Die Briefe Johann Gottfried Seumes (1763-1810), des Soldaten und Lektors, des Reiseschriftstellers und Aphoristikers, waren bisher zu höchstens einem Drittel und meist auch nur verstümmelt bekannt. Eine vollständige Ausgabe seiner Briefe, die Einblick in Seumes Leben als Student und zwangsrekrutierter Soldat, als Hofmeister und russischer Leutnant, als Lektor und Druckereiaufseher des Verlegers Georg Joachim Göschen, als Fußreisender nach Italien 1801/02 und nach Rußland, Finnland und Schweden 1805 gewähren würde, wurde seit jeher als Desiderat empfunden. Nach Vorarbeiten durch Adolf Schmiedecke in den siebziger Jahren in der DDR und durch Inge Stephan in der Bundesrepublik legen nun Jörg Drews und Dirk Sangmeister eine Ausgabe sämtlicher Briefe von und an Johann Gottfried Seume vor, welche auch die zu erschließenden, aber nicht mehr vorhandenen Briefe von und an Seume verzeichnet.
In Seumes Briefen machen wir die Bekanntschaft eines bald außerordentlich temperamentvollen und launigen, bald stoischen und stolzen und in raschem Wechsel auch wieder zärtlichen und sich bisweilen verplaudernden Briefschreibers.
Der erste Brief stammt von dem Leipziger Studenten im Jahre 1780, der letzte datiert wenige Wochen vor seinem Tod aus dem Jahre 1810. Die wichtigsten Briefpartner Seumes sind sein Arbeitgeber Georg Joachim Göschen, in dessen Druckerei zu Grimma er von 1797 bis 1801 als Lektor und Korrektor arbeitete. Danach trat er seinen Spaziergang nach Syrakus an. Weitere wichtige Briefpartner sind der alte Gleim in Halberstadt, den Seume wie einen Vater verehrte, und Karl August Böttiger, der Weimarer und Leipziger Zeitschriftenredakteur und Altertumskundler, sowie jener hessische Militär, den es mit Seume nach Nordamerika verschlagen hatte: Die spannungsreiche Freundschaft zwischen dem konservativen Adeligen Karl Heino von Münchhausen und dem Sympathisanten der Französischen Revolution brachte einige der schönsten, kräftigsten Briefe Seumes hervor, der allerdings in den Briefen an seine beiden unglücklichen Lieben Wilhelmina Röder und Johanna Loth auch Formulierungen zärtlichster Liebe zu finden imstande war. Spät im Leben traf Seume dann auf jenen väterlichen Freund, Christoph Martin Wieland, dem er sich vielleicht am vertrauensvollsten geöffnet hat. Wieland seinerseits fand die wärmsten Worte für den Einzelgänger Seume, der erst nach 1802 zum politischen Schriftsteller wurde, sich aber im Zeichen der Napoleonischen Herrschaft, als Sympathien für revolutionäre Ideen von der Tagesordnung verschwunden waren, nicht mehr preußen- und feudalismuskritisch äußern durfte.
Die Ausgabe enthält 377 Briefe von und 120 Briefe an Seume, darunter 112 lediglich bezeugte bzw. erschlossene Schreiben (20 von und 92 an Seume). Von diesen Briefen werden 64 Schreiben in dieser Ausgabe erstmals veröffentlicht, weitere 31 bislang nur durch Teildrucke bekannte Briefe werden erstmals in voller Länge abgedruckt; rund 300 Briefe erscheinen hier erstmals in diplomatisch getreuem Wortlaut. Komplettiert wird die Ausgabe durch einen Anhang von zehn Stammbucheinträgen Seumes. Der Kommentar mit seiner Vielzahl an Einzelerläuterungen legt Rechenschaft ab über die Fundorte der Briefe und die unserer Ausgabe zugrunde gelegten Fassungen; er macht detaillierte Angaben zur Publikationsgeschichte der Briefe sowie über Personen und Sachverhalte, auf die Seumes Briefe sich beziehen. Damit liegt ein wichtiges Briefcorpus der Spätaufklärung endlich in einer vollständigen Ausgabe vor.
In Seumes Briefen machen wir die Bekanntschaft eines bald außerordentlich temperamentvollen und launigen, bald stoischen und stolzen und in raschem Wechsel auch wieder zärtlichen und sich bisweilen verplaudernden Briefschreibers.
Der erste Brief stammt von dem Leipziger Studenten im Jahre 1780, der letzte datiert wenige Wochen vor seinem Tod aus dem Jahre 1810. Die wichtigsten Briefpartner Seumes sind sein Arbeitgeber Georg Joachim Göschen, in dessen Druckerei zu Grimma er von 1797 bis 1801 als Lektor und Korrektor arbeitete. Danach trat er seinen Spaziergang nach Syrakus an. Weitere wichtige Briefpartner sind der alte Gleim in Halberstadt, den Seume wie einen Vater verehrte, und Karl August Böttiger, der Weimarer und Leipziger Zeitschriftenredakteur und Altertumskundler, sowie jener hessische Militär, den es mit Seume nach Nordamerika verschlagen hatte: Die spannungsreiche Freundschaft zwischen dem konservativen Adeligen Karl Heino von Münchhausen und dem Sympathisanten der Französischen Revolution brachte einige der schönsten, kräftigsten Briefe Seumes hervor, der allerdings in den Briefen an seine beiden unglücklichen Lieben Wilhelmina Röder und Johanna Loth auch Formulierungen zärtlichster Liebe zu finden imstande war. Spät im Leben traf Seume dann auf jenen väterlichen Freund, Christoph Martin Wieland, dem er sich vielleicht am vertrauensvollsten geöffnet hat. Wieland seinerseits fand die wärmsten Worte für den Einzelgänger Seume, der erst nach 1802 zum politischen Schriftsteller wurde, sich aber im Zeichen der Napoleonischen Herrschaft, als Sympathien für revolutionäre Ideen von der Tagesordnung verschwunden waren, nicht mehr preußen- und feudalismuskritisch äußern durfte.
