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Im März 1925 zieht der 21-jährige Dr. Theodor Wiesengrund für einige Monate nach Wien, um seine kompositorische Ausbildung bei Alban Berg fortzusetzen. Dieser macht ihn mit dem Wiener Streichquartett und seinem 28-jährigen Primarius Rudolf Kolisch bekannt, einem der wichtigsten Interpreten der Neuen Musik der Schönberg-Schule. Adorno und Kolisch werden schnell Freunde und beginnen einen ausgedehnten Briefwechsel, in dem sie intensiv über musikalische Themen - Komposition, Analyse, Reproduktion - diskutieren, nicht zuletzt über das gemeinsame (aber nie realisierte) Projekt einer »Theorie der…mehr

Produktbeschreibung
Im März 1925 zieht der 21-jährige Dr. Theodor Wiesengrund für einige Monate nach Wien, um seine kompositorische Ausbildung bei Alban Berg fortzusetzen. Dieser macht ihn mit dem Wiener Streichquartett und seinem 28-jährigen Primarius Rudolf Kolisch bekannt, einem der wichtigsten Interpreten der Neuen Musik der Schönberg-Schule. Adorno und Kolisch werden schnell Freunde und beginnen einen ausgedehnten Briefwechsel, in dem sie intensiv über musikalische Themen - Komposition, Analyse, Reproduktion - diskutieren, nicht zuletzt über das gemeinsame (aber nie realisierte) Projekt einer »Theorie der musikalischen Aufführung«. Aber auch Privates kommt ausführlich zur Sprache.
Sorgfältig ediert, ausführlich kommentiert und ergänzt durch einen reichhaltigen Materialienteil mit einigen bislang unveröffentlichten Texten und Dokumenten, liegt dieser Briefwechsel nun erstmals vollständig vor. Er gewährt Einblick in eine Beziehung, die für die Geschichte und die Aufführungstheorie der Neuen Musik des 20. Jahrhunderts von einzigartiger Bedeutung ist, in der sich aber auch die Zeitläufe und ihre Verwerfungen spiegeln. Eine Korrespondenz, die nicht nur für die musikwissenschaftliche Forschung von überragender Relevanz ist.

»Deinen Entschluss, wieder zu komponieren, beglückwünsche ich aufs herzlichste. Gott sei Dank, daß Du von der beinahe schon fixen Idee der Habilitation ablässt und daß Du nicht zum Referat gelangt bist.« Kolisch an Adorno, 1928

»Wenn einer in der Welt mich auch in diesen extremsten Schichten versteht, dann bist Du es.« Adorno an Kolisch, 1969

Autorenporträt
Theodor W. Adorno wurde am 11. September 1903 in Frankfurt am Main geboren und starb am 06. August 1969 während eines Ferienaufenthalts in Visp/Wallis an den Folgen eines Herzinfarkts. Von 1921 bis 1923 studierte er in Frankfurt Philosophie, Soziologie, Psychologie und Musikwissenschaft und promovierte 1924 über Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie. Bereits während seiner Schulzeit schloss er Freundschaft mit Siegfried Kracauer und während seines Studiums mit Max Horkheimer und Walter Benjamin. Mit ihnen zählt Adorno zu den wichtigsten Vertretern der 'Frankfurter Schule', die aus dem Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt hervorging. Sämtliche Werke Adornos sind im Suhrkamp Verlag erschienen.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Wolfgang Matz erlebt Adorno als Musiker in dem von Claudia Maurer Zenck "großartig" herausgegebenen Briefwechsel zwischen Theodor Adorno und dem Violinisten Rudolf Kolisch. Einzigartig erscheint ihm diese Korrespondenz wegen ihrer Dauer, ihrer Ernsthaftigkeit in Sachen Musik und aufgrund ihres Unterhaltunsgwertes. Letzterer ist für Matz unter anderem darin begründet, dass Adorno hier so viel Intimes preisgibt wie sonst nirgends, etwa über erotische Niederlagen. Doch auch die kritische Diskussion von Boulez und Stockhausen, Schubert und Mozart kommt nicht zu kurz, verspricht der Rezensent. Der Band scheint Matz den Briefwechseln Adornos mit Krenek und anderen Musikern auf jeden Fall ebenbürtig.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Durch diesen nahen, kaum je unterbrochenen Austausch ist der umfangreiche Briefwechsel, der jetzt in einer großartigen Edition von Claudia Maurer Zenck erscheint, ein fast unerschöpfliches, so ernsthaftes wie unterhaltsames Dokument im Sachlichen wie im Privaten.« Wolfgang Matz Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230728

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2023

In der Partitur ist alles enthalten

Musik verknüpft mit Lebensgeschichten: Der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Rudolf Kolisch.

