Ein Ausbruch aus der trügerischen Idylle der Kleinstadt Ingolstadt in das Boheme -und Theater-Leben Berlins - und zurück: Das Lebensdrama Marieluise Fleißers spielt sich an wenigen, aber prägenden Orten und in intensiven Brief-Kontakten ab. Ihre Korrespondenz mit Bertolt Brecht, Joseph Breitbach, Rainer Werner Fassbinder, Lion Feuchtwanger, Richard Friedenthal, Therese Giehse, Elisabeth Hauptmann, Herbert Jhering, Erich Kastner, Wolfgang Koeppen, Robert Musil, Kurt Pinthus, Martin Sperr, Helene Weigel und vielen mehr zeigt, wie eng und auf wie zwiespältige Weise Leben und Werk dieser Autorin zusammenhängen. Marieluise Fleißer sucht zur Entwicklung ihres eigenen Schreibens früh die Nähe von Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht, gewinnt Anschluß an die linke Avantgarde ihrer Zeit, ist durchweg von Exzentrikern und Außenseitern fasziniert - und immer auf der Suche nach dem glücklichen Zustand des Schreibenkönnens: »Ich will schreiben, ich will endlich wieder schreiben können.« Fleißers Beziehungen zu Männern sind leidenschaftlich und kippen doch unausweichlich in ein für sie fatales Ungleichgewicht um: Brecht verhilft ihrem Fegefeuer in Ingolstadt zu Erfolg und stürzt die 27jährige dann in einen Theater-Skandal. »Brechtsche Früchte schmecken bitter«, schreibt sie 1934. Der rechtsnational orientierte, erfolglose Schriftsteller und Egozentriker Hellmut Draws-Tychsen entfremdet Fleißer ihrem kreativen Milieu, beraubt sie ihrer künstlerischen und finanziellen Freiheit, vereinnahmt sie ganz. Georg Hetzelem rückt ihr, wie seine Zeichnungen und ihre Briefe erzählen, erotisch nahe, inspiriert sie zu Versen, entscheidet sich aber schließlich für eine andere Frau. Auf sein Drängen heiratet Marieluise Fleißer schließlich jenen Jugendfreund Josef Haindl, dessen wild wuchernde Liebesbriefe ein Kernstück dieser Sammlung bilden. Ein »der Not abgerungener Schritt« mit lähmenden, ja quälenden Folgen. Doch: »Ein schmerzfreies Leben gibt es nicht«, resümiert Fleißer 1964.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001Frauen stolpern, Männer schauen
Wenn das Warten aufgebraucht ist: Zum Briefwechsel von Marieluise Fleißer / Von Marlene Streeruwitz
Im Trailer zur Fernsehserie "Sex and the City" schaut dieser gutaussehende Mann der Schauspielerin Sarah Jessica Parker nach. Die Kamera übernimmt seinen Blick auf die Schauspielerin. Die stöckelt auf sehr hohen Absätzen weg. Kippt. Fällt fast. Fängt sich gerade noch. Streicht ihren weißen Rock zurecht. Und schaut verwirrt entschuldigend über die Schulter auf den ihr nachsehenden Mann zurück. Der Blick dieses Mannes, den wir mit Hilfe der Kameraeinstellung übernehmen. Und mit dem wir auf den entschuldigenden Blick der Frau sehen. Dieser Blick ist die Anleitung, wie diese Fernsehserie zu lesen ist.
Unterhaltung und Reaktionäres sind darauf angewiesen, als Unterhaltung und Reaktionäres gelesen zu werden. Der Marktwert entscheidet sich an dieser Eindeutigkeit. Deshalb gibt es die sofort entschlüsselbaren Textformate. Und jede Menge Leseanleitungen. Die Lesehilfe im Trailer von "Sex and the City" steht in der Tradition der amerikanischen Fernsehserie für die Frau von 26 bis 38. Frauen sind da immer sehr dünn. Meistens mit großem Busen. Sie bleiben immer kleine Mädchen. Sie bleiben immer daddy's little girl, das immer noch und immer wieder und nach noch so vielen Studienabschlüssen und Erfolg im Beruf peinliche Sachen macht. Sie bleibt immer ein bißchen peinlich. Aber, Unterhaltung muß auf reaktionären Geschlechterrollen bestehen. Wo sollte sie sonst herkommen. Die Unterhaltung. Immer neue und immer lustigere Beschreibungen der Geschlechterdifferenz. Unterhaltung kann sich ja auf den phallischen Blick aller Leserinnen und Leser verlassen. Darauf, daß eine je neue Rekonstruktion der patriarchalen Mythen einem anderen Blick keine Möglichkeit läßt.