Die Ausgabe enthält 377 Briefe von und 120 Briefe an Seume, darunter 112 lediglich bezeugte bzw. erschlossene Schreiben (20 von und 92 an Seume). Von diesen Briefen werden 64 Schreiben in dieser Ausgabe erstmals veröffentlicht, weitere 31 bislang nur durch Teildrucke bekannte Briefe werden erstmals in voller Länge abgedruckt; rund 300 Briefe erscheinen hier erstmals in diplomatisch getreuem Wortlaut. Komplettiert wird die Ausgabe durch einen Anhang von zehn Stammbucheinträgen Seumes. Der Kommentar mit seiner Vielzahl an Einzelerläuterungen legt Rechenschaft ab über die Fundorte der Briefe und die unserer Ausgabe zugrunde gelegten Fassungen; er macht detaillierte Angaben zur Publikationsgeschichte der Briefe sowie über Personen und Sachverhalte, auf die Seumes Briefe sich beziehen. Damit liegt ein wichtiges Briefcorpus der Spätaufklärung endlich in einer vollständigen Ausgabe vor.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.02.2003Stets kurz vor dem Konkurs der Ich-AG
Ein Leben unter dem Zeichen des Vulkans: Johann Gottfried Seume in seinen Briefen
Johann Gottfried Seume (1763-1810) hatte Hummeln unterm Gehrock. Die Universität hält den Jüngling nicht lange. Er ist ein Ausreißer. Das Leben ist um so vieles interessanter als die Studierstube. Der Heißsporn liebt radikale Gesten und klare Schnitte. Wandern, weit ausschreiten, Luft holen. Er flieht von der theologischen Fakultät Leipzig, will nach Metz auf die Artillerieschule. Doch das Militär kommt ihm schon entgegen: Er wird von hessischen Werbern aufgegriffen und in englischem Sold gegen die Aufständischen nach Amerika geschickt.
In den folgenden Jahre wird Seume desertieren, von den Preußen wieder aufgegriffen werden, verschleppt werden, sich freikaufen lassen, sich als russischer Soldat unter Katharina der Großen verpflichten und in polnische Gefangenschaft geraten. Mit Mühe und Not schafft er es, vier Jahre lang den Atem anzuhalten und als Korrektor und Lektor bei Georg Joachim Göschen, einem der wichtigsten Verleger seiner Zeit, zu arbeiten. Die „Sylbenstecherey” raubt ihm den letzten Nerv. Klopstocks Fehler bringen ihn um den Verstand. Noch Jahre später fällt er in seitenlange Rage, wenn er an die metrischen Ungereimtheiten des Alten denkt. Gott, diese Versfüße! Seume kribbelt’s in den Füßen, er muss raus aus dieser Fron. Wandern, weit ausschreiten, Luft holen.
Der erste Rolling Stone
Er packt seinen Tornister, greift sich einen wohl bezwingten Knotenstock und wandert vom sächsischen Grimma nach Sizilien. Knapp tausend Meilen zu Fuß, wer lässt sich schon gerne freiwillig in eine Kutsche sperren? „Ich will mir nur kosmisch das Zwerchfell etwas auseinander wandern.” Zurück in Sachsen verfasst er seinen Reisebericht in gut vier Monaten. Feilen und polieren war nicht sein Geschäft. Sein „Spaziergang nach Syrakus” wird ein Klassiker der Reiseliteratur. Kein Posten fesselt den Vagabunden wirklich. Einen freieren Autor hätten sich selbst die Beatniks nicht ausdenken können. Er war der erste Rolling Stone: „Der liegende Stein wird moosig.”
Seume versucht, sich als Lehrkraft durchzuschlagen. Noch einmal macht er eine Reise, über Russland in den Norden, Finnland, Dänemark, Schweden. Selbst als Schwerkranker macht er sich noch auf Reisen, lässt sich unter Schmerzen zu der Weimarer Prinzessin Caroline Louise kutschieren, lässt seine kranke Blase im Kutschkasten durchrütteln, „jeder Wagenstoß drohte mir die Symphysis zu sprengen”, nur um eine Pension für seine russischen Kriegsdienste zu erbitten. Der Brief, der von dieser letzten Fahrt durch die Landschaft seiner Jugend berichtet, ist sein ergreifendster. Seume stirbt auf einer Kurreise in dem Badeort Teplitz, heute Teplice in Tschechien. Drei Tage nach seiner Todesmeldung erhält sein Freund Christoph Martin Wieland die Nachricht vom Erfolg des Gesuchs um eine Pension. Seume wurde nie „eingespießbürgert”.
Auf all seinen Lebensstationen hat Seume gelesen, gedichtet und „dem Teufel ein Ohr abgeschrieben”. In den Gefechtspausen las er Homer. Wurden in Leipzig seine Lieblingsbäume abgeholzt, empörte er sich in einem Gedicht. Sein Lebenstraum war es, auf dem Ätna Theokrit zu studieren; Theokrit war sein Survival-Kit. Zwischen Johann Gottfried Seume und das Leben passte immer noch ein Blatt Papier. Der Mann war nicht banal. So jemandem schaut man gerne in die Karten.