Zum Jahresende 1937 - man hatte sich auf Konzert- und Vortragsreisen wieder kreuz und quer verpasst - schickt Theodor W. Adorno an seinen Freund Rudolf Kolisch einen sehnsüchtigen Seufzer, der schon etwas verrät von der Ortlosigkeit der beginnenden Emigrationszeit: "Ich bin wirklich neugierig, wo wir uns das nächste Mal versäumen, meine aber, Hawai wäre ein recht geeigneter Platz. Vielleicht kann man es mit dem Konzert kombinieren, bei dem Du Dir das D-moll-Quartett von Schubert lediglich vorstellst." In der skurrilen Idee, das berühmte Kolisch-Quartett stelle sich "Der Tod und das Mädchen" vierzig Minuten lang auf einer Bühne nur still vor, entdeckt das postume Publikum bereits die voravantgardistische Ahnung von Cages "4'33". Das aber ist wiederum nicht nur witzig, denn bei beiden Briefpartnern findet sich immer wieder der Gedanke, das tiefste Verständnis von Musik eröffne sich nicht im Hören, sondern beim Lesen der Partitur. Nicht erwogen wird allerdings, dass derartige Konzerte dem Freund doch recht schnell die berufliche Lebensgrundlage entzogen hätten.

Im März 1925 hatten sie sich kennengelernt. Gerade war der einundzwanzigjährige Adorno nach Wien gekommen, um bei Alban Berg Komposition zu studieren. Der nimmt ihn mit zu einem Kolisch-Abend der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik, ein paar Tage später dann zu einer Privataufführung von Schönbergs d-Moll- und Beethovens f-Moll-Quartett in Kolischs Wohnung. "So etwas, das gibt es auf der ganzen Welt nicht noch einmal, das ist eine vollkommen einzigartige Sache" - die begeisterte Reaktion begründet eine dauerhafte Freundschaft, die vielleicht längste und persönlichste in Adornos Leben, und sie dauert bis zu seinem Tod. Der sieben Jahre jüngere "Rudi" wird seinen "Teddie" neun Jahre überleben.

Durch diesen nahen, kaum je unterbrochenen Austausch ist der umfangreiche Briefwechsel, der jetzt in einer großartigen Edition von Claudia Maurer Zenck erscheint, ein fast unerschöpfliches, so ernsthaftes wie unterhaltsames Dokument im Sachlichen wie im Privaten. Für den Biographen schon vorab: Nirgendwo hat Adorno so viel Persönliches, ja Intimes preisgegeben wie gegenüber Kolisch, der denn auch einer der ganz wenigen war, die der formstrenge Dialektiker duzte. So stehen neben Resümees der musikalischen Aktivitäten regelmäßig Lageberichte von der "erotischen Front", über kurzfristige Erfolge und schwere Niederlagen, begleitet von gegenseitigen Ratschlägen oder ratlosem Mitgefühl. Wenn Kolisch aber seinem deprimierten Freund schließlich gar eine Kur in Wilhelm Reichs Orgon-Akkumulator empfiehlt, dann geht es dem Philosophen denn doch zu weit, und der Leser befindet sich auf sehr abseitigem Terrain der Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts - der große Reiz dieser Privatissima liegt auch darin, dass er solche bizarren, aber doch zeittypischen Regionen sichtbar macht.