In der editorischen Notiz zu Marieluise Fleißers Briefwechsel lautet die Leseanleitung: "Die Auswahl der Briefe geschah im Hinblick auf das überlieferte literarische Werk; sie geben Einblick in dessen Hintergrund und den oft nur vorübergehend aufgehellten, schmerzhaften Lebensvollzug."
Den Blick der Kamera auf die peinlich stolpernde Frau. Den gibt es nämlich auch in der E-Fassung. Es gibt auch tragische Unterhaltung. Da heißt der Blick dann biographische Deutung. Biographische Dokumente belegen die Peinlichkeiten. Und so sehen wir dann mit der E-Fassung dieses Blicks auf die Dokumente, die die Wirkung dieses Blicks schon im Leben der Dokumentierten beschreiben. Hier im "schmerzhaften Lebensvollzug" einer Autorin.
Ist aber nun das Leben einer Autorin der Hintergrund ihres literarischen Werks? Wäre das der Fall, das Studium der Briefe wäre literarkritische Pflicht. Aber ist das so? So einfach? Löscht die literarische Bedeutung der Texte einer Autorin den patriarchalen Blick auf sie? Auf sie als Person. Als Frau. Auf die Erinnerung an sie. Kann die Autorin über die literarische Bedeutung in den Heldenhimmel der Klassiker aufsteigen.
Beim Klassiker kann das Geschlecht vergessen werden, weil er ein Mann ist. Und dieses Vergessen macht ihn gleichzeitig zum Klassiker. Für die Frau in der Literatur funktioniert das nicht. Ihr Geschlecht wird nicht vergessen, weil sie kein Mann ist. Und so unrichtig es wäre, die weiblichen Lebensläufe zu verschweigen, die Märtyrerinnenmythologien der Heldinnenschaft schreiben diese Differenz fort. Zementieren sie. Darin ist der "schmerzliche Lebensvollzug" dann wieder klassisch.
In einem literarischen Betrieb, in dem der Autor sich heute - zu seinem Nutzen - auf seine Männlichkeit berufen kann, indem er ein bisserl grantig über die Groupies wehklagt. In einem literarischen Betrieb, der es immer schmunzelnd akzeptierte, daß dieser Betrieb mit Gynäkologie gleichauf lag in der Möglichkeit, an Frauen heranzukommen. In diesem literarischen Betrieb, in dem Literaturkritik von Altherrenwitzen manchmal schwer zu unterscheiden ist. In diesem literarischen Betrieb ist es mit der Überwindung der Geschlechterdifferenz nicht weit her. Im Gegenteil.
Der Blick auf das Leben der Autorin als Hintergrund des Werks wird im besten Fall paternalistisch gefärbt sein. Aber das ist dann auch nur eines der gängigen Mißverständnisse der Trauerarbeit. Wenn der "schmerzvolle Lebensvollzug" weihevoll geplündert wird. Wenn die betrauerte Person über Erinnerung verständlich werden soll. Verstehbar. Und es immer nur um die Trauernden geht. Und nie um die Betrauerten. Wenn es darum geht, dieses fremde Leben zu entschlüsseln. Zu entzaubern. Um sich dieses vermeintlich verstandene fremde Leben einzuverleiben. Das ist Menschenfresserei. Eigentlich. Aber dieser Zweig des Kulturbetriebs ernährt ja auch viele. Im jeweils frommen Angedenken.
Im Fall von Marieluise Fleißer ist das alles ganz einfach. Gerade weil Marieluise Fleißers Texte so deutlich aus ihrem Leben schöpfen, verschließen sie sich einer einfachen biographischen Deutung. Es ist ja ebendiese Fassung in den Text, mit der die Abtrennung vom Privaten vollzogen wird. Es ist dann nur noch anekdotisch, wenn in der Erzählung "Avantgarde" der Dichter Brecht ist. Der Nickl ihr Ehemann. Und der Jude Lion Feuchtwanger. In der Figur der Cilly Obermeier wird der Blick gedreht. In dieser Figur werden die Auswirkungen des patriarchalen Blicks auf die literarische Figur beschrieben. In der literarischen Autonomie dieser Figur entwindet die Autorin ihre Person für die Dauer des Textes diesem Blick, der das Stolpern geradezu verlangt. Und ob die Geschichte mit Nickl nun eine Befreiung von Brecht oder von Draws-Tychsen oder vom Dichter der Erzählung ist. Es geht um die Befreiung und nicht um reale Personen. Und die Befreiung der Cilly Obermeier. Die ist taumelnd genug. Wird doch in dieser Literatur der weite Weg von der Erkenntnis bis zu ihrer Verwirklichung über alle Gefühle und Prägungen hinweg beschrieben. Und wie Freiheit sich nur in kleinen Splittern ins Leben zerren läßt. Das ist die Geschichte aller Aufklärung. Der lange Weg, eine Vorstellung zu entwerfen, deren Denken schon über alles Erlernte hinausgeht, und diesen Entwurf ins Leben zwingen zu wollen. Gegen alle geschichtliche Umgebung. Und gegen alle Partner, die solchen Entwürfen gegenüber sehr theoretisch bleiben. Denen die Macht ohnehin strukturell zusteht.