Dank einer hervorragenden Ausgabe von Johann Gottfried Seumes Briefen kann man nun den vagabundierenden Dichter von seinem siebzehnten Lebensjahr bis zu seinem Tode begleiten. Es ist ein sehr ergreifendes, spannendes und lehrreiches Leseabenteuer. Der Dichter war ein Rauhbein mit Talent für Männerfreundschaften. Für den Umgang mit Frauen fehlte ihm leider die Begabung. Mit dreiunddreißig zeigte er zum ersten Mal ordentlich Gefühl: „Apropos, ich bin zum erstenmal in meinem Leben ordentlicherweise verliebt.” Er ist ratlos, das Gefühl ist ja auch zu sonderbar: „Ich weine wohl nicht, aber meine Augen brennen und eine hohe Glut fährt elektrisch durch meinen Nacken.” Sobald er einen Briefbogen für die Dame seines Herzens unter dem elektrisierten Federkiel hatte, packte den sonst so Gefassten die „Schwärmerey”, und er schwärzte und schwärmte Seite um Seite. Nach zwei, drei Briefen äußert er einen Kinderwunsch. Sein Leben lang hat er erfolgreich alle Frauen verschreckt. Die Libido trieb ihn zu den erstaunlichsten Seltsamkeiten. Als seine Angebetete Christiana Wilhelmina Röder heiratete, schrieb er ihrem Ehemann einen Brief, in dem er dem Konkurrenten eine Gebrauchsanweisung für die Gattin mitgibt: „Sie hat Fehler: sie kann hassen, verzeiht nicht leicht, und ist leichtsinnig. Sie haben keinen leichten Gang mit ihr.”
In allen anderen Leidenschaften als der Liebe weiß sich Seume zu zügeln. Er ist Stoiker. Der Titel seines Hauptwerkes offenbart Seumes charakteristischsten Zug: Wer einen neunmonatigen Fußmarsch durch die wilden Räuberlandschaften des frühen neunzehnten Jahrhunderts einen Spaziergang nennt, legt Wert auf seine Gefasstheit. Seume pflegt klassische soldatische Tugenden und unterstreicht gerne seine Mannesehre in seiner Korrespondenz.
Seine Briefe zeigen Seume in all seinen Facetten: Als stolzen Bittsteller, unglücklichen Liebenden, glücklichen Wandersmann, genügsamen Einsiedel, mutigen politischen Pamphletisten und verlässlichen Freund, der selbst auf Wanderschaft nie das Interesse an den Zurückgebliebenen verliert: „Sind die Gurken gut geraten?” Sein Leben lang kämpft er gegen seinen tief verwurzelten „Murrsinn”. Der Mann weiß nichts mit sich anzufangen. Alles scheint ihm sinnlos. Ein hoffnungsloser Fall für das Jobaqtiv-Gesetz. Er steht immer kurz vor dem Konkurs seiner ICH-AG.
Seumes Prosa ist berühmt für ihre schnörkellose Prägnanz mit Tendenz zur moralischen Maxime. Die militärische Sprache der knappen Rapports ist sein Stilvorbild. Einer seiner Lieblingssätze ist der Bericht des russischen Generals Suworow über die Einnahme von Prag: „Die Festung ist genommen, und ich bin darin.” Seumes Deutsch hat er an seinen antiken Klassikern geschult. Gegen Ende seines Lebens träumte er von einer großen staatsphilosophischen Abhandlung – auf Altgriechisch. Doch meist schreibt er gutes, knorriges Deutsch, das sich während einer Reifezeit von zweihundert Jahren in eine Fundgrube voller skurriler Wörter und amüsanter Redewendungen gewandelt hat. Seumes rauher, trotzig-stolzer Ton stärkt das Gemüt wie eine Wanderung durch Wind und Wetter nach einem deftigen Speckfrühstück.
Da leuchtet ein Knopf
Der kritische, fünfhundertseitige Kommentar dieser Briefausgabe ist nach allen Regeln der Kunst verfasst. Schimmert durch Seumes Texte vor allem der Drang nach der Ferne, transportiert der ausgezeichnete kritische Apparat die Freuden und das Glück der genauen wissenschaftlichen Forschungsarbeit. Das ist ganz im Geiste einer Zeit, in der selbst der Korrektor Seume noch eine ganze Briefseite über ein Komma verfasste. Der Kommentar ist nicht nur so gründlich und informativ wie möglich, sondern liest sich auch wie ein historischer Roman in Fragmenten. Gärten erblühen, Drucktechniken werden erläutert, und aus dem Dunkel der Zeit leuchtet der Knopf einer preußischen Uniform.
Dieser dritte Band von Johann Gottfried Seumes Werken sollte eine willkommene Gelegenheit sein, das literarische Gesamtwerk dieses originellen Freigeistes (wieder) zu entdecken. Die unter der Federführung des Bielefelder Germanisten Jörg Drews mit aller wissenschaftlichen Sorgfalt herausgegebenen gesammelten Werke Seumes liefern eine unglaubliche Materialfülle über den rastlosen Aufklärer. Aus den drei Bänden der nun vollständigen Gesamtausgabe steigt ein dreidimensionaler Johann Gottfried Seume mit Knotenstock und Seehundfelltornister.
STEPHAN MAUS
JOHANN GOTTFRIED SEUME: Briefe. Herausgegeben von Jörg Drews und Dirk Sangmeister unter Mitarbeit von Inge Stephan. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2002. 1232 Seiten, 80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ein Leben unter dem Zeichen des Vulkans: Johann Gottfried Seume in seinen Briefen
Johann Gottfried Seume (1763-1810) hatte Hummeln unterm Gehrock. Die Universität hält den Jüngling nicht lange. Er ist ein Ausreißer. Das Leben ist um so vieles interessanter als die Studierstube. Der Heißsporn liebt radikale Gesten und klare Schnitte. Wandern, weit ausschreiten, Luft holen. Er flieht von der theologischen Fakultät Leipzig, will nach Metz auf die Artillerieschule. Doch das Militär kommt ihm schon entgegen: Er wird von hessischen Werbern aufgegriffen und in englischem Sold gegen die Aufständischen nach Amerika geschickt.