Auch die Musik ist durchweg verknüpft mit Lebensgeschichte. Kolisch arbeitet als professioneller Musiker, Adorno verfolgt seine akademische Karriere, obwohl die Sehnsucht nach dem freien Komponistenleben immer spürbar bleibt. Die Emigration bringt beide in die USA; nach dem Krieg geht Adorno zurück nach Frankfurt, und das Bemühen, auch für Kolisch einen Neuanfang in Europa möglich zu machen, zieht sich über Jahre durch die Briefe. Vergeblich - auch in Wien bekundet niemand besonderes Interesse an der Rückkehr von Emigranten. Doch man schreibt sich, spricht sich, trifft sich: Vor allem die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik unter ihrem Leiter Wolfgang Steinecke werden zum Anziehungspunkt für Aufführungen, Vorträge, Diskussionen, für produktiven und unproduktiven Streit zwischen Atonalität, Zwölftonmusik und der neuen Serialität von Luigi Nono (der "immer schlechter komponiert"), Stockhausen ("Eindruck ungeheuren Ernstes"), Boulez ("Zwölf-Töne-Wüteriche im Stile von Boulez, die nun wirklich die Musik zugunsten der stursten Rationalisierung abschaffen möchten"). So wünscht Adorno (von dem die Kommentare stammen) sich inständig seinen Freund herbei, träumt von einer gemeinsamen "heilsamen Diktatur" über die Neue Musik. Noch origineller wird dieser ohnehin originelle Anspruch, wenn man erfährt, aus welchem anderen Briefwechsel Adorno ihn aparterweise entleiht: 1892 hatte Stefan George ausgerechnet diesen Machtergreifungsplan dem jungen Hugo von Hofmannsthal angetragen - der daraufhin schwer verschreckt Reißaus nahm. Adorno hat sich die Sache gemerkt.

Gerade die große Gemeinsamkeit, die aus solchen Herrschaftsvisionen, wie ironisch auch immer, spricht, erlaubt andrerseits die kritische Diskussion zwischen den Freunden. Wenn Kolischs Aufführungspraxis für Adorno zu der "einzigartigen Sache" wurde, die er sofort verstand und ein für allemal zu der seinen machte, dann durch das nicht kulinarische, sondern analytische Spiel; ein Spiel, das musikalische Formen, Strukturen, Verläufe hörbar werden lässt, in aller Schönheit musikalische Technik transparent macht. Und dies bei den großen Werken der Neuen Musik, vor allem Schönberg und Berg, nicht anders als bei den "Klassikern" Mozart, Schubert, Beethoven.

Aus dieser breiten praktischen Erfahrung heraus entwickelte Kolisch seine wohl folgenreichste Theorie: Sein epochaler Aufsatz "Tempo und Charakter in Beethovens Musik" versucht, aus musikalischen Grundcharakteren in allen Werken Beethovens gültige Tempovorstellungen zu entwickeln. Der Dissens zwischen Adorno und Kolisch ist äußerst sprechend für das Verständnis von Kompositions- und Aufführungspraxis. Adorno stimmt der analytischen Methode natürlich zu, aber gerade er, der Theoretiker, befürchtet dann doch eine allzu mechanische Katalogisierung von kompositorischen Figuren und dadurch einen Verlust an interpretatorischer Freiheit. Besonders in solchen Disputen folgt man mit wahrer Spannung den Argumenten, erfährt dabei viel Konkretes über Probleme musikalischer Aufführung, ganz jenseits von Starkult und verklärtem Virtuosentum.

Der neue Band tritt an die Seite von Adornos Briefwechseln mit Musikern wie Ernst Krenek und Eduard Steuermann (F.A.Z. vom 26. November 2022); unter diesen ist er sicher der beeindruckendste. Die Bedeutung der Musik für Adorno war natürlich durch seine Schriften zu Schönberg, Wagner, Mahler und zur Neuen Musik immer schon bekannt. Dennoch, die Editionen der letzten Jahre verlangen noch einmal ein Umdenken. Adorno war nicht nur ein Philosoph, der auch über Musik schrieb; er verstand sich selbst als Musiker, und die Briefe zeigen, dass er genau das lebenslang blieb. Alban Berg hatte seinem jungen Schüler 1926 prophezeit, er werde sich schließlich "für Kant oder Beethoven entscheiden müssen", also für den Philosophen oder den Musiker. Dieser so ungeheuer reiche Briefwechsel zeigt, er hat sich der Entscheidung trotz allem verweigert - und das macht die Lektüre so einzigartig. WOLFGANG MATZ

Theodor W. Adorno/

Rudolf Kolisch: "Briefwechsel 1926-1969".