Was einen in diesen Texten literarisch betreffen darf. Ja, betreffen soll. Das muß einem als Anekdote fremd bleiben. Denn das private, "echte" Schicksal der Person ist hermetisch. Das ist die Fremde der anderen Person und löst in der notwendigen Lückenhaftigkeit höchstens Vermutungen aus. Ahnungen. Tratsch hat auch keine anderen Eltern. Als Vermutungen und Ahnungen.
Im literarischen Text dagegen wird die Lücke zu der Schnittstelle, an der der Leser und die Leserin Schicksal auf sich beziehen können. Müssen. In der Lücke wird die Hermetik aufgehoben. Ist der Vorgang der Rückführung des Textes auf einen selber möglich. Nicht Vermutungen. Nicht Ahnungen. Das Weiterschreiben des Literarischen ist verlangt. Der Schmerz des sich immer wieder in Abhängigkeit Begebens muß gefühlt werden. Die Qual des Begehrens. Die Dauer von Warten. Die grenzenlose Leere der Nichterfüllung. Die Flucht zum Nächsten. Zum anderen, wenn das Warten aufgebraucht ist. Und es dann dem Nächsten auch nicht sagen können. Sich auch dem nicht mitteilen können. Nie seine Sprechlosigkeit zu durchbrechen. Das alles ist notwendiger Beitrag des Lesens der Texte. Und knüpft da an, wo die Autorin den Text an den Leser und die Leserin übergibt.
Alle diese Gefühle. Einer unbekannten Person gegenüber wären sie ein Übergriff. Konstruktion einer Person aus den eigenen Erfahrungen. Der Person Marieluise Fleißer stülpte sich pure Interpretation über. Wie einer oder eine jeweils solche Briefe halt liest. Lesen will. Oder kann. Ausgehend vom Jugendbildnis auf dem Umschlag, begänne diese Konstruktion und verwehrte der Autorin jeden Zugriff auf Aussagen. Das Leben würde ins Werk zurückgeschrieben werden, obwohl die Autorin die besondere Realität des Texts als Äußerungsform unternommen hat.
Oder soll gerade das ausgemessen werden. Der Abstand vom Literarischen zum Leben. Sollte der Blick auf dieses Stolpern gerichtet werden. Wie der "schmerzvolle Lebensvollzug" mit dem Schreiben kollidierte. Sollte die Person von der Autorin subtrahiert werden und dann nachgemessen, was übrigbleibt. Denn. Kann die plane Beschreibung der diversen Pygmalionaden etwas anderes als die Wiederholung dieser Pygmalionaden werden? Die Konstruktion der Autorin. Die geht ja schon gleich los, wenn Luise Fleißer zuerst einmal alles verbrennt, was sie geschrieben hat. Weil Lion Feuchtwanger ihre Texte nicht gut findet. Weil es ihm zu expressionistisch ist. Und das geht weiter, wenn Lion Feuchtwanger aus der Luise die Marieluise macht. Sie neu benennt. Und "durchgesetzt hat es, allerdings von mir immer wieder angefeuert, Brecht". Das Werk allein reichte auch 1972 noch nicht. Das zwanzigjährige Verlegerjubiläum muß den Entschluß zur Gesamtausgabe mitbegründen. Aber. So ist das mit den schreibenden Frauen. "Dichterinnen sind oft scheu und empfindlich zugleich."Sie können nicht mit der Heldenstatur des schreibenden Manns getröstet werden. Und das Leben von Frauen. Das Private von Frauen. Daraus läßt sich keine Aura basteln. Das bleibt immer von diesem Blick beschwert. Ins Stolpernde zurückgestoßen. Und dabei helfen alle gerne mit. Die Verleger. Die Kritiker. Die Geliebten. Die Dramaturgen. Die Regisseure. Die Kollegen. "Sie selber wollte auch schreiben . . . Mit diesem Wollen geriet sie an ihn und wurde ganz stark gebrochen."
Warum also sollte frau diese Briefe lesen. Diese Briefe an Marieluise Fleißer oder von ihr. Die mit ihrem Werk etwas zu tun haben. Und vielleicht sind ja die nicht veröffentlichten die interessanteren.
