch vollstreckt." Wem es hier nicht die Sprache verschlägt, der hat keine.
Ansonsten findet man eine angeregte und dichte Familienkonversation, in einem Stil, der, auch mit dem sehr guten Klatsch, eher an die Hofmannsthalschen Gesellschaftskomödien erinnert als an die Prosa, die man von Adorno kennt. Nur gelegentlich blitzt sie auf, etwa wenn der Philosoph am 28. August 1944 den Eltern meldet, es gehe ihm nun viel besser, "besonders wenn ich mich der Sonne exponiere".
LORENZ JÄGER
Theodor W. Adorno: "Briefe an die Eltern" 1939 bis 1951. Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. Abb., 576 S., geb., 39,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Böser Nilpferdkönig: Adornos Briefe an seine Eltern
Gegenüber seinen Eltern genoß Adorno die Rolle des Kindes, des "Bubs", wie ihn seine Mutter in der Korrespondenz ansprach. Einem Kind trägt man nichts nach, man weiß, daß sein Verantwortungsgefühl noch begrenzt ist und daß zu seiner, mit Freud gesprochen: polymorph-perversen Triebausstattung der Sadismus nun einmal dazugehört. Zum brieflichen Beschnuppern der "Nilpferdstute" Maria Wiesengrund-Adorno, ihres Mannes Oscar Wiesengrund (im Briefwechsel meist "WK" genannt), des "Nilpferdkönigs Archibald", also Adornos, und der "Giraffe" - das ist Gretel Adorno - gehörten deshalb auch die regelmäßigen Ausfälle gegen die "Brut", das "Gesindel" der in Deutschland zurückgebliebenen Adorno-Verwandtschaft, besonders gegen den von Teddie mit grotesker Wut verfolgten Onkel Louis, genannt Louische, den er, wie er einmal schreibt, am liebsten seinem Hund als Braten vorgesetzt hätte.
Brieflicher Sadismus kann, wie man aus der Korrespondenz des britischen Romanciers Evelyn Waugh weiß, für den Leser im höchsten Maß erheiternd wirken: Die Entlastung von der inneren Zensur entlädt sich im befreiten Lachen. Hier aber gibt es Stellen, bei denen es dem Leser nicht wohl wird. Daß die emigrierte Familie, deren Oberhaupt nach dem Novemberpogrom von 1938 schwer gelitten hatte, auf die Niederlage Hitlers hoffte, ist selbstverständlich. Aber wenn Adorno am 26. September 1943 an die Eltern schreibt: "Fast muß man bitten, daß es nicht zu schnell geht: daß nicht ein politischer Zusammenbruch erfolgt, der den Deutschen die offene militärische Niederlage erspart und sie doch nicht so am eigenen Leibe fühlen läßt, was sie angerichtet haben" - dann mag auch den in der Wolle gefärbten Adorniten ein Schauder überlaufen. Der Brief fährt fort: "Ich habe nichts gegen die Rache als solche, wenn man auch nicht deren Exekutor sein möchte - nur gegen deren Rationalisierung als Recht und Gesetz. Also: möchten die Horst Güntherchen in ihrem Blut sich wälzen und die Inges den polnischen Bordellen überwiesen werden, mit Vorzugsscheinen für Juden." In Adornos Brief vom 7. April 1945 artikuliert sich die Befriedigung über das bevorstehende Ende des Nationalsozialismus in einer Sprache der spaßigen Grausamkeit: "In Deutschland hat die große allgemeine Turnerei eingesetzt, die ich mit ungeteilter Freude verfolge." Besonders fällt der Kontrast auf, wenn der Verfasser im gleichen Brief die eigenen Leiden beklagt: Kopfschmerzen und einen "Entzündungsherd im Hals-Nasensystem". Schließlich, am 1. Mai 1945: "Alles ist eingetreten, was man sich jahrelang gewünscht hat, das Land vermüllt, Millionen von Hansjürgens und Utes tot."
Daß es zuweilen um mehr als um infantilen Sadismus ging, nämlich um geschichtsphilosophische Gewißheiten des Marxisten Adorno, die sich mit den antipathischen Affekten vermischten, behauptet in einer noch unveröffentlichten Arbeit der Frankfurter Germanist Hartmut Scheible. Sein Beleg ist ein Brief Adornos an seine Eltern, in dem dieser über den emigrierten Violinvirtuosen Fritz Kreisler meldete: "In bezug auf Kreisler bin ich völlig Eurer Meinung. Er ist schon lange auf den Hund gekommen und hat jeden Maßstab verloren. Diese ganze Art des Musizierens gehört liquidiert, und man fragt sich manchmal, ob die deutsche Barbarei, die zu dieser Liquidation beiträgt, nicht hier wie in vielem anderen gegen den eigenen Willen einen sehr gerechten Urteilsspruch vollstreckt." Wem es hier nicht die Sprache verschlägt, der hat keine.
