Eine sorgfältige Edition bislang ungedruckter Briefe und Lebenszeugnisse Wilhelm Scherers.Der Band enthält eine kommentierte Auswahl von bisher unveröffentlichten Korrespondenzen und Lebenszeugnissen Wilhelm Scherers, die auf Persönlichkeit und Werk des Germanisten ein neues Licht werfen. Ergänzt wird die Edition durch eine Rekonstruktion von Scherers Gesamtnachlaß (mit einer Darstellung zu dessen Geschichte) sowie durch ein Verzeichnis von Scherer-Briefen und -Manuskripten, die sich außerhalb seiner Nachlässe in öffentlichem Besitz befinden.Der Band dokumentiert die wichtigsten Arbeitsgebiete Scherers (die Ältere und die Neuere deutsche Literatur, die Linguistik und Wissenschaftshistoriographie) anhand exemplarischer Korrespondenzen mit Lehrern, Schülern und Kollegen aus verschiedenen Disziplinen (u.a. mit Friedrich Althoff, Berthold Delbrück, Lina Duncker, Rudolf Haym, Konrad Hofmann, Karl Richard Lepsius, Theodor Mommsen, Franz Pfeiffer, Marie Scherer, Julius Zacher und Friedrich Zarncke) und gibt einen Einblick nicht allein in den wissenschaftlichen, sondern auch in den geselligen Verkehr des Gelehrten.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2005Er war die Germanistik
Dokumente eines Aufstiegs: Wilhelm Scherers Briefe
„Laden Sie Scherer noch ein?”, wollte Theodor Mommsen am 28. Juli 1884 von Friedrich Althoff wissen, „man ärgert sich oft an ihm, aber amüsant ist er einem, und das ist eine schöne Gottesgabe.” Die Rede ist von dem Germanisten Wilhelm Scherer, der die Beschäftigung mit der deutschen Literatur auf ein neues, theoretisches Fundament stellte, indem er die Hermeneutik des deutschen Historismus mit dem französischen Positivismus und dem englischen Empirismus verband, nach Kausalitäten und Gesetzen fahndete und in literarischen Werken „das Ererbte, das Erlernte, das Erlebte” suchte. Ungebrochen war sein Glauben an den wissenschaftlichen Fortschritt, unbegrenzt sein institutioneller Einfluss. Die Scherer-Schule bestimmte das Bild der Germanistik im Kaiserreich.
Die Wissenschaftsgeschichte hat Scherer zahllose Etiketten angeklebt. Er gilt als literaturwissenschaftlicher Erzpositivist, als ästhetisierender Schöngeist, als räsonierender Feuilletonist und als glühender Nationalist. Eine Biografie, die kritischen Ansprüchen genügte, fehlt indes. Sein Nachlass ist erst in Ansätzen erschlossen. Deshalb ist die kommentierte Auswahl meist unveröffentlichter Korrespondenzen und wichtiger autobiografischer Zeugnisse, die Mirko Nottscheid und Hans-Harald Müller vorgelegt haben, sehr zu begrüßen. Die zuverlässige Edition, die Angaben zur Überlieferungssituation und die kundige Einleitung beweisen philologische Expertise und historischen Sachverstand.
Die Dokumente illustrieren Scherers wissenschaftliche und politische Entwicklung. Aufschlussreich sind 28 Briefe an seine Eltern, die bis in sein neuntes Lebensjahr zurückreichen. Der Spross einer wohlhabenden Familie aus dem niederösterreichischen Schönborn immatrikuliert sich 1858 siebzehnjährig an der Universität Wien. Er besucht Veranstaltungen in Germanistik, Sprachwissenschaft und Klassischer Philologie und befriedigt seine „kolossalen Bücherbedürfnisse” mit väterlicher Hilfe.
Nach vier Semestern wechselt er, angeödet von dem Grimm-Schüler Franz Pfeiffer, nach Berlin, um bei Moriz Haupt und Karl Müllenhoff die „Methode” der deutschen Philologie zu lernen. Im Gepäck hat er ein Schreiben des Altphilologen Johannes Vahlen, das den Studenten an den Althistoriker Theodor Mommsen empfiehlt. Mit seiner Hilfe findet er rasch Zugang zu den Berliner wissenschaftlichen Zirkeln und literarischen Salons. Müllenhoff ist von der philologischen Kompetenz Scherers so begeistert, dass er mit ihm die „Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII.-XII. Jahrhundert” herausgibt. 1868 erscheint Scherers opus magnum, die epochemachende „Geschichte der deutschen Sprache”, in der „ein System der nationalen Ethik” rekonstruiert werden soll. Programmatisch bekennt sich Müllenhoffs Musterschüler zur Verbindung von nationaler Literatur und nationaler Identität. Im selben Jahr besteigt er den Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur an der Wiener Universität.
