Rainer Maria Rilkes umfangreicher Briefwechsel gilt neben seinen Dichtungen als bedeutender Bestandteil seines Werkes. Der Briefwechsel mit Edith von Bonin war bisher weitgehend unbekannt.Durch seinen Freund und Gönner Karl von der Heydt lernte Rilke 1907 in Paris dessen Halbschwester, die Malerin Edith von Bonin, kennen. Besonders in den Jahren von 1908 bis 1911, als Rilke wie auch Edith von Bonin in dem von zahlreichen Künstlern, u. a. Auguste Rodin, als Atelier und Quartier genutzten Hôtel Biron wohnten, entwickelte sich ein intensiverer Kontakt, der auch nach beider Pariser Zeit über den Ersten Weltkrieg hinaus bis 1919 anhielt. Einmal mehr illustriert der Briefwechsel Rilkes Jahre in Paris, gibt aber auch Einblick in die Zeit am Ende des Ersten Weltkriegs. Es finden sich Hinweise auf Menschen sowie auf Werke der Literatur und der bildenden Kunst, mit denen sich Rilke in diesen Jahren beschäftigte und über die er sich mit Edith von Bonin und dem gemeinsamen kunstverständigen Freundschaftsumfeld, darunter Karl von der Heydt, Mathilde Vollmoeller und Erica von Scheel, austauschte.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Auch wenn Rezensentin Nicola Behrmann den Briefwechsel zwischen Dichter Rainer Maria Rilke und Künstlerin Edith von Bonin nicht ganz so aufregend findet wie etwa den zwischen Rilke und Lou Andreas-Salomé, begibt sie sich gerne in den Kosmos des Hôtel Biron einige Jahre nach der Jahrhundertwende. Dort haben die beiden eine zeitlang nahe beieinander gelebt, zusammen mit Rilkes Ehefrau Clara Westhoff und Rodin. Diesen Alltag verfolgt Behrmann in den Briefen, deren kluge Einordnung durch die beiden Herausgebenden sie lobt. Verständlich machen sie ihr auch, wie Rilke in dieser "vornehm träumenden Welt", in der er "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" schrieb, "zum Meister" wurde. Eine Empfehlung allemal wert, meint die Kritikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2023Einsame in ihrer Nacht
Vornehm träumen: Der Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und der Malerin Edith von Bonin
Eine Fotografie aus dem Jahr 1908 zeigt Rilke in einem hohen Raum, auf einem Lehnstuhl vor einem mächtigen Schreibtisch sitzend. Leicht vorgebeugt, blickt der Dichter des "Stundenbuchs" am Tisch knapp vorbei, wie gefangen von der grandiosen Leere des Saals. Die Aufnahme entstand im Hôtel Biron in Paris, einem ehemaligen Mädchenpensionat, dessen Räume bis zur endgültigen Klärung der Besitzverhältnisse eine Zeit lang angemietet werden konnten. Rilke, der 1908 zwei Zimmer im Erdgeschoss bezog und mit Unterbrechungen bis 1911 blieb, hatte den Hinweis auf diese Unterkunft von der Malerin Edith von Bonin erhalten, die sich hier ebenfalls einmietete.
Edith von Bonin, eine Stiefschwester des Bankiers und Rilke-Mäzens Karl von der Heydt, war eine finanziell unabhängige Künstlerin und Sammlerin. Sie verehrte den erst kürzlich verstorbenen Paul Cézanne und wollte von Auguste Rodin lernen. Das wollte auch Rilkes Ehefrau Clara Westhoff, die aus Norddeutschland anreiste und ebenfalls zwei Monate hier arbeitete. Nicht Rilke war die große Attraktion des Hôtel Birons, sondern Rodin, für den Rilke selbst noch im Vorjahr kurz als Sekretär gearbeitet hatte. Rodin mietete gleich mehrere Zimmer und machte zur Befestigung seines Nachruhms aus dem Hôtel Biron von 1916 an das Musée Rodin.