Ansonsten findet man eine angeregte und dichte Familienkonversation, in einem Stil, der, auch mit dem sehr guten Klatsch, eher an die Hofmannsthalschen Gesellschaftskomödien erinnert als an die Prosa, die man von Adorno kennt. Nur gelegentlich blitzt sie auf, etwa wenn der Philosoph am 28. August 1944 den Eltern meldet, es gehe ihm nun viel besser, "besonders wenn ich mich der Sonne exponiere".
LORENZ JÄGER
Theodor W. Adorno: "Briefe an die Eltern" 1939 bis 1951. Herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. Abb., 576 S., geb., 39,90 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.09.2003Gesang des Nilpferds
Theodor W. Adorno in den Briefen an seine Eltern
Im Jahre 1939 konnten sich Maria und Oscar Wiesengrund in letzter Minute vor den Nazis nach Kuba retten. Im Juni sahen sie ihren Sohn Theodor in Havana wieder, der „humanen romanischen Stadt”, die Adorno in der „barbarischen Halbzivilisation” der USA später so sehr vermissen sollte. Dann übersiedelten sie nach Florida, schließlich nach New York. Adorno und seine Frau Gretel, die seit 1941 in Los Angeles wohnten, hielten engen Kontakt mit den Eltern. Die letzten, 1951 geschriebenen Briefe an die verwitwete Mutter stammen aus dem kriegszerstörten Frankfurt, wohin Adorno und das Institut für Sozialforschung auf Einladung der Universität zurückgekehrt waren: Fremde in der Heimat.
Am 10. Februar 1943 bittet Adorno seine Mutter, sich um ihn keine Sorgen zu machen: „Ich bin ein Nilpferd mit einem zähen Leben, erst kommt die dicke Haut, dann kommt die Speckschicht, durch die es im Wasser schwimmen kann, dann kommen die riesigen Fleischmassen und dann erst kommt die Substanz.” Adorno unterschreibt diesen Brief nicht als „Nilpferdskönig”, sondern als „Euer altes Kind Teddie”, seine Mutter aber, die Sängerin Maria Calvelli-Adorno alias „Marinumba von Bauchschleifer”, wird von ihm als „meine liebe Wundernilstute” angeredet, um die der Sohn in der Hoffnung herumkriecht, „von Deinen unbeschreiblich großen Nüstern wieder beschnuppert zu werden”.
Die Briefe, die das alte Kind Teddie und seine Frau Gretel, die „Giraffe” oder „Gazelle”, an die Eltern Adornos richten, klingen, als ob sämtliche Paarhufer im Zoo auf einmal die Schreibwut gepackt hätte. Die Menagerie dieser „Hottilein und Rossilein”, Giraffen, Gazellen und Gretelpferde betrachtet der Leser erst amüsiert, dann irritiert und schließlich zunehmend gelangweilt. Er kann die Mitteilung des AdornoArchivs verschmerzen, dass sich das „Lied vom Warzenschwein” im Nachlass des Philosophen nicht mehr auffinden lässt. Er sieht tiefe Weisheit darin, dass die Väter der Kritischen Theorie, als sie sich einmal Indianernamen gaben, Max Horkheimer als Häuptling „Weiche Birne” und Adorno als „Großes Rindvieh” bezeichneten. So vertrottelt, schrieb Adorno einmal, sei er nun geworden, dass man ihm eine Professur in Oxford nicht länger vorenthalten könne.
Das alles soll nach Scherz, Satire und Ironie klingen – und wird vom Briefschreiber doch immer wieder mit tieferer Bedeutung versehen. Unter die dicke Haut des Nilpferdes schlüpft er nicht ohne Grund: Hippopotamus amphibius ist ein Kompensationstier, das die Spannung zwischen privatem und öffentlichem Leben anderen gegenüber stets beklagt und innerlich genießt. Zudem ist das Nilpferd ein Allerweltswesen, das zu Wasser wie auf dem Lande heimisch ist, Leviathan und Behemoth zugleich, im Wasser eher träge, doch zu überraschend schnellen Reaktionen fähig, sobald es Land betritt.