Unheilbar compromittiert
Wegen seiner Liebe zu Preußen ist der kleindeutsche Österreicher in seiner Heimat nicht wohlgelitten. 1872 folgt er in nationaler Begeisterung einem Ruf an die neu gegründete Universität Straßburg, wo er das erste germanistische Seminar einrichtet. 1877 wechselt er an die Berliner Friedrich Wilhelms-Universität. Hier erreicht seine Karriere ihren Höhepunkt: 1884 wird er Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, ein Jahr später ist er Geheimer Rat. Mit dem mächtigen Ministerialbeamten Friedrich Althoff steht er auf vertrautem Fuß, verfasst Gutachten und bringt seine Schüler auf Lehrstühle. Scherer wird Vizepräsident der Goethe-Gesellschaft, kontrolliert den Nachlass des Dichterfürsten und bereitet bis zu seinem frühen Tod 1886 zusammen mit Gustav von Loeper die Sophienausgabe vor. Die Quellenkritik, die Friedrich August Wolf an Homer und Lachmann am Nibelungenlied erfolgreich erprobten, wendet Scherer jetzt auf den „Faust” an.
In den Berliner Jahren erscheint in mehreren Lieferungen seine „Geschichte der deutschen Literatur”. Die Darstellung, die von den Germanen bis zu Goethe reicht, ist ungemein erfolgreich, weil sie Philologie und Ästhetik kombiniert und die Überhöhung der Klassik zelebriert. Scherer will sowohl die Fachkollegen als auch das gebildete Publikum ansprechen. Für das kulturprotestantische Bürgertum bespricht der österreichische Katholik auch die Gegenwartsliteratur in den großen deutschen Feuilletons.
Der Liberale distanziert sich von der chauvinistischen Rhetorik und dem antisemitischen Nationalismus des Kaiserreichs. Im Berliner Antisemitismusstreit steht Scherer als einziger Germanist auf der Seite Mommsens. Durch Treitschke und seine Kombattanten sieht er die „nationale Würde” Deutschlands „unheilbar compromittiert”.
Die Briefe, die Scherer mit seinen Eltern und seiner Frau, mit seinen Lehrern und Förderern, mit seinen Kollegen und Schülern wechselte, sind aufschlussreiche Zeugnisse für die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Ihre vorbildliche Publikation ist eine wichtige Voraussetzung für eine neue Biografie Wilhelm Scherers.
STEFAN REBENICH
WILHELM SCHERER: Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853 bis 1880, hg. v. Mirko Nottscheid und Hans-Harald Müller. Wallstein Verlag, Göttingen 2005. 448 Seiten, 45 Euro.
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Dokumente eines Aufstiegs: Wilhelm Scherers Briefe
„Laden Sie Scherer noch ein?”, wollte Theodor Mommsen am 28. Juli 1884 von Friedrich Althoff wissen, „man ärgert sich oft an ihm, aber amüsant ist er einem, und das ist eine schöne Gottesgabe.” Die Rede ist von dem Germanisten Wilhelm Scherer, der die Beschäftigung mit der deutschen Literatur auf ein neues, theoretisches Fundament stellte, indem er die Hermeneutik des deutschen Historismus mit dem französischen Positivismus und dem englischen Empirismus verband, nach Kausalitäten und Gesetzen fahndete und in literarischen Werken „das Ererbte, das Erlernte, das Erlebte” suchte. Ungebrochen war sein Glauben an den wissenschaftlichen Fortschritt, unbegrenzt sein institutioneller Einfluss. Die Scherer-Schule bestimmte das Bild der Germanistik im Kaiserreich.
Die Wissenschaftsgeschichte hat Scherer zahllose Etiketten angeklebt. Er gilt als literaturwissenschaftlicher Erzpositivist, als ästhetisierender Schöngeist, als räsonierender Feuilletonist und als glühender Nationalist. Eine Biografie, die kritischen Ansprüchen genügte, fehlt indes. Sein Nachlass ist erst in Ansätzen erschlossen. Deshalb ist die kommentierte Auswahl meist unveröffentlichter Korrespondenzen und wichtiger autobiografischer Zeugnisse, die Mirko Nottscheid und Hans-Harald Müller vorgelegt haben, sehr zu begrüßen. Die zuverlässige Edition, die Angaben zur Überlieferungssituation und die kundige Einleitung beweisen philologische Expertise und historischen Sachverstand.
Die Dokumente illustrieren Scherers wissenschaftliche und politische Entwicklung. Aufschlussreich sind 28 Briefe an seine Eltern, die bis in sein neuntes Lebensjahr zurückreichen. Der Spross einer wohlhabenden Familie aus dem niederösterreichischen Schönborn immatrikuliert sich 1858 siebzehnjährig an der Universität Wien. Er besucht Veranstaltungen in Germanistik, Sprachwissenschaft und Klassischer Philologie und befriedigt seine „kolossalen Bücherbedürfnisse” mit väterlicher Hilfe.