In den folgenden Jahre wird Seume desertieren, von den Preußen wieder aufgegriffen werden, verschleppt werden, sich freikaufen lassen, sich als russischer Soldat unter Katharina der Großen verpflichten und in polnische Gefangenschaft geraten. Mit Mühe und Not schafft er es, vier Jahre lang den Atem anzuhalten und als Korrektor und Lektor bei Georg Joachim Göschen, einem der wichtigsten Verleger seiner Zeit, zu arbeiten. Die „Sylbenstecherey” raubt ihm den letzten Nerv. Klopstocks Fehler bringen ihn um den Verstand. Noch Jahre später fällt er in seitenlange Rage, wenn er an die metrischen Ungereimtheiten des Alten denkt. Gott, diese Versfüße! Seume kribbelt’s in den Füßen, er muss raus aus dieser Fron. Wandern, weit ausschreiten, Luft holen.
Der erste Rolling Stone
Er packt seinen Tornister, greift sich einen wohl bezwingten Knotenstock und wandert vom sächsischen Grimma nach Sizilien. Knapp tausend Meilen zu Fuß, wer lässt sich schon gerne freiwillig in eine Kutsche sperren? „Ich will mir nur kosmisch das Zwerchfell etwas auseinander wandern.” Zurück in Sachsen verfasst er seinen Reisebericht in gut vier Monaten. Feilen und polieren war nicht sein Geschäft. Sein „Spaziergang nach Syrakus” wird ein Klassiker der Reiseliteratur. Kein Posten fesselt den Vagabunden wirklich. Einen freieren Autor hätten sich selbst die Beatniks nicht ausdenken können. Er war der erste Rolling Stone: „Der liegende Stein wird moosig.”
Seume versucht, sich als Lehrkraft durchzuschlagen. Noch einmal macht er eine Reise, über Russland in den Norden, Finnland, Dänemark, Schweden. Selbst als Schwerkranker macht er sich noch auf Reisen, lässt sich unter Schmerzen zu der Weimarer Prinzessin Caroline Louise kutschieren, lässt seine kranke Blase im Kutschkasten durchrütteln, „jeder Wagenstoß drohte mir die Symphysis zu sprengen”, nur um eine Pension für seine russischen Kriegsdienste zu erbitten. Der Brief, der von dieser letzten Fahrt durch die Landschaft seiner Jugend berichtet, ist sein ergreifendster. Seume stirbt auf einer Kurreise in dem Badeort Teplitz, heute Teplice in Tschechien. Drei Tage nach seiner Todesmeldung erhält sein Freund Christoph Martin Wieland die Nachricht vom Erfolg des Gesuchs um eine Pension. Seume wurde nie „eingespießbürgert”.
Auf all seinen Lebensstationen hat Seume gelesen, gedichtet und „dem Teufel ein Ohr abgeschrieben”. In den Gefechtspausen las er Homer. Wurden in Leipzig seine Lieblingsbäume abgeholzt, empörte er sich in einem Gedicht. Sein Lebenstraum war es, auf dem Ätna Theokrit zu studieren; Theokrit war sein Survival-Kit. Zwischen Johann Gottfried Seume und das Leben passte immer noch ein Blatt Papier. Der Mann war nicht banal. So jemandem schaut man gerne in die Karten.
Dank einer hervorragenden Ausgabe von Johann Gottfried Seumes Briefen kann man nun den vagabundierenden Dichter von seinem siebzehnten Lebensjahr bis zu seinem Tode begleiten. Es ist ein sehr ergreifendes, spannendes und lehrreiches Leseabenteuer. Der Dichter war ein Rauhbein mit Talent für Männerfreundschaften. Für den Umgang mit Frauen fehlte ihm leider die Begabung. Mit dreiunddreißig zeigte er zum ersten Mal ordentlich Gefühl: „Apropos, ich bin zum erstenmal in meinem Leben ordentlicherweise verliebt.” Er ist ratlos, das Gefühl ist ja auch zu sonderbar: „Ich weine wohl nicht, aber meine Augen brennen und eine hohe Glut fährt elektrisch durch meinen Nacken.” Sobald er einen Briefbogen für die Dame seines Herzens unter dem elektrisierten Federkiel hatte, packte den sonst so Gefassten die „Schwärmerey”, und er schwärzte und schwärmte Seite um Seite. Nach zwei, drei Briefen äußert er einen Kinderwunsch. Sein Leben lang hat er erfolgreich alle Frauen verschreckt. Die Libido trieb ihn zu den erstaunlichsten Seltsamkeiten. Als seine Angebetete Christiana Wilhelmina Röder heiratete, schrieb er ihrem Ehemann einen Brief, in dem er dem Konkurrenten eine Gebrauchsanweisung für die Gattin mitgibt: „Sie hat Fehler: sie kann hassen, verzeiht nicht leicht, und ist leichtsinnig. Sie haben keinen leichten Gang mit ihr.”
In allen anderen Leidenschaften als der Liebe weiß sich Seume zu zügeln. Er ist Stoiker. Der Titel seines Hauptwerkes offenbart Seumes charakteristischsten Zug: Wer einen neunmonatigen Fußmarsch durch die wilden Räuberlandschaften des frühen neunzehnten Jahrhunderts einen Spaziergang nennt, legt Wert auf seine Gefasstheit. Seume pflegt klassische soldatische Tugenden und unterstreicht gerne seine Mannesehre in seiner Korrespondenz.
Seine Briefe zeigen Seume in all seinen Facetten: Als stolzen Bittsteller, unglücklichen Liebenden, glücklichen Wandersmann, genügsamen Einsiedel, mutigen politischen Pamphletisten und verlässlichen Freund, der selbst auf Wanderschaft nie das Interesse an den Zurückgebliebenen verliert: „Sind die Gurken gut geraten?” Sein Leben lang kämpft er gegen seinen tief verwurzelten „Murrsinn”. Der Mann weiß nichts mit sich anzufangen. Alles scheint ihm sinnlos. Ein hoffnungsloser Fall für das Jobaqtiv-Gesetz. Er steht immer kurz vor dem Konkurs seiner ICH-AG.