Der im Wallstein Verlag erschienene, schön ausgestattete und von Ulrich und Susanne Freund sorgfältig edierte Briefwechsel zwischen Rilke und Edith von Bonin gibt Einblick in diese ungewöhnliche Zweck-WG. Denn die Korrespondenz - 54 Briefe von Rilke und 26 von Bonin - ist am dichtesten, als beide im Hôtel Biron wohnten; sie versiegt endgültig 1919 in den Wirren der Münchener Revolution.
Von der Intensität der bekannten Rilke-Briefwechsel, die wie Schmuckkästchen in Einzelausgaben erschienen sind, ist dieser weit entfernt. Edith von Bonin war weder intime Freundin wie Lou Andreas-Salomé noch Mäzenin wie Marie von Thurn und Taxis oder schwärmerische Verehrerin wie Magda von Hattingberg. Ihre Briefe sind eher von respektvoller Distanz geprägt. Bücher, Kunst- und Literaturzeitschriften werden ausgetauscht, Verabredungen zum Nachmittagstee getroffen und Hinweise zu laufenden Ausstellungen oder sich ankündigenden Besuchern gegeben - der Geist des katholischen Mädchenpensionats scheint noch zu wehen. In der noblen Askese des Hôtel Biron, dessen hohe Räume im Winter kaum zu beheizen waren, schrieb Rilke in einem "Rausch der Gestaltung" (Lou Andreas-Salomé) seine Requien für die verstorbenen Freunde Paula Modersohn-Becker und Graf Wolf von Kalckreuth und den zweiten Teil seines Romans "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge". Edith von Bonin wiederum kopierte die Stillleben Cézannes und reiste auf dessen Spuren (und unter Rilkes sachkundigen touristischen Hinweisen) nach Aix-en-Provence. Clara Westhoff schuf die Büste ihrer Freundin Paula Modersohn-Becker und eine wohl unvollendete Büste Edith von Bonins.
Mit Westhoff, die bereits seit Jahren von Rilke getrennt lebte, und Bonin lebten zwei Künstlerinnen eine Etage über dem Dichter, die ihm weder mütterlich noch mädchenhaft zugewandt, sondern geistig eigenständig waren. Als in den Kunstsammlungen vor einer Staffelei frierende, sich als Kopistinnen der großen Meister betätigende Malmädchen, die ihren bürgerlichen Familien entlaufen sind, hat ihnen Rilke im "Malte Laurids Brigge" ein unfaires Denkmal gesetzt.
Dass er im Hôtel Biron das moderne "Sehen lernte", von dem im Roman die Rede ist, dass er sich hier allmählich von Rodin distanzierte und Cézanne zuwandte, geht aus den Briefen zwar nicht hervor. Dafür wird aber die Lebenswelt lebendig, vor deren Hintergrund sich Rilke wie von Bonin darum bemühten, die Wahrheit in den abgebildeten Dingen zutage treten lassen. Durch die Hintertür dieser temporär geteilten, vornehm träumenden Welt wird nachvollziehbar, auf welche Weise Rilke sich im Hôtel Biron zum Meister machte. Das ist nicht zuletzt den sachlichen und unaufdringlichen Kommentaren der Herausgeber zu verdanken, die den Kontext jedes Briefes erschließen und es vermeiden, voreilige Schlüsse aus biographischen Lücken zu ziehen.
Wer nach Lektüre der Briefausgabe den "Malte Laurids Brigge" zur Hand nimmt, wird das Hôtel Biron darin leicht wiederfinden. In dessen hohen Zimmern, die auf den verwilderten Park hinausgingen, befand sich oft eine Schale mit Früchten auf der Fensterbank. Cézanne hätte sie malen können, und Rilkes Malte betrachtet sie andächtig: "Wie steht mein Leben herum um diese Frucht, denkt er. Um alles Fertige steigt das Ungetane und steigert sich."
