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Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Maximilian Gillessen ist sich der Kontingenz bewusst, die auch die Existenz von Briefwechseln betrifft. An dem Band mit von Eric Marty herausgegebenen Briefe von und an Roland Barthes schätzt er die Auswahl, die uns Barthes im schriftlichen Umgang mit Freunden, Geliebten und Kollegen zeigt, in die Jugend des Philosophen und zu frühen Lektüren führt und französisches Geistesleben abbildet. Gut gefallen Gillessen zudem Gestaltung, Übersetzung und Kommentierung des Bandes. Bemerkenswert findet er, dass einige große Namen wie Lacan oder Althusser eher magere Korrespondenzen bieten, während andere wie Blanchot mit Überraschungen aufwarten.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.01.2024

Album, nicht Buch!

Roland Barthes im Gespräch: Eine Auswahl von Briefwechseln und unveröffentlichten

Miszellen liegt nun auch auf Deutsch vor.

Am 5. Januar 1980, wenige Wochen vor seinem Tod, entwickelte Roland Barthes in seiner am Pariser Collège de France gehaltenen Vorlesung "Die Vorbereitung des Romans" eine heuristische Unterscheidung zwischen zwei grundlegenden Formen literarischer Werke: dem Buch und dem Album. Das Buch - im Französischen "le Livre", mit deutlicher Anspielung auf Stéphane Mallarmé - ist ein kohärentes Ganzes, eine Summe, das Album dagegen eine lose Abfolge von Fragmenten, eine Ansammlung. Gehorcht die eine Form der Transzendenz eines Sinns, so die andere der Kontingenz äußerer Umstände.

Vermutlich dachte Éric Marty, der Herausgeber der gesammelten Werke von Barthes, an dieses Begriffspaar, als er im Jahr 2015, anlässlich des hundertsten Geburtstages des Literatur- und Zeichentheoretikers, einer umfangreichen Auswahl unveröffentlichter Briefe und Miszellen den Titel "Album" gab. Das Wort verweist zudem auf das "album amicorum", in dem man einst die handschriftlichen Eintragungen von Freunden, Gelehrten und Künstlern sammelte - und eine solche Sammlung ist Martys Edition in der Tat, enthält sie doch nicht nur von Barthes verfasste Briefe, sondern auch zahlreiche an ihn adressierte.

So lässt sich Barthes im Gespräch erleben, mit Freunden, Geliebten, Umworbenen und nahezu allen wichtigen Protagonisten des französischen Geisteslebens seiner Zeit. Dies ist nun auch in einer deutschen Ausgabe möglich. Zwar verzichtet sie auf den assoziativen Titel und leider ebenso auf die dem Originalband beigegebenen Illustrationen, dafür besticht sie durch ihre ansprechende Gestaltung und eine Übersetzung, die bisweilen durch ein leises Zittern in der Syntax das Französische anklingen lässt.

Einige der abgedruckten Briefe reichen bis ins Barthes' Jugend zurück. Vor allem die Korrespondenz mit Philippe Rebeyrol, einem späteren Diplomaten, gibt Aufschluss über seine frühen Interessen und Lektüren. Schon der Siebzehnjährige begeistert sich für Racine und Marcel Proust, zwei für sein Denken zentrale Autoren. Einige Jahre später - er hat bereits an verschiedenen Gymnasien unterrichtet und sein Studium der Altphilologie beendet - erfährt Barthes' akademische Laufbahn eine jähe Unterbrechung. Eine Lungentuberkulose zwingt ihn, die Zeit der Besatzung, die in den Briefen kaum Erwähnung findet, in französischen und Schweizer Sanatorien zu verbringen.

Ein 1947 im Rückblick verfasster "Entwurf für eine Sanatoriumsgesellschaft" zeugt von Barthes' ambivalenter Haltung gegenüber dieser Zeit, die gleichermaßen von Isolation wie Kameradschaft geprägt war. In der "theokratisch" verfassten Welt der Sanatorien sind die Mediziner "sowohl Thaumaturgen als auch Hoteliers". Unter ihrem paternalistischen Blick genießen die Patienten die "Verantwortungslosigkeit der Kindheit" und kompensieren ihr soziales Exil durch "Übersozialisation". Diese geschlossene Gesellschaft duldet kaum den Rückzug des Einzelnen, umso mehr "verdammt sie im Freundespaar die nicht tolerierbare Negation ihres eigenen unnützen Seins".