Seumes Prosa ist berühmt für ihre schnörkellose Prägnanz mit Tendenz zur moralischen Maxime. Die militärische Sprache der knappen Rapports ist sein Stilvorbild. Einer seiner Lieblingssätze ist der Bericht des russischen Generals Suworow über die Einnahme von Prag: „Die Festung ist genommen, und ich bin darin.” Seumes Deutsch hat er an seinen antiken Klassikern geschult. Gegen Ende seines Lebens träumte er von einer großen staatsphilosophischen Abhandlung – auf Altgriechisch. Doch meist schreibt er gutes, knorriges Deutsch, das sich während einer Reifezeit von zweihundert Jahren in eine Fundgrube voller skurriler Wörter und amüsanter Redewendungen gewandelt hat. Seumes rauher, trotzig-stolzer Ton stärkt das Gemüt wie eine Wanderung durch Wind und Wetter nach einem deftigen Speckfrühstück.
Da leuchtet ein Knopf
Der kritische, fünfhundertseitige Kommentar dieser Briefausgabe ist nach allen Regeln der Kunst verfasst. Schimmert durch Seumes Texte vor allem der Drang nach der Ferne, transportiert der ausgezeichnete kritische Apparat die Freuden und das Glück der genauen wissenschaftlichen Forschungsarbeit. Das ist ganz im Geiste einer Zeit, in der selbst der Korrektor Seume noch eine ganze Briefseite über ein Komma verfasste. Der Kommentar ist nicht nur so gründlich und informativ wie möglich, sondern liest sich auch wie ein historischer Roman in Fragmenten. Gärten erblühen, Drucktechniken werden erläutert, und aus dem Dunkel der Zeit leuchtet der Knopf einer preußischen Uniform.
Dieser dritte Band von Johann Gottfried Seumes Werken sollte eine willkommene Gelegenheit sein, das literarische Gesamtwerk dieses originellen Freigeistes (wieder) zu entdecken. Die unter der Federführung des Bielefelder Germanisten Jörg Drews mit aller wissenschaftlichen Sorgfalt herausgegebenen gesammelten Werke Seumes liefern eine unglaubliche Materialfülle über den rastlosen Aufklärer. Aus den drei Bänden der nun vollständigen Gesamtausgabe steigt ein dreidimensionaler Johann Gottfried Seume mit Knotenstock und Seehundfelltornister.
STEPHAN MAUS
JOHANN GOTTFRIED SEUME: Briefe. Herausgegeben von Jörg Drews und Dirk Sangmeister unter Mitarbeit von Inge Stephan. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2002. 1232 Seiten, 80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.05.2002Der schreibende Hurone
Spannungsvoll: Seumes Briefe in einer neuen Edition
Den Anfang machte ein wohlhabender Holzhändler und Heimatforscher im sächsischen Lützen: Oskar Planer. Als er feststellte, daß im nahen Poserna das Geburtshaus von Johann Gottfried Seume stand, sammelte Planer von und über Seume, was er nur bekommen konnte, darunter zahlreiche Manuskripte und sechs Dutzend Briefhandschriften. Seine Funde präsentierte er gemeinsam mit Camillo Reißmann 1898 in einem immer noch grundlegenden Buch über Seume, halb Biographie, halb Briefausgabe.
Ohne diesen "Planer/Reißmann", heute eine antiquarische Rarität, würde es die neue Briefedition von Jörg Drews und Dirk Sangmeister kaum geben - nicht nur, weil Planer und Reißmann die epistolarische Seume-Überlieferung überhaupt erst etabliert haben - hier fand Walter Benjamin den Brief, mit dem er Seume in seiner Sammlung "Deutsche Menschen" ein Denkmal setzte -, sondern auch, weil ihre Publikation so amateurhaft und philologisch unhaltbar war. Als Seume in den sechziger Jahren als politischer Autor der Spätaufklärung entdeckt wurde, war klar, daß seine Briefe neu ediert werden müßten. Das ist nun, nach Überwindung zahlreicher Hürden, endlich geschehen - in einer Gediegenheit, zu der man Herausgebern und Verlag nur gratulieren kann. Dieser Zwölfhundert-Seiten-Band des Deutschen Klassiker Verlags krönt als glanzvoller Abschluß Drews' Seume-Ausgabe von 1993.
Endlich hat man alle noch erreichbaren Briefe von und an Seume. Fast ein Drittel dieser Briefe sind hier erstmals veröffentlicht - darunter einige kapitale Funde - oder in voller Länge abgedruckt, diplomatisch getreu wiedergegeben und textkritisch geprüft. Der erschöpfende Kommentar ist wohltuend nüchtern und enthält eine Fülle von Korrekturen der bisherigen Seume-Überlieferung. Der leidigen Aufgabe jedes lemmaorientierten Kommentars, die Informationen zu atomisieren, versuchen die Herausgeber dadurch gerecht zu werden, daß sie im Verzeichnis der Korrespondenten knappe Angaben über deren Beziehung zu Seume mitliefern. Diese Angaben hätten - etwa in Anlehnung an von Mandelkows Briefbände der Hamburger Goethe-Ausgabe - ruhig ausführlicher sein dürfen; der Leser hätt's gedankt.