Die Nilpferd-Metapher verstärkt den Eindruck, Adorno sei immer ein alter Mann gewesen. Man darf aber nicht vergessen, dass die „Dialektik der Aufklärung” von jungen Männern geschrieben wurde, die der von den Nazis verursachte Zivilisationsbruch in frühe Verzweiflung und einen Pessimismus zwang, der in der Regel dem Alter zusteht. Als Teddie, das „alte Kind”, seinem Vater zum 75. Geburtstag gratuliert – er selbst ist 41 Jahre alt – wird ihm plötzlich klar, dass „wir der heute heraufziehenden, infantil-kollektivistischen Welt gegenüber längst eine Generation geworden sind. Es liegt etwas tief Tröstliches darin.” Über diesem Satz vergisst der Leser die Mühe, die es ihm bereitet hat, sich durch nicht enden wollende Seiten von Verwandtenklatsch hindurchzuarbeiten, dessen sadistische Feinheiten nur einem Familienmitglied verständlich sind.
Die amerikanischen Briefe Adornos an seine Eltern sind Dokumente einer Sehnsucht nach Europa, die selbst Hitler den Emigranten nicht austreiben konnte. Kaum in der Neuen Welt angekommen, fühlte Adorno sich bereits als „amerikamüdes Kind”, das sich trotzig den Versuchungen der Drugstore-Zivilisation zu entziehen versuchte. Triumphierend berichtet er zu Weihnachten den Eltern, man habe keinen Turkey, sondern „eine gute richtige Gans” verspeist und bittet darum, im Falle seines Todes seinen Leichnam nach Deutschland zu überführen, weil er den jüngsten Tag nicht in Amerika erleben möchte. Er leidet unter dem latenten Antisemitismus der Amerikaner – und schimpft aus Leibeskräften auf die „Judenbrut”, nicht nur im Umkreis der Emigranten.
Mit der Übersiedlung nach Kalifornien und dem Kriegseintritt der USA ändert sich die Stimmung. Zwar spottet Adorno am Anfang noch über ein Land, in dem alle Orangenhaine im Besitz von „Herrn Sunkist” sind, aber dann überwältigt ihn die Schönheit Kaliforniens. Schon in New York hatte er von einem „zwar hässlichen, von Drugstores, Hot Dogs und Autos bewohnten, aber im Augenblick noch einigermaßen sicheren Boden” gesprochen, doch nun werden Gretel und er zu begeisterten Automobilisten und berichten den Eltern stolz von Touren ans Meer in ihrem Plymouth, die so lange dauern wie früher die Ausflüge von Frankfurt nach Amorbach.
Nach Pearl Harbour werden Adorno und seine Frau von Zwangsevakuierung bedroht. Mit den Ausflügen ist es vorbei, abends kontrolliert das FBI, ob die Emigranten zu Hause sind. Und doch wird seine Anhänglichkeit an Amerika immer stärker, je mehr die Geschichte den „Charakter der Katastrophe” annimmt. Adorno entdeckt unter Katastrophenbedingungen die kostbare Substanz der Demokratie. Die Naturalisierung – endlich gelingt sie auch den Eltern – wird als Befreiung empfunden.
Die Familienbriefe Adornos – eigentlich sind es Briefe Adornos und seiner Frau Gretel und es ist unverständlich, dass nicht beide als Autoren genannt werden – zwingen den Leser in die unangenehme Rolle des Voyeurs. Den Familienklatsch und die infantilen Albernheiten unter Anverwandten kann man leicht vergessen. Schwer zu vergessen sind unerträgliche Passagen, in denen Adorno verlangt, die Musik eines Fritz Kreisler gehöre „liquidiert” und es möchten nach dem Sturz Hitlers „die Horst Güntherchen in ihrem Blut sich wälzen, und die Inges den polnischen Bordellen überwiesen werden, mit Vorzugsscheinen für die Jude”. Als Deutschland, so glaubt er, mit dem Ende des Krieges als Subjekt aus der Weltgeschichte ausscheidet wie Karthago nach dem Zweiten Punischen Krieg, freut er sich, dass dabei „Millionen von Hansjürgen und Utes” ums Leben gekommen sind. – Man wagt nicht zu denken, wie Adorno die eigenen Briefe gedeutet hätte. An seinem 100. Geburtstag bedauert der Leser, zuviel von Adorno gelesen zu haben.