Hergebrachtes und Unvollendetes, Original und Kopie, Erfahrung und Nachvollzug trennen im Hôtel Biron nur eine dünne Wand. Sie ist vergleichbar mit der unsicheren Scheidelinie zwischen einem Künstler, der die Dinge neu sehen lehrt, und einem Kopisten, der etwas Gelerntes verinnerlicht. Oder mit dem feinen Unterschied zwischen einem aristokratischen Künstler und einer Kunst schaffenden Gräfin. NICOLA BEHRMANN
Rainer Maria Rilke, Edith von Bonin:
"Briefwechsel 1907-1919".
Hrsg. von Susanne
und Ulrich Freund.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2022. 208 S., Abb., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vornehm träumen: Der Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und der Malerin Edith von Bonin
Eine Fotografie aus dem Jahr 1908 zeigt Rilke in einem hohen Raum, auf einem Lehnstuhl vor einem mächtigen Schreibtisch sitzend. Leicht vorgebeugt, blickt der Dichter des "Stundenbuchs" am Tisch knapp vorbei, wie gefangen von der grandiosen Leere des Saals. Die Aufnahme entstand im Hôtel Biron in Paris, einem ehemaligen Mädchenpensionat, dessen Räume bis zur endgültigen Klärung der Besitzverhältnisse eine Zeit lang angemietet werden konnten. Rilke, der 1908 zwei Zimmer im Erdgeschoss bezog und mit Unterbrechungen bis 1911 blieb, hatte den Hinweis auf diese Unterkunft von der Malerin Edith von Bonin erhalten, die sich hier ebenfalls einmietete.
Edith von Bonin, eine Stiefschwester des Bankiers und Rilke-Mäzens Karl von der Heydt, war eine finanziell unabhängige Künstlerin und Sammlerin. Sie verehrte den erst kürzlich verstorbenen Paul Cézanne und wollte von Auguste Rodin lernen. Das wollte auch Rilkes Ehefrau Clara Westhoff, die aus Norddeutschland anreiste und ebenfalls zwei Monate hier arbeitete. Nicht Rilke war die große Attraktion des Hôtel Birons, sondern Rodin, für den Rilke selbst noch im Vorjahr kurz als Sekretär gearbeitet hatte. Rodin mietete gleich mehrere Zimmer und machte zur Befestigung seines Nachruhms aus dem Hôtel Biron von 1916 an das Musée Rodin.
Der im Wallstein Verlag erschienene, schön ausgestattete und von Ulrich und Susanne Freund sorgfältig edierte Briefwechsel zwischen Rilke und Edith von Bonin gibt Einblick in diese ungewöhnliche Zweck-WG. Denn die Korrespondenz - 54 Briefe von Rilke und 26 von Bonin - ist am dichtesten, als beide im Hôtel Biron wohnten; sie versiegt endgültig 1919 in den Wirren der Münchener Revolution.
Von der Intensität der bekannten Rilke-Briefwechsel, die wie Schmuckkästchen in Einzelausgaben erschienen sind, ist dieser weit entfernt. Edith von Bonin war weder intime Freundin wie Lou Andreas-Salomé noch Mäzenin wie Marie von Thurn und Taxis oder schwärmerische Verehrerin wie Magda von Hattingberg. Ihre Briefe sind eher von respektvoller Distanz geprägt. Bücher, Kunst- und Literaturzeitschriften werden ausgetauscht, Verabredungen zum Nachmittagstee getroffen und Hinweise zu laufenden Ausstellungen oder sich ankündigenden Besuchern gegeben - der Geist des katholischen Mädchenpensionats scheint noch zu wehen. In der noblen Askese des Hôtel Biron, dessen hohe Räume im Winter kaum zu beheizen waren, schrieb Rilke in einem "Rausch der Gestaltung" (Lou Andreas-Salomé) seine Requien für die verstorbenen Freunde Paula Modersohn-Becker und Graf Wolf von Kalckreuth und den zweiten Teil seines Romans "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge". Edith von Bonin wiederum kopierte die Stillleben Cézannes und reiste auf dessen Spuren (und unter Rilkes sachkundigen touristischen Hinweisen) nach Aix-en-Provence. Clara Westhoff schuf die Büste ihrer Freundin Paula Modersohn-Becker und eine wohl unvollendete Büste Edith von Bonins.