Ähnliches gilt für einige unübersichtliche thematische Komplexe: Seumes langwierige und intrikate Korrekturarbeit an Göschens Klopstock-Ausgabe, die ihm nicht etwa den Dank des berühmten Autors, sondern nur dessen bornierten Tadel einbrachte; es gilt für die Beziehungen zu Wilhelmina Röder und Johanna Loth oder für Art und Verlauf der bösen und schließlich tödlichen Erkrankung. Da wäre ein orientierendes Resümee willkommen gewesen. Schade ist, daß auf Proben der Handschrift verzichtet wurde, die man auch im Bildteil der anderen beiden Bände vergeblich sucht. Es wäre reizvoll zu sehen und kein bloßer Bildschmuck, wie Seume etwa die kuriosen Sprachmischungen - Deutsch, Englisch, Lateinisch - in seiner Handschrift gestaltet oder wie sich seine Bemühungen, dem erblindenden Gleim durch Wahl einer besonders großen Schrift zu Hilfe zu kommen, optisch ausnehmen.
Auch der beste Kommentar kann nicht ersetzen, was verlorengegangen ist. Seumes Briefe sind gewiß ein Spiegel seines Lebens, aber mit großen Fehlstellen und manchen blinden Flecken. Offenbar hat Seume die an ihn gerichteten Briefe vernichtet, erstaunlicherweise auch die seiner engsten Briefpartner: Gleim, Göschen, Böttiger, Münchhausen. Seine eigenen Briefe sind naturgemäß zeitlich sehr ungleich verteilt; für die ersten 25 Jahre muß man sich mit ganzen 15, nicht eben sehr aussagekräftigen Schreiben begnügen. Über entscheidende Nervenpunkte seine Lebens schweigt sich Seume sonst gern aus: Man erfährt auch jetzt nichts Genaueres darüber, weshalb der achtzehnjährige Student plötzlich aus Leipzig verschwindet und wie er unters Militär geriet, man erfährt wenig über Seumes politische Entwicklung bis 1798, die ihn zögernd zum partiellen Befürworter der Französischen Revolution werden ließ. Und wie steht es um seine Behauptung - nota bene: in einem Brief an seine zweite große Liebe Johanna Loth -, neben Gleim, Herder und Wieland sei auch Schiller sein Freund gewesen, "und Göthe ist mir nicht abhold"? Wie um seine Angaben, Göschen habe ihm für seine Autobiographie das phantastische Honorar von tausend Talern geboten oder daß er in Rußland mehrfach Anstellungen ausgeschlagen habe, die mit üppigen zweitausendfünfhundert Talern Gehalt dotiert gewesen seien? Stimmt das? Oder ist es Aufschneiderei? Die Herausgeber tun ihr Bestes, aber man weiß es einfach nicht.
Auf ein anderes Problem gehen Drews und Sangmeister in ihrer konzentrierten Einleitung selbst sein: Wer sich dem Briefschreiber Seume mit der Erwartung nähert, hier begegne er dem politischen Schriftsteller oder dem lakonisch-gradlinigen Moralisten, den man aus seinen Schriften kennt, mag enttäuscht sein. Von Politik ist in seiner Korrespondenz wenig die Rede, über literarische Fragen äußert Seume sich selten, Erläuterungen zu eigenen Schriften gibt es kaum und Seelenzergliederung und Selbsterforschung schon gar nicht. Am liebsten zeigt sich Seume in seinen Briefen als jemand, der sich und sein Leben fest im Griff hat, alles mit sich selbst abmacht, nichts bedauert, und wenn er zwischen den Stühlen sitzt, meint, dort zu Hause zu sein. Unangepaßt zu leben macht seinen Stolz aus, und nicht ohne grimmiges Behagen nennt er sich selbst immer wieder einen Huronen oder den "braunen Mann" oder ein Amphibion, der weder in der Sphäre des Militär noch der Literatur zu Hause ist. "Ich habe alle Fächer durchsucht: ich passe in keines", schreibt er 1798.
Sicherlich, es gibt viele Briefe, in denen Seume so souverän wirkt, wie er wirken möchte: an seinen Verleger und Freund Göschen, dem er immer wieder mit launigen, endlos gereimten oder Sprachen bunt mischenden und eigentlich inhaltsleeren Briefen auf den Leib rückt, dann aber vor allem an Karl von Münchhausen, seinen Soldaten-Urfreund aus amerikanischen Tagen, dem gegenüber Seume die heikle Balance von Zugeknöpftheit und Offenheit am besten gelingt. Hier findet sich auch das stärkste Dokument, eine eindrucksvolle Apologie des Freitods. Dem stehen freilich Briefe gegenüber, in denen die stoische, Selbstkontrolle suggerierende Wortoberfläche in merklichem Kontrast zu den darunter verborgenen Spannungen stehen, derer Seume mit größter Anstrengung Herr zu werden versucht. Die Briefe an die geliebten Frauen - erst Wilhelmina Röder, dann, acht Jahre später, Johanna Loth, beide jung und reich und für den mittellosen russischen Leutnant a. D. unerreichbar: Welch heroische Versuche, die überwältigenden Gefühle und die Verzweiflung über die Zurückweisung, die Seume an den Rand des Selbstmords brachte, in einem nicht endenden Schwall männlich-fest wirken sollender Satzkaskaden zu bändigen! Und gleich darauf, nach der Katastrophe mit Johanna Loth, wieder solche lakonischen Notizen wie an seinen Verleger Hartknoch - Seume nennt ihn "Lieber Freund": "Es ist in meinem innern moralischen" - warum moralischen? - "Wesen ein kleiner Vorfall geschehen, der mich schnell bestimmt hat, mit dem Eintritt des Frühlings den Sommer über eine Ausflucht zu suchen."
Vor dreißig Jahren war es der gesellschaftskritische Autor Seume, den man für sich entdeckte. Die damals vorgenommenen Standortbestimmungen behalten ihre Gültigkeit. Aber es ist keine Abwertung des politischen Autors, wenn man sich jetzt - wieder - mehr für den Menschen Seume interessiert, dessen Briefe bewegende Dokumente der schwierigen Kunst der Lebensbewältigung sind.