Nach vier Semestern wechselt er, angeödet von dem Grimm-Schüler Franz Pfeiffer, nach Berlin, um bei Moriz Haupt und Karl Müllenhoff die „Methode” der deutschen Philologie zu lernen. Im Gepäck hat er ein Schreiben des Altphilologen Johannes Vahlen, das den Studenten an den Althistoriker Theodor Mommsen empfiehlt. Mit seiner Hilfe findet er rasch Zugang zu den Berliner wissenschaftlichen Zirkeln und literarischen Salons. Müllenhoff ist von der philologischen Kompetenz Scherers so begeistert, dass er mit ihm die „Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII.-XII. Jahrhundert” herausgibt. 1868 erscheint Scherers opus magnum, die epochemachende „Geschichte der deutschen Sprache”, in der „ein System der nationalen Ethik” rekonstruiert werden soll. Programmatisch bekennt sich Müllenhoffs Musterschüler zur Verbindung von nationaler Literatur und nationaler Identität. Im selben Jahr besteigt er den Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur an der Wiener Universität.
Unheilbar compromittiert
Wegen seiner Liebe zu Preußen ist der kleindeutsche Österreicher in seiner Heimat nicht wohlgelitten. 1872 folgt er in nationaler Begeisterung einem Ruf an die neu gegründete Universität Straßburg, wo er das erste germanistische Seminar einrichtet. 1877 wechselt er an die Berliner Friedrich Wilhelms-Universität. Hier erreicht seine Karriere ihren Höhepunkt: 1884 wird er Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, ein Jahr später ist er Geheimer Rat. Mit dem mächtigen Ministerialbeamten Friedrich Althoff steht er auf vertrautem Fuß, verfasst Gutachten und bringt seine Schüler auf Lehrstühle. Scherer wird Vizepräsident der Goethe-Gesellschaft, kontrolliert den Nachlass des Dichterfürsten und bereitet bis zu seinem frühen Tod 1886 zusammen mit Gustav von Loeper die Sophienausgabe vor. Die Quellenkritik, die Friedrich August Wolf an Homer und Lachmann am Nibelungenlied erfolgreich erprobten, wendet Scherer jetzt auf den „Faust” an.
In den Berliner Jahren erscheint in mehreren Lieferungen seine „Geschichte der deutschen Literatur”. Die Darstellung, die von den Germanen bis zu Goethe reicht, ist ungemein erfolgreich, weil sie Philologie und Ästhetik kombiniert und die Überhöhung der Klassik zelebriert. Scherer will sowohl die Fachkollegen als auch das gebildete Publikum ansprechen. Für das kulturprotestantische Bürgertum bespricht der österreichische Katholik auch die Gegenwartsliteratur in den großen deutschen Feuilletons.
Der Liberale distanziert sich von der chauvinistischen Rhetorik und dem antisemitischen Nationalismus des Kaiserreichs. Im Berliner Antisemitismusstreit steht Scherer als einziger Germanist auf der Seite Mommsens. Durch Treitschke und seine Kombattanten sieht er die „nationale Würde” Deutschlands „unheilbar compromittiert”.
Die Briefe, die Scherer mit seinen Eltern und seiner Frau, mit seinen Lehrern und Förderern, mit seinen Kollegen und Schülern wechselte, sind aufschlussreiche Zeugnisse für die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Ihre vorbildliche Publikation ist eine wichtige Voraussetzung für eine neue Biografie Wilhelm Scherers.
STEFAN REBENICH
WILHELM SCHERER: Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853 bis 1880, hg. v. Mirko Nottscheid und Hans-Harald Müller. Wallstein Verlag, Göttingen 2005. 448 Seiten, 45 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wilhelm Scherers "Geschichte der deutschen Sprache" aus dem Jahr 1868 bestimmte über Generationen die Sichtweise des deutschen Bildungsbürgertums, stellt Rezensent Stefan Rebenich den gebürtigen Österreicher vor, der in Wien, Straßburg und Berlin Germanistik lehrte. Bis heute gibt es keine kritische Biografie Scherers, bedauert Rebenich und begrüßt zugleich die vorzügliche Edition mit Briefen und autobiografischen Zeugnissen Scherers, die seinen beruflichen und politischen Werdegang aufzeigen und, wie der Rezensent nicht müde wird zu betonen, eine hervorragende Grundlage für die noch ausstehende Biografie böten. Scherers große wissenschaftliche Leistung war, arbeitet Rebenich heraus, dass er die Germanistik "auf ein theoretisches Fundament stellte", indem er die Hermeneutik mit dem deutschen Historismus, dem französischen Positivismus und dem englischen Empirismus verband. Scherer versuchte eine Theorie der nationalen Ethik und Literatur zu entwickeln, so Rebenich. Dies bedeutete aber keineswegs, hat Rebenich aus den Briefen und Dokumenten Scherers herausgelesen, dass er einer chauvinistischen Rhetorik aufsaß. Als einziger Germanist schlug er sich im Berliner Antisemitismusstreit auf die Seite Theodor Mommsens. Die Edition sei zuverlässig und mit einer instruktiven Einleitung versehen, versichert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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