Mit Westhoff, die bereits seit Jahren von Rilke getrennt lebte, und Bonin lebten zwei Künstlerinnen eine Etage über dem Dichter, die ihm weder mütterlich noch mädchenhaft zugewandt, sondern geistig eigenständig waren. Als in den Kunstsammlungen vor einer Staffelei frierende, sich als Kopistinnen der großen Meister betätigende Malmädchen, die ihren bürgerlichen Familien entlaufen sind, hat ihnen Rilke im "Malte Laurids Brigge" ein unfaires Denkmal gesetzt.
Dass er im Hôtel Biron das moderne "Sehen lernte", von dem im Roman die Rede ist, dass er sich hier allmählich von Rodin distanzierte und Cézanne zuwandte, geht aus den Briefen zwar nicht hervor. Dafür wird aber die Lebenswelt lebendig, vor deren Hintergrund sich Rilke wie von Bonin darum bemühten, die Wahrheit in den abgebildeten Dingen zutage treten lassen. Durch die Hintertür dieser temporär geteilten, vornehm träumenden Welt wird nachvollziehbar, auf welche Weise Rilke sich im Hôtel Biron zum Meister machte. Das ist nicht zuletzt den sachlichen und unaufdringlichen Kommentaren der Herausgeber zu verdanken, die den Kontext jedes Briefes erschließen und es vermeiden, voreilige Schlüsse aus biographischen Lücken zu ziehen.
Wer nach Lektüre der Briefausgabe den "Malte Laurids Brigge" zur Hand nimmt, wird das Hôtel Biron darin leicht wiederfinden. In dessen hohen Zimmern, die auf den verwilderten Park hinausgingen, befand sich oft eine Schale mit Früchten auf der Fensterbank. Cézanne hätte sie malen können, und Rilkes Malte betrachtet sie andächtig: "Wie steht mein Leben herum um diese Frucht, denkt er. Um alles Fertige steigt das Ungetane und steigert sich."
Hergebrachtes und Unvollendetes, Original und Kopie, Erfahrung und Nachvollzug trennen im Hôtel Biron nur eine dünne Wand. Sie ist vergleichbar mit der unsicheren Scheidelinie zwischen einem Künstler, der die Dinge neu sehen lehrt, und einem Kopisten, der etwas Gelerntes verinnerlicht. Oder mit dem feinen Unterschied zwischen einem aristokratischen Künstler und einer Kunst schaffenden Gräfin. NICOLA BEHRMANN
Rainer Maria Rilke, Edith von Bonin:
"Briefwechsel 1907-1919".
Hrsg. von Susanne
und Ulrich Freund.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2022. 208 S., Abb., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»schön ausgestattet( ) und von Ulrich und Susanne Freund sorgfältig ediert ( ) (...). Durch die Hintertür dieser temporär geteilten, vornehm träumenden Welt wird nachvollziehbar, auf welche Weise Rilke sich im Hôtel Biron zum Meister machte. Das ist nicht zuletzt den sachlichen und unaufdringlichen Kommentaren der Herausgeber zu verdanken, die den Kontext jedes Briefes erschließen und es vermeiden, voreilige Schlüsse aus biographischen Lücken zu ziehen.« (Nicola Behrmann, FAZ, 23.02.2023) »Rilke (...) stellt sich als Poet der höchsten Empfindsamkeit vor, als zarte, sensible, vielleicht bisweilen lyrisch entrückte Seele« (Thorsten Paprotny, literaturkritik.de, 21.03.2023) »Der Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und Edith von Bonin kommt insgesamt schlicht daher (...) dennoch darf dieser erste Eindruck nicht darüber hinwegtäuschen, wie kenntnisreich, klar und zugleich gewissenhaft Ulrich und Susanne Freund in Zusammenarbeit mit dem Wallstein Verlag hier ediert haben. Das ist vorbildlich und zeigt einmal mehr, wie ein gut gelungener Kommentar auch scheinbar nebensächliche Briefkonvolute zu lesenswerten Zeitdokumenten werden lässt.« (Arne Grafe, Blätter der Rilke-Gesellschaft, September 2024)