Diese vorzügliche Edition ist das Fundament jeder künftigen Beschäftigung mit Seume. In dieser Hinsicht ist das verdienstvolle Provisorium von Planer und Reißmann glanzvoll ersetzt. In einer anderen freilich nicht: Die Herausforderung einer modernen, die Datenfülle bändigenden und psychologisch bedachtsamen Biographie bleibt bestehen. Man darf hoffen, daß Jörg Drews nach zwanzig Jahren Seume-Forschung noch Elan genug besitzt, auch diesem Mangel abzuhelfen.
MATTHIAS RICHTER
Johann Gottfried Seume: "Werke und Briefe". Band 3: Briefe. Herausgegeben von Jörg Drews und Dirk Sangmeister. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2002. 1232 S., geb., 80,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Spannungsvoll: Seumes Briefe in einer neuen Edition
Den Anfang machte ein wohlhabender Holzhändler und Heimatforscher im sächsischen Lützen: Oskar Planer. Als er feststellte, daß im nahen Poserna das Geburtshaus von Johann Gottfried Seume stand, sammelte Planer von und über Seume, was er nur bekommen konnte, darunter zahlreiche Manuskripte und sechs Dutzend Briefhandschriften. Seine Funde präsentierte er gemeinsam mit Camillo Reißmann 1898 in einem immer noch grundlegenden Buch über Seume, halb Biographie, halb Briefausgabe.
Ohne diesen "Planer/Reißmann", heute eine antiquarische Rarität, würde es die neue Briefedition von Jörg Drews und Dirk Sangmeister kaum geben - nicht nur, weil Planer und Reißmann die epistolarische Seume-Überlieferung überhaupt erst etabliert haben - hier fand Walter Benjamin den Brief, mit dem er Seume in seiner Sammlung "Deutsche Menschen" ein Denkmal setzte -, sondern auch, weil ihre Publikation so amateurhaft und philologisch unhaltbar war. Als Seume in den sechziger Jahren als politischer Autor der Spätaufklärung entdeckt wurde, war klar, daß seine Briefe neu ediert werden müßten. Das ist nun, nach Überwindung zahlreicher Hürden, endlich geschehen - in einer Gediegenheit, zu der man Herausgebern und Verlag nur gratulieren kann. Dieser Zwölfhundert-Seiten-Band des Deutschen Klassiker Verlags krönt als glanzvoller Abschluß Drews' Seume-Ausgabe von 1993.
Endlich hat man alle noch erreichbaren Briefe von und an Seume. Fast ein Drittel dieser Briefe sind hier erstmals veröffentlicht - darunter einige kapitale Funde - oder in voller Länge abgedruckt, diplomatisch getreu wiedergegeben und textkritisch geprüft. Der erschöpfende Kommentar ist wohltuend nüchtern und enthält eine Fülle von Korrekturen der bisherigen Seume-Überlieferung. Der leidigen Aufgabe jedes lemmaorientierten Kommentars, die Informationen zu atomisieren, versuchen die Herausgeber dadurch gerecht zu werden, daß sie im Verzeichnis der Korrespondenten knappe Angaben über deren Beziehung zu Seume mitliefern. Diese Angaben hätten - etwa in Anlehnung an von Mandelkows Briefbände der Hamburger Goethe-Ausgabe - ruhig ausführlicher sein dürfen; der Leser hätt's gedankt.
Ähnliches gilt für einige unübersichtliche thematische Komplexe: Seumes langwierige und intrikate Korrekturarbeit an Göschens Klopstock-Ausgabe, die ihm nicht etwa den Dank des berühmten Autors, sondern nur dessen bornierten Tadel einbrachte; es gilt für die Beziehungen zu Wilhelmina Röder und Johanna Loth oder für Art und Verlauf der bösen und schließlich tödlichen Erkrankung. Da wäre ein orientierendes Resümee willkommen gewesen. Schade ist, daß auf Proben der Handschrift verzichtet wurde, die man auch im Bildteil der anderen beiden Bände vergeblich sucht. Es wäre reizvoll zu sehen und kein bloßer Bildschmuck, wie Seume etwa die kuriosen Sprachmischungen - Deutsch, Englisch, Lateinisch - in seiner Handschrift gestaltet oder wie sich seine Bemühungen, dem erblindenden Gleim durch Wahl einer besonders großen Schrift zu Hilfe zu kommen, optisch ausnehmen.
Auch der beste Kommentar kann nicht ersetzen, was verlorengegangen ist. Seumes Briefe sind gewiß ein Spiegel seines Lebens, aber mit großen Fehlstellen und manchen blinden Flecken. Offenbar hat Seume die an ihn gerichteten Briefe vernichtet, erstaunlicherweise auch die seiner engsten Briefpartner: Gleim, Göschen, Böttiger, Münchhausen. Seine eigenen Briefe sind naturgemäß zeitlich sehr ungleich verteilt; für die ersten 25 Jahre muß man sich mit ganzen 15, nicht eben sehr aussagekräftigen Schreiben begnügen. Über entscheidende Nervenpunkte seine Lebens schweigt sich Seume sonst gern aus: Man erfährt auch jetzt nichts Genaueres darüber, weshalb der achtzehnjährige Student plötzlich aus Leipzig verschwindet und wie er unters Militär geriet, man erfährt wenig über Seumes politische Entwicklung bis 1798, die ihn zögernd zum partiellen Befürworter der Französischen Revolution werden ließ. Und wie steht es um seine Behauptung - nota bene: in einem Brief an seine zweite große Liebe Johanna Loth -, neben Gleim, Herder und Wieland sei auch Schiller sein Freund gewesen, "und Göthe ist mir nicht abhold"? Wie um seine Angaben, Göschen habe ihm für seine Autobiographie das phantastische Honorar von tausend Talern geboten oder daß er in Rußland mehrfach Anstellungen ausgeschlagen habe, die mit üppigen zweitausendfünfhundert Talern Gehalt dotiert gewesen seien? Stimmt das? Oder ist es Aufschneiderei? Die Herausgeber tun ihr Bestes, aber man weiß es einfach nicht.