Das Pathos dieser Analyse ist für Barthes ungewöhnlich. Vielleicht, weil sich hier Intimes unter dem Deckmantel des Allgemeinen ausspricht. Seit 1943 verband ihn eine tiefe Leidenschaft mit seinem Zimmergenossen Robert David. In seinen Briefen an den Arzt und Leidensgefährten Georges Canetti, den jüngsten Bruder von Elias Canetti, spricht Barthes freimütig über dieses "mehr oder weniger eheliche Leben", aber auch über andere Abenteuer ("Sie verstehen das mehr oder weniger"). Ja, er spielt bisweilen den frivolen Dandy: "Zwei oder drei intelligente Typen, das ist alles. Keine Schönheit, wenn man nicht gewillt ist, seinen Geschmack zu verleugnen." Aber solche Äußerungen dürfen weder über den Ernst seiner Krankheit noch über das hohe Maß seiner Selbstdisziplin hinwegtäuschen. Trotz seiner Klagen, nicht zum Gelehrten zu taugen, liest Barthes unermüdlich - unter anderem Tausende von Seiten des Historikers Jules Michelet - und füllt seine Zettelkästen im Hinblick auf künftige Werke.

Mit dem intellektuellen Renommée, das ihm seine Veröffentlichungen nach dem Krieg einbringen, wächst auch Barthes' Korrespondenz. Sie wird ihm oft zur Last. "Man sollte mein Schweigen nie interpretieren", beschwichtigt er 1977 den Romancier Hervé Guibert. Und während einige Briefwechsel, etwa die mit Michel Butor und Georges Perros, von einer regen freundschaftlichen Anteilnahme zeugen, bestehen andere bloß aus floskelhaften Dankesworten. Gerade die großen Namen - ob nun Jacques Lacan, Hélène Cixous oder Louis Althusser - erweisen sich in dieser Hinsicht als enttäuschend.

Aber es gibt Überraschungen. Darunter den Briefwechsel mit Maurice Blanchot. Als er Barthes im Mai 1967 ein Manifest schickt, in dem er de Gaulle als faschistischen Diktator bezeichnet und zu einem Boykott der staatlichen Institutionen aufruft, verweigert der seine Unterschrift. Nicht nur wegen einer anderen Einschätzung der politischen Lage, sondern aus theoretischen Gründen. Wie soll er einen Text signieren, fragt er Blanchot, "in einem Moment, wo wir von allen Seiten die Idee angreifen, dass ein Werk signiert werden kann?" Nur wenige Monate später erscheint "Der Tod des Autors", Barthes' berühmte Verabschiedung einer biographisch orientierten Hermeneutik.

Jede Auswahl verlangt von ihrem Leser ein gewisses Vertrauen in den Herausgeber. Dass sie einen ebenso mit Dankbarkeit wie mit Ungeduld erfüllt, gehört zum Wesen der Sache. Denn der Freude an den Texten folgt bald das Verlangen, sie nicht nur in Ausschnitten, sondern in Gänze zu besitzen. Wie sollte auch ein anderer wissen, was einen selbst am meisten interessiert? Der klug kommentierte Band lässt offen, welchen Prämissen Marty bei seiner Komposition folgte. Die "sehr begrenzte Auswahl" aus der Korrespondenz zwischen Barthes und Robert David rechtfertigt er etwa durch die schlechte Qualität der ihm zur Verfügung stehenden Kopien. Oder ging es doch darum, eine gewisse Intimität unangetastet zu lassen?

Zu manchen Briefwechseln - etwa dem mit Michel Foucault - erhielt der Herausgeber keinen Zugang, wieder andere wurden zerstört. Nicht zuletzt von Marty selbst, der gleich im Vorwort erklärt, er habe vor nicht allzu langer Zeit die von Barthes an ihn adressierten Briefe vernichtet. So ist dieses "Album" das Ergebnis einer doppelten Kontingenz: der Zeit des Posthumen und der Entscheidungen des Herausgebers. Es liegt am Leser, aus ihm ein Buch zu machen. Und das hätte Barthes gewiss gefallen. MAXIMILIAN GILLESSEN

Roland Barthes: "Briefe und unveröffentlichte Texte".

Hrsg. von Éric Marty. Aus dem Französischen von Rike Felka. Brinkmann & Bose Verlag, Berlin 2024. 360 S., br., 46,- Euro.

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