Hrsg. von Claudia Maurer Zenck. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 800 S., geb., 68,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.09.2003

Gesang des Nilpferds
Theodor W. Adorno in den Briefen an seine Eltern
Im Jahre 1939 konnten sich Maria und Oscar Wiesengrund in letzter Minute vor den Nazis nach Kuba retten. Im Juni sahen sie ihren Sohn Theodor in Havana wieder, der „humanen romanischen Stadt”, die Adorno in der „barbarischen Halbzivilisation” der USA später so sehr vermissen sollte. Dann übersiedelten sie nach Florida, schließlich nach New York. Adorno und seine Frau Gretel, die seit 1941 in Los Angeles wohnten, hielten engen Kontakt mit den Eltern. Die letzten, 1951 geschriebenen Briefe an die verwitwete Mutter stammen aus dem kriegszerstörten Frankfurt, wohin Adorno und das Institut für Sozialforschung auf Einladung der Universität zurückgekehrt waren: Fremde in der Heimat.
Am 10. Februar 1943 bittet Adorno seine Mutter, sich um ihn keine Sorgen zu machen: „Ich bin ein Nilpferd mit einem zähen Leben, erst kommt die dicke Haut, dann kommt die Speckschicht, durch die es im Wasser schwimmen kann, dann kommen die riesigen Fleischmassen und dann erst kommt die Substanz.” Adorno unterschreibt diesen Brief nicht als „Nilpferdskönig”, sondern als „Euer altes Kind Teddie”, seine Mutter aber, die Sängerin Maria Calvelli-Adorno alias „Marinumba von Bauchschleifer”, wird von ihm als „meine liebe Wundernilstute” angeredet, um die der Sohn in der Hoffnung herumkriecht, „von Deinen unbeschreiblich großen Nüstern wieder beschnuppert zu werden”.
Die Briefe, die das alte Kind Teddie und seine Frau Gretel, die „Giraffe” oder „Gazelle”, an die Eltern Adornos richten, klingen, als ob sämtliche Paarhufer im Zoo auf einmal die Schreibwut gepackt hätte. Die Menagerie dieser „Hottilein und Rossilein”, Giraffen, Gazellen und Gretelpferde betrachtet der Leser erst amüsiert, dann irritiert und schließlich zunehmend gelangweilt. Er kann die Mitteilung des AdornoArchivs verschmerzen, dass sich das „Lied vom Warzenschwein” im Nachlass des Philosophen nicht mehr auffinden lässt. Er sieht tiefe Weisheit darin, dass die Väter der Kritischen Theorie, als sie sich einmal Indianernamen gaben, Max Horkheimer als Häuptling „Weiche Birne” und Adorno als „Großes Rindvieh” bezeichneten. So vertrottelt, schrieb Adorno einmal, sei er nun geworden, dass man ihm eine Professur in Oxford nicht länger vorenthalten könne.
Das alles soll nach Scherz, Satire und Ironie klingen – und wird vom Briefschreiber doch immer wieder mit tieferer Bedeutung versehen. Unter die dicke Haut des Nilpferdes schlüpft er nicht ohne Grund: Hippopotamus amphibius ist ein Kompensationstier, das die Spannung zwischen privatem und öffentlichem Leben anderen gegenüber stets beklagt und innerlich genießt. Zudem ist das Nilpferd ein Allerweltswesen, das zu Wasser wie auf dem Lande heimisch ist, Leviathan und Behemoth zugleich, im Wasser eher träge, doch zu überraschend schnellen Reaktionen fähig, sobald es Land betritt.
Die Nilpferd-Metapher verstärkt den Eindruck, Adorno sei immer ein alter Mann gewesen. Man darf aber nicht vergessen, dass die „Dialektik der Aufklärung” von jungen Männern geschrieben wurde, die der von den Nazis verursachte Zivilisationsbruch in frühe Verzweiflung und einen Pessimismus zwang, der in der Regel dem Alter zusteht. Als Teddie, das „alte Kind”, seinem Vater zum 75. Geburtstag gratuliert – er selbst ist 41 Jahre alt – wird ihm plötzlich klar, dass „wir der heute heraufziehenden, infantil-kollektivistischen Welt gegenüber längst eine Generation geworden sind. Es liegt etwas tief Tröstliches darin.” Über diesem Satz vergisst der Leser die Mühe, die es ihm bereitet hat, sich durch nicht enden wollende Seiten von Verwandtenklatsch hindurchzuarbeiten, dessen sadistische Feinheiten nur einem Familienmitglied verständlich sind.