WOLF LEPENIES
THEODOR W. ADORNO: Briefe an die Eltern 1939-1951. Hrsg. von Ch. Gödde und H. Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003. 569 Seiten, 39,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Theodor W. Adorno in den Briefen an seine Eltern
Im Jahre 1939 konnten sich Maria und Oscar Wiesengrund in letzter Minute vor den Nazis nach Kuba retten. Im Juni sahen sie ihren Sohn Theodor in Havana wieder, der „humanen romanischen Stadt”, die Adorno in der „barbarischen Halbzivilisation” der USA später so sehr vermissen sollte. Dann übersiedelten sie nach Florida, schließlich nach New York. Adorno und seine Frau Gretel, die seit 1941 in Los Angeles wohnten, hielten engen Kontakt mit den Eltern. Die letzten, 1951 geschriebenen Briefe an die verwitwete Mutter stammen aus dem kriegszerstörten Frankfurt, wohin Adorno und das Institut für Sozialforschung auf Einladung der Universität zurückgekehrt waren: Fremde in der Heimat.
Am 10. Februar 1943 bittet Adorno seine Mutter, sich um ihn keine Sorgen zu machen: „Ich bin ein Nilpferd mit einem zähen Leben, erst kommt die dicke Haut, dann kommt die Speckschicht, durch die es im Wasser schwimmen kann, dann kommen die riesigen Fleischmassen und dann erst kommt die Substanz.” Adorno unterschreibt diesen Brief nicht als „Nilpferdskönig”, sondern als „Euer altes Kind Teddie”, seine Mutter aber, die Sängerin Maria Calvelli-Adorno alias „Marinumba von Bauchschleifer”, wird von ihm als „meine liebe Wundernilstute” angeredet, um die der Sohn in der Hoffnung herumkriecht, „von Deinen unbeschreiblich großen Nüstern wieder beschnuppert zu werden”.
Die Briefe, die das alte Kind Teddie und seine Frau Gretel, die „Giraffe” oder „Gazelle”, an die Eltern Adornos richten, klingen, als ob sämtliche Paarhufer im Zoo auf einmal die Schreibwut gepackt hätte. Die Menagerie dieser „Hottilein und Rossilein”, Giraffen, Gazellen und Gretelpferde betrachtet der Leser erst amüsiert, dann irritiert und schließlich zunehmend gelangweilt. Er kann die Mitteilung des AdornoArchivs verschmerzen, dass sich das „Lied vom Warzenschwein” im Nachlass des Philosophen nicht mehr auffinden lässt. Er sieht tiefe Weisheit darin, dass die Väter der Kritischen Theorie, als sie sich einmal Indianernamen gaben, Max Horkheimer als Häuptling „Weiche Birne” und Adorno als „Großes Rindvieh” bezeichneten. So vertrottelt, schrieb Adorno einmal, sei er nun geworden, dass man ihm eine Professur in Oxford nicht länger vorenthalten könne.
Das alles soll nach Scherz, Satire und Ironie klingen – und wird vom Briefschreiber doch immer wieder mit tieferer Bedeutung versehen. Unter die dicke Haut des Nilpferdes schlüpft er nicht ohne Grund: Hippopotamus amphibius ist ein Kompensationstier, das die Spannung zwischen privatem und öffentlichem Leben anderen gegenüber stets beklagt und innerlich genießt. Zudem ist das Nilpferd ein Allerweltswesen, das zu Wasser wie auf dem Lande heimisch ist, Leviathan und Behemoth zugleich, im Wasser eher träge, doch zu überraschend schnellen Reaktionen fähig, sobald es Land betritt.
Die Nilpferd-Metapher verstärkt den Eindruck, Adorno sei immer ein alter Mann gewesen. Man darf aber nicht vergessen, dass die „Dialektik der Aufklärung” von jungen Männern geschrieben wurde, die der von den Nazis verursachte Zivilisationsbruch in frühe Verzweiflung und einen Pessimismus zwang, der in der Regel dem Alter zusteht. Als Teddie, das „alte Kind”, seinem Vater zum 75. Geburtstag gratuliert – er selbst ist 41 Jahre alt – wird ihm plötzlich klar, dass „wir der heute heraufziehenden, infantil-kollektivistischen Welt gegenüber längst eine Generation geworden sind. Es liegt etwas tief Tröstliches darin.” Über diesem Satz vergisst der Leser die Mühe, die es ihm bereitet hat, sich durch nicht enden wollende Seiten von Verwandtenklatsch hindurchzuarbeiten, dessen sadistische Feinheiten nur einem Familienmitglied verständlich sind.