Auf ein anderes Problem gehen Drews und Sangmeister in ihrer konzentrierten Einleitung selbst sein: Wer sich dem Briefschreiber Seume mit der Erwartung nähert, hier begegne er dem politischen Schriftsteller oder dem lakonisch-gradlinigen Moralisten, den man aus seinen Schriften kennt, mag enttäuscht sein. Von Politik ist in seiner Korrespondenz wenig die Rede, über literarische Fragen äußert Seume sich selten, Erläuterungen zu eigenen Schriften gibt es kaum und Seelenzergliederung und Selbsterforschung schon gar nicht. Am liebsten zeigt sich Seume in seinen Briefen als jemand, der sich und sein Leben fest im Griff hat, alles mit sich selbst abmacht, nichts bedauert, und wenn er zwischen den Stühlen sitzt, meint, dort zu Hause zu sein. Unangepaßt zu leben macht seinen Stolz aus, und nicht ohne grimmiges Behagen nennt er sich selbst immer wieder einen Huronen oder den "braunen Mann" oder ein Amphibion, der weder in der Sphäre des Militär noch der Literatur zu Hause ist. "Ich habe alle Fächer durchsucht: ich passe in keines", schreibt er 1798.
Sicherlich, es gibt viele Briefe, in denen Seume so souverän wirkt, wie er wirken möchte: an seinen Verleger und Freund Göschen, dem er immer wieder mit launigen, endlos gereimten oder Sprachen bunt mischenden und eigentlich inhaltsleeren Briefen auf den Leib rückt, dann aber vor allem an Karl von Münchhausen, seinen Soldaten-Urfreund aus amerikanischen Tagen, dem gegenüber Seume die heikle Balance von Zugeknöpftheit und Offenheit am besten gelingt. Hier findet sich auch das stärkste Dokument, eine eindrucksvolle Apologie des Freitods. Dem stehen freilich Briefe gegenüber, in denen die stoische, Selbstkontrolle suggerierende Wortoberfläche in merklichem Kontrast zu den darunter verborgenen Spannungen stehen, derer Seume mit größter Anstrengung Herr zu werden versucht. Die Briefe an die geliebten Frauen - erst Wilhelmina Röder, dann, acht Jahre später, Johanna Loth, beide jung und reich und für den mittellosen russischen Leutnant a. D. unerreichbar: Welch heroische Versuche, die überwältigenden Gefühle und die Verzweiflung über die Zurückweisung, die Seume an den Rand des Selbstmords brachte, in einem nicht endenden Schwall männlich-fest wirken sollender Satzkaskaden zu bändigen! Und gleich darauf, nach der Katastrophe mit Johanna Loth, wieder solche lakonischen Notizen wie an seinen Verleger Hartknoch - Seume nennt ihn "Lieber Freund": "Es ist in meinem innern moralischen" - warum moralischen? - "Wesen ein kleiner Vorfall geschehen, der mich schnell bestimmt hat, mit dem Eintritt des Frühlings den Sommer über eine Ausflucht zu suchen."
Vor dreißig Jahren war es der gesellschaftskritische Autor Seume, den man für sich entdeckte. Die damals vorgenommenen Standortbestimmungen behalten ihre Gültigkeit. Aber es ist keine Abwertung des politischen Autors, wenn man sich jetzt - wieder - mehr für den Menschen Seume interessiert, dessen Briefe bewegende Dokumente der schwierigen Kunst der Lebensbewältigung sind.
Diese vorzügliche Edition ist das Fundament jeder künftigen Beschäftigung mit Seume. In dieser Hinsicht ist das verdienstvolle Provisorium von Planer und Reißmann glanzvoll ersetzt. In einer anderen freilich nicht: Die Herausforderung einer modernen, die Datenfülle bändigenden und psychologisch bedachtsamen Biographie bleibt bestehen. Man darf hoffen, daß Jörg Drews nach zwanzig Jahren Seume-Forschung noch Elan genug besitzt, auch diesem Mangel abzuhelfen.
MATTHIAS RICHTER
Johann Gottfried Seume: "Werke und Briefe". Band 3: Briefe. Herausgegeben von Jörg Drews und Dirk Sangmeister. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2002. 1232 S., geb., 80,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Diese Briefsammlung des "rastlosen Aufklärers" Johann Gottfried Seume bietet nach Auskunft des Rezensenten Stephan Maus einen spannenden Querschnitt durch alle seine Lebens- und Schaffensphasen und Gemütslagen: "Seine Briefe zeigen Seume in all seinen Facetten". Auch die Aufbereitung der Briefe findet der Rezensent sehr gelungen, vor allem den 500 Seiten langen "kritischen Kommentar", der neben seinem hohen Informationsgehalt vor allem unterhaltsam ist - er lese sich "wie ein historischer Roman in Fragmenten". Und man erfährt nach Maus durch die Briefe, die Seume von seinem 17. Lebensjahr bis zu seinem Tod schrieb, auch eine Menge über den Menschen, über seine Schwierigkeiten mit Frauen, sein Bedürfnis nach soldatischer Strenge, die ihn aber auch nicht davon abbrachte, aus der Armee zu desertieren, und seine ewige Ruhelosigkeit: "Der Heißsporn liebt radikale Gesten und klare Schnitte." Trotzdem war Seume nach Maus' Meinung nach außen hin ein Stoiker. All diese Widersprüche kommen in diesen spannenden Dokumenten aus Seumes Leben zur Geltung - der Rezensent ist beeindruckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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