Die amerikanischen Briefe Adornos an seine Eltern sind Dokumente einer Sehnsucht nach Europa, die selbst Hitler den Emigranten nicht austreiben konnte. Kaum in der Neuen Welt angekommen, fühlte Adorno sich bereits als „amerikamüdes Kind”, das sich trotzig den Versuchungen der Drugstore-Zivilisation zu entziehen versuchte. Triumphierend berichtet er zu Weihnachten den Eltern, man habe keinen Turkey, sondern „eine gute richtige Gans” verspeist und bittet darum, im Falle seines Todes seinen Leichnam nach Deutschland zu überführen, weil er den jüngsten Tag nicht in Amerika erleben möchte. Er leidet unter dem latenten Antisemitismus der Amerikaner – und schimpft aus Leibeskräften auf die „Judenbrut”, nicht nur im Umkreis der Emigranten.
Mit der Übersiedlung nach Kalifornien und dem Kriegseintritt der USA ändert sich die Stimmung. Zwar spottet Adorno am Anfang noch über ein Land, in dem alle Orangenhaine im Besitz von „Herrn Sunkist” sind, aber dann überwältigt ihn die Schönheit Kaliforniens. Schon in New York hatte er von einem „zwar hässlichen, von Drugstores, Hot Dogs und Autos bewohnten, aber im Augenblick noch einigermaßen sicheren Boden” gesprochen, doch nun werden Gretel und er zu begeisterten Automobilisten und berichten den Eltern stolz von Touren ans Meer in ihrem Plymouth, die so lange dauern wie früher die Ausflüge von Frankfurt nach Amorbach.
Nach Pearl Harbour werden Adorno und seine Frau von Zwangsevakuierung bedroht. Mit den Ausflügen ist es vorbei, abends kontrolliert das FBI, ob die Emigranten zu Hause sind. Und doch wird seine Anhänglichkeit an Amerika immer stärker, je mehr die Geschichte den „Charakter der Katastrophe” annimmt. Adorno entdeckt unter Katastrophenbedingungen die kostbare Substanz der Demokratie. Die Naturalisierung – endlich gelingt sie auch den Eltern – wird als Befreiung empfunden.
Die Familienbriefe Adornos – eigentlich sind es Briefe Adornos und seiner Frau Gretel und es ist unverständlich, dass nicht beide als Autoren genannt werden – zwingen den Leser in die unangenehme Rolle des Voyeurs. Den Familienklatsch und die infantilen Albernheiten unter Anverwandten kann man leicht vergessen. Schwer zu vergessen sind unerträgliche Passagen, in denen Adorno verlangt, die Musik eines Fritz Kreisler gehöre „liquidiert” und es möchten nach dem Sturz Hitlers „die Horst Güntherchen in ihrem Blut sich wälzen, und die Inges den polnischen Bordellen überwiesen werden, mit Vorzugsscheinen für die Jude”. Als Deutschland, so glaubt er, mit dem Ende des Krieges als Subjekt aus der Weltgeschichte ausscheidet wie Karthago nach dem Zweiten Punischen Krieg, freut er sich, dass dabei „Millionen von Hansjürgen und Utes” ums Leben gekommen sind. – Man wagt nicht zu denken, wie Adorno die eigenen Briefe gedeutet hätte. An seinem 100. Geburtstag bedauert der Leser, zuviel von Adorno gelesen zu haben.
WOLF LEPENIES
THEODOR W. ADORNO: Briefe an die Eltern 1939-1951. Hrsg. von Ch. Gödde und H. Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2003. 569 Seiten, 39,90 Euro.
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»... ein intellektuelles Vergnügen.« Wolfgang Hellmich Neue Zürcher Zeitung 20210216