Die amerikanischen Briefe Adornos an seine Eltern sind Dokumente einer Sehnsucht nach Europa, die selbst Hitler den Emigranten nicht austreiben konnte. Kaum in der Neuen Welt angekommen, fühlte Adorno sich bereits als „amerikamüdes Kind”, das sich trotzig den Versuchungen der Drugstore-Zivilisation zu entziehen versuchte. Triumphierend berichtet er zu Weihnachten den Eltern, man habe keinen Turkey, sondern „eine gute richtige Gans” verspeist und bittet darum, im Falle seines Todes seinen Leichnam nach Deutschland zu überführen, weil er den jüngsten Tag nicht in Amerika erleben möchte. Er leidet unter dem latenten Antisemitismus der Amerikaner – und schimpft aus Leibeskräften auf die „Judenbrut”, nicht nur im Umkreis der Emigranten.
Mit der Übersiedlung nach Kalifornien und dem Kriegseintritt der USA ändert sich die Stimmung. Zwar spottet Adorno am Anfang noch über ein Land, in dem alle Orangenhaine im Besitz von „Herrn Sunkist” sind, aber dann überwältigt ihn die Schönheit Kaliforniens. Schon in New York hatte er von einem „zwar hässlichen, von Drugstores, Hot Dogs und Autos bewohnten, aber im Augenblick noch einigermaßen sicheren Boden” gesprochen, doch nun werden Gretel und er zu begeisterten Automobilisten und berichten den Eltern stolz von Touren ans Meer in ihrem Plymouth, die so lange dauern wie früher die Ausflüge von Frankfurt nach Amorbach.
Nach Pearl Harbour werden Adorno und seine Frau von Zwangsevakuierung bedroht. Mit den Ausflügen ist es vorbei, abends kontrolliert das FBI, ob die Emigranten zu Hause sind. Und doch wird seine Anhänglichkeit an Amerika immer stärker, je mehr die Geschichte den „Charakter der Katastrophe” annimmt. Adorno entdeckt unter Katastrophenbedingungen die kostbare Substanz der Demokratie. Die Naturalisierung – endlich gelingt sie auch den Eltern – wird als Befreiung empfunden.
Die Familienbriefe Adornos – eigentlich sind es Briefe Adornos und seiner Frau Gretel und es ist unverständlich, dass nicht beide als Autoren genannt werden – zwingen den Leser in die unangenehme Rolle des Voyeurs. Den Familienklatsch und die infantilen Albernheiten unter Anverwandten kann man leicht vergessen. Schwer zu vergessen sind unerträgliche Passagen, in denen Adorno verlangt, die Musik eines Fritz Kreisler gehöre „liquidiert” und es möchten nach dem Sturz Hitlers „die Horst Güntherchen in ihrem Blut sich wälzen, und die Inges den polnischen Bordellen überwiesen werden, mit Vorzugsscheinen für die Jude”. Als Deutschland, so glaubt er, mit dem Ende des Krieges als Subjekt aus der Weltgeschichte ausscheidet wie Karthago nach dem Zweiten Punischen Krieg, freut er sich, dass dabei „Millionen von Hansjürgen und Utes” ums Leben gekommen sind. – Man wagt nicht zu denken, wie Adorno die eigenen Briefe gedeutet hätte. An seinem 100. Geburtstag bedauert der Leser, zuviel von Adorno gelesen zu haben.
WOLF LEPENIES
THEODOR W. ADORNO: Briefe an die Eltern 1939-1951. Hrsg. von Ch. Gödde und H. Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003. 569 Seiten, 39,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Vorsichtig ist Elisabeth von Thadden an die Briefe von Theodor Adorno an die Eltern herangegangen, nach der "merkwürdig anrührenden" Lektüre aber würdigt sie die Ausgabe als "die Neuerscheinung des Jubiläumsjahrs, die ein neues Bild zeichnet". Das liege einerseits natürlich an Adorno selbst und seinen "eindrücklichen" bis "traurig-absurden" Briefen; die Thadden übrigens von jeglichem Kitschverdacht freispricht. Für sie ist die Verwendung von Tiernamen für Bekannte mehr ein "Spiel mit Umbenennungen" als infantiles Gehabe. Die editorische Leistung von Christoph Lödde und Henri Lonitz vervollständigt den guten Eindruck der Rezensentin. Sie lobt die "minutiöse Kommentierung", die "im Privaten angemessen diskret", im biografischen Zusammenhang allerdings leider "zu knapp" ausfalle.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»... ein intellektuelles Vergnügen.« Wolfgang Hellmich Neue Zürcher Zeitung 20210216
»Durch diesen nahen, kaum je unterbrochenen Austausch ist der umfangreiche Briefwechsel, der jetzt in einer großartigen Edition von Claudia Maurer Zenck erscheint, ein fast unerschöpfliches, so ernsthaftes wie unterhaltsames Dokument im Sachlichen wie im Privaten.« Wolfgang Matz Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230728