Eine Berechtigung, sich in dieses Leben zu drängen, läge darin, diese Briefsammlung als Dokument der Bedingung des Schreibens zu lesen. Des Schreibens einer Frau. Das hieße aber, den Blick zu wenden. Das hieße, den Blick von außen aufzugeben und von innen heraus nach außen zu richten. Das hieße, den Blick der Stolpernden aufzunehmen und auf den ihr beim Stolpern zusehenden Mann zu richten. Nicht mitleidende Weihe wäre das dann. Es müßte konkret den Bedingungen des Schreibens nachgegangen werden. Denn. Auch wenn die Zeiten nicht vergleichbar sind. Die Frage von Beruf und Beziehung. Und ganz sicher die Frage einer künstlerischen Tätigkeit und Beziehung. Die wird weiterhin gestellt. Und die Erpressung, daß frau durchaus ihren Weg gehen kann. Aber. Ob sie dann im Leben alles so haben kann? Diese Erpressung läuft weiter und wird gemeinhin als erledigte Frauenfrage geführt.
Als Dokument der Bedingungen des Schreibens einer Frau ist der Band wichtig. Aber nur aus diesem Blickwinkel kann die Autorin einer neuerlichen patriarchalen Konstruktion entzogen werden. Sicher davor bleibt die Autorin aber weiterhin nur in ihrem Text, den Marieluise Fleißer solcher ewiger Fremderfindung immer entgegenhielt. Da ist die Gegenwehr gegen den Blick aufgeschrieben, der einer das Stolpern anbefiehlt, um dann mehr oder weniger nachsichtig darüber lächeln zu können.
Um so schöner wäre es dann, eine kritische Ausgabe dieser Texte zu haben. Vielleicht sogar mit dem Bild der älteren Autorin. Warum muß Marieluise Fleißer ewig zwanzigjährig von den Buchdeckeln lächeln. Gerade wenn es um den "schmerzvollen Lebensvollzug" gehen soll.
Aber an dieser Verwendung des Bilds der Autorin zeigt sich das Problem. Wie kann mit weiblicher Erinnerung in Würde umgegangen werden. Ganz sicher nicht mit der Verstärkung des literarischen Fräuleinwundersyndroms, das Frauen auf immer jung und herzig stolpernd festlegen will. Und die dann auch noch schreiben. Und damit sind wir bei den Leseanleitungen des literarischen Betriebs für Texte von Frauen angelangt. So viel hat sich nicht geändert. Seit den von Lion Feuchtwanger ausgelösten Textverbrennungen und der Brechtschen Förderung, so lange sie willfährig blieb.
Marieluise Fleißer: "Briefwechsel 1925-1974". Herausgegeben von Günther Rühle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 2 Bände, je 740 S., geb., 68,- DM (br., 32,90 DM).
Elfi Hartenstein/Annette Hülsenbeck: "Marieluise Fleißer". Leben im Spagat. edition ebersbach, Berlin 2001. 144 S., 90 Abb., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn das Warten aufgebraucht ist: Zum Briefwechsel von Marieluise Fleißer / Von Marlene Streeruwitz
Im Trailer zur Fernsehserie "Sex and the City" schaut dieser gutaussehende Mann der Schauspielerin Sarah Jessica Parker nach. Die Kamera übernimmt seinen Blick auf die Schauspielerin. Die stöckelt auf sehr hohen Absätzen weg. Kippt. Fällt fast. Fängt sich gerade noch. Streicht ihren weißen Rock zurecht. Und schaut verwirrt entschuldigend über die Schulter auf den ihr nachsehenden Mann zurück. Der Blick dieses Mannes, den wir mit Hilfe der Kameraeinstellung übernehmen. Und mit dem wir auf den entschuldigenden Blick der Frau sehen. Dieser Blick ist die Anleitung, wie diese Fernsehserie zu lesen ist.
Unterhaltung und Reaktionäres sind darauf angewiesen, als Unterhaltung und Reaktionäres gelesen zu werden. Der Marktwert entscheidet sich an dieser Eindeutigkeit. Deshalb gibt es die sofort entschlüsselbaren Textformate. Und jede Menge Leseanleitungen. Die Lesehilfe im Trailer von "Sex and the City" steht in der Tradition der amerikanischen Fernsehserie für die Frau von 26 bis 38. Frauen sind da immer sehr dünn. Meistens mit großem Busen. Sie bleiben immer kleine Mädchen. Sie bleiben immer daddy's little girl, das immer noch und immer wieder und nach noch so vielen Studienabschlüssen und Erfolg im Beruf peinliche Sachen macht. Sie bleibt immer ein bißchen peinlich. Aber, Unterhaltung muß auf reaktionären Geschlechterrollen bestehen. Wo sollte sie