Zwischen 1989 und 1991 erschien in den Niederlanden die Erstausgabe des Briefwechsels von Johan Huizinga (1872-1945). Über Jahre hatten die Herausgeber Léon Hanssen, Wessel E. Krul und Anton van der Lem die fünf Jahrzehnte umfassende Korrespondenz des bedeutenden niederländischen Kulturhistorikers aus internationalen Archiven zusammengetragen und lesefreundlich kommentiert. Huizingas Briefwechsel ist für die kulturwissenschaftliche Forschung weltweit von Interesse.Der Autor von Mensch und Masse in Amerika und Herbst des Mittelalters, den zeit- und kulturkritischen Schriften Im Schatten von morgen und Verratene Welt und dem Referenztext aller modernen Spieltheorien, Homo Ludens, wird in seinen Briefen auf vielfältige Weise sichtbar: als einflussreiche Persönlichkeit und als Knotenpunkt eines internationalen intellektuellen Netzwerks in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesem Netzwerk begegnen sich bekannte und weniger bekannte, aber einflussreiche Wegbegleiter Huizingas:von Henri Pirenne bis Bronislaw Malinowski, von Menno ter Braak bis Fritz Saxl, von P.S. Allen bis Jaap Kunst, von Richard Koebner bis George Sarton, um nur wenige zu nennen. Die Briefe werden erstmals in deutscher Sprache zugänglich gemacht. Diese Ausgabe ist Teil der von der Niederländischen Stiftung für Literatur geförderten Reihe Huizinga Schriften, die Fink seit 2011 in Neu- und Erstübersetzungen vorlegt.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungEs kann doch das Erlebte nicht alles sein
Ein Gelehrter und Europäer von Format: Die Briefe Johan Huizingas liegen nun in einer exzellenten Edition auf Deutsch vor
Im Mai 1968, als der französische Staatspräsident angesichts der Unruhen in seinem Land sich kurzfristig nach Baden-Baden absetzte, hielt Werner Kaegi in Basel die offizielle Festrede zum 150. Geburtstag Jacob Burckhardts. Kaegi verwies darin auf dessen Vorlesung zum Revolutionszeitalter, in der von der Hoffnung die Rede war, "klaren Kopf zu bewahren und den Mut zu den jeweils nötigen Entscheidungen zu finden".
Sicherlich hätte Kaegi damit seinem lebenslangen Freund und Briefpartner Johan Huizinga (1872-1945), einem der wichtigsten Vertreter der von Sigrid Weigel so genannten "ersten Kulturwissenschaft", aus dem Herzen gesprochen. Denn wie die nunmehr vollständig vorliegende, von Thomas Macho sorgfältig betreute und von Annette Wunschel vorzüglich übersetzte Edition der Briefe des holländischen Historikers zeigen, handelte es sich bei dem Burckhardt-Bewunderer Huizinga um einen Gelehrten, der nicht vor mutigen politischen Entscheidungen zurückscheute, selbst wenn ihm daraus persönliche Nachteile erwuchsen.
So etwa im Fall des in der Brief-Edition ausführlich dokumentierten Skandals um den NS-Propagandisten Johann von Leers, der 1933 die deutsche Delegation bei einer Konferenz des International Student Service in Leiden anführte. Huizinga war damals Rektor der Universität. Als bekannt wurde, dass es sich bei von Leers um den Autor des Buches "Forderung der Stunde: Juden raus!" handelte, schloss er ihn kurzerhand von der Konferenz aus. Diplomatische Verwicklungen waren die Folge: Die deutsche Delegation reiste unter Protest ab; das holländische Außenministerium verlangte Aufklärung; die "Historische Zeitschrift" bereute in einer redaktionellen Notiz, einen Aufsatz Huizingas abgedruckt zu haben; ein Einreise- und Vortragsverbot seitens der Nazis folgten.
Huizinga befand sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Die Briefe geben dem Leser nicht nur ein detailliertes Protokoll seines Aufstiegs zu einem international geachteten Akademiker und als Autor und Redner gefragten Kulturhistoriker. Sie sind zugleich faszinierende Zeugnisse für das Selbstverständnis eines klassischen europäischen Intellektuellen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts: umfassend gebildet, exzellent vernetzt, im Umgang freundlich-sachlich und bescheiden, aber stets leidenschaftlich engagiert für sein "Fach".
Nach seiner Berufung 1914 an die Universität Groningen und 1915 an die Universität Leiden wird er rasch zu einem hochgeachteten Mitglied der überschaubaren intellektuellen und künstlerischen Elite seines Landes; bereits früh arbeitet er an der Kultur- und Literaturzeitschrift "De Gid" mit (trotz seiner Abneigung gegen die "moderne holländische Literatur"). Über den Krieg wie auch über Tagesereignisse überhaupt äußerte er sich hingegen nur ungern (dies gilt selbst für die Zeit der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg). Er konzentriert sich auf sein erstes großes Werk "Herbst des Mittelalters", das ihm internationale Berühmtheit einträgt.
Überschattet wird der rasch wachsende berufliche Erfolg vom frühen Tod seiner ersten Frau 1914. Huizinga wurde dadurch auf einen Schlag zum alleinerziehenden Vater; er widmete sich, wie die Briefen zeigen, seiner Erziehungsaufgabe mit großem Engagement. Erst zwanzig Jahre später wird er wieder heiraten. Seine Liebesbriefe an seine zweite Frau sowie der überschwängliche Vaterstolz auf die späte Tochter zählen sicherlich zu den überraschendsten Briefen der Edition, zeigen sie doch den disziplinierten Gelehrten als einen überschwänglichen Liebhaber, der sein spätes Glück kaum zu fassen vermag und der trotz der Düsternis der Zeit - der Nazi-Okkupation mit seiner Internierung, nachfolgendem Exil, gesundheitlichem Verfall und großer materieller Not - in jedem seiner Briefe an die Familie Teilnahme und aufmunternde Heiterkeit an den Tag legt.
Es fällt auf, dass in den Briefen von den zahlreichen und breitgestreuten Aufsatz- und Buchprojekten Huizingas inhaltlich nur wenig die Rede ist. Fast beiläufig erwähnt er etwa 1917 sein Interesse an den Vereinigten Staaten - und doch entstehen daraus einige Vorlesungen und Bücher sowie, geschrieben auf einer von einer amerikanischen philanthropischen Stiftung gesponserten Gruppenreise durch die Staaten, ein zutiefst ambivalentes Reisetagebuch für seine Kinder.
Keinen Hehl macht Huizinga aus seiner Abneigung gegen jede Theorie der Geschichte oder philosophische "Weltanschauung", weil deren strenges "clare et distincte" stets "tödlich" wirke. Dagegen setzt er ein Buch wie den "Homo Ludens", in dem er sich in einer "Mischung aus Skepsis und Ehrfurcht" in "Begriffsaskese" übe, als Autor überdies, der "nie ein eignes Gebiet gefunden hat", auf dem er "zu Hause ist und bleiben möchte", so in einem Brief aus dem Jahr 1932.
Zwar ist der Kulturwissenschaftler Huizinga bereit, die Scheidewände zwischen den Kultursphären konsequent einzureißen - der Künstler gilt ihm so viel wie der Wissenschaftler oder Philosoph -, doch sieht er sich zugleich als ein "naiver Historiker", der "auf die Gegenwart pfeifen" darf, weil er über einen "direkten", sozusagen "musikalischen" Kontakt zur Vergangenheit verfüge. Zugleich fühlt er sich mit einem "starken metaphysischen Instinkt" ausgestattet, dass "das Irdische nicht alles ist" und "dicht hinter allem, was wir wahrnehmen und erleben, noch was anderes ist", wie er 1929 schreibt.
Huizinga starb im Januar 1945, im "Hungerwinter" vor der Befreiung der besetzten Teile Hollands. Er hat die Europa-Bewegung der Nachkriegszeit also nicht erleben und fördern können. Man wird vermuten dürfen, dass ihm so etwas wie ein kultureller Schengen-Raum vorgeschwebt hätte - nach dem Vorbild seines geliebten Burgunds zu Zeiten von Philipp dem Guten und Karl dem Kühnen. Gerade dieses selbstverständliche geistige und menschliche Europäertum macht seine Briefe heute lesenswert.
MATTHIAS KROSS
Johan Huizinga: "Briefe I" (1894-1927)/ "Briefe II" (1928-1945).
Aus dem Niederländischen von Annette Wunschel. Hrsg. und mit einem Nachwort von Thomas Macho. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016/2017. 437 S. / 624 S., Abb., geb., 39,90 / 69,- [Euro].
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Ein Gelehrter und Europäer von Format: Die Briefe Johan Huizingas liegen nun in einer exzellenten Edition auf Deutsch vor
Im Mai 1968, als der französische Staatspräsident angesichts der Unruhen in seinem Land sich kurzfristig nach Baden-Baden absetzte, hielt Werner Kaegi in Basel die offizielle Festrede zum 150. Geburtstag Jacob Burckhardts. Kaegi verwies darin auf dessen Vorlesung zum Revolutionszeitalter, in der von der Hoffnung die Rede war, "klaren Kopf zu bewahren und den Mut zu den jeweils nötigen Entscheidungen zu finden".
Sicherlich hätte Kaegi damit seinem lebenslangen Freund und Briefpartner Johan Huizinga (1872-1945), einem der wichtigsten Vertreter der von Sigrid Weigel so genannten "ersten Kulturwissenschaft", aus dem Herzen gesprochen. Denn wie die nunmehr vollständig vorliegende, von Thomas Macho sorgfältig betreute und von Annette Wunschel vorzüglich übersetzte Edition der Briefe des holländischen Historikers zeigen, handelte es sich bei dem Burckhardt-Bewunderer Huizinga um einen Gelehrten, der nicht vor mutigen politischen Entscheidungen zurückscheute, selbst wenn ihm daraus persönliche Nachteile erwuchsen.
So etwa im Fall des in der Brief-Edition ausführlich dokumentierten Skandals um den NS-Propagandisten Johann von Leers, der 1933 die deutsche Delegation bei einer Konferenz des International Student Service in Leiden anführte. Huizinga war damals Rektor der Universität. Als bekannt wurde, dass es sich bei von Leers um den Autor des Buches "Forderung der Stunde: Juden raus!" handelte, schloss er ihn kurzerhand von der Konferenz aus. Diplomatische Verwicklungen waren die Folge: Die deutsche Delegation reiste unter Protest ab; das holländische Außenministerium verlangte Aufklärung; die "Historische Zeitschrift" bereute in einer redaktionellen Notiz, einen Aufsatz Huizingas abgedruckt zu haben; ein Einreise- und Vortragsverbot seitens der Nazis folgten.
Huizinga befand sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Die Briefe geben dem Leser nicht nur ein detailliertes Protokoll seines Aufstiegs zu einem international geachteten Akademiker und als Autor und Redner gefragten Kulturhistoriker. Sie sind zugleich faszinierende Zeugnisse für das Selbstverständnis eines klassischen europäischen Intellektuellen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts: umfassend gebildet, exzellent vernetzt, im Umgang freundlich-sachlich und bescheiden, aber stets leidenschaftlich engagiert für sein "Fach".
Nach seiner Berufung 1914 an die Universität Groningen und 1915 an die Universität Leiden wird er rasch zu einem hochgeachteten Mitglied der überschaubaren intellektuellen und künstlerischen Elite seines Landes; bereits früh arbeitet er an der Kultur- und Literaturzeitschrift "De Gid" mit (trotz seiner Abneigung gegen die "moderne holländische Literatur"). Über den Krieg wie auch über Tagesereignisse überhaupt äußerte er sich hingegen nur ungern (dies gilt selbst für die Zeit der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg). Er konzentriert sich auf sein erstes großes Werk "Herbst des Mittelalters", das ihm internationale Berühmtheit einträgt.
Überschattet wird der rasch wachsende berufliche Erfolg vom frühen Tod seiner ersten Frau 1914. Huizinga wurde dadurch auf einen Schlag zum alleinerziehenden Vater; er widmete sich, wie die Briefen zeigen, seiner Erziehungsaufgabe mit großem Engagement. Erst zwanzig Jahre später wird er wieder heiraten. Seine Liebesbriefe an seine zweite Frau sowie der überschwängliche Vaterstolz auf die späte Tochter zählen sicherlich zu den überraschendsten Briefen der Edition, zeigen sie doch den disziplinierten Gelehrten als einen überschwänglichen Liebhaber, der sein spätes Glück kaum zu fassen vermag und der trotz der Düsternis der Zeit - der Nazi-Okkupation mit seiner Internierung, nachfolgendem Exil, gesundheitlichem Verfall und großer materieller Not - in jedem seiner Briefe an die Familie Teilnahme und aufmunternde Heiterkeit an den Tag legt.
Es fällt auf, dass in den Briefen von den zahlreichen und breitgestreuten Aufsatz- und Buchprojekten Huizingas inhaltlich nur wenig die Rede ist. Fast beiläufig erwähnt er etwa 1917 sein Interesse an den Vereinigten Staaten - und doch entstehen daraus einige Vorlesungen und Bücher sowie, geschrieben auf einer von einer amerikanischen philanthropischen Stiftung gesponserten Gruppenreise durch die Staaten, ein zutiefst ambivalentes Reisetagebuch für seine Kinder.
Keinen Hehl macht Huizinga aus seiner Abneigung gegen jede Theorie der Geschichte oder philosophische "Weltanschauung", weil deren strenges "clare et distincte" stets "tödlich" wirke. Dagegen setzt er ein Buch wie den "Homo Ludens", in dem er sich in einer "Mischung aus Skepsis und Ehrfurcht" in "Begriffsaskese" übe, als Autor überdies, der "nie ein eignes Gebiet gefunden hat", auf dem er "zu Hause ist und bleiben möchte", so in einem Brief aus dem Jahr 1932.
Zwar ist der Kulturwissenschaftler Huizinga bereit, die Scheidewände zwischen den Kultursphären konsequent einzureißen - der Künstler gilt ihm so viel wie der Wissenschaftler oder Philosoph -, doch sieht er sich zugleich als ein "naiver Historiker", der "auf die Gegenwart pfeifen" darf, weil er über einen "direkten", sozusagen "musikalischen" Kontakt zur Vergangenheit verfüge. Zugleich fühlt er sich mit einem "starken metaphysischen Instinkt" ausgestattet, dass "das Irdische nicht alles ist" und "dicht hinter allem, was wir wahrnehmen und erleben, noch was anderes ist", wie er 1929 schreibt.
Huizinga starb im Januar 1945, im "Hungerwinter" vor der Befreiung der besetzten Teile Hollands. Er hat die Europa-Bewegung der Nachkriegszeit also nicht erleben und fördern können. Man wird vermuten dürfen, dass ihm so etwas wie ein kultureller Schengen-Raum vorgeschwebt hätte - nach dem Vorbild seines geliebten Burgunds zu Zeiten von Philipp dem Guten und Karl dem Kühnen. Gerade dieses selbstverständliche geistige und menschliche Europäertum macht seine Briefe heute lesenswert.
MATTHIAS KROSS
Johan Huizinga: "Briefe I" (1894-1927)/ "Briefe II" (1928-1945).
Aus dem Niederländischen von Annette Wunschel. Hrsg. und mit einem Nachwort von Thomas Macho. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016/2017. 437 S. / 624 S., Abb., geb., 39,90 / 69,- [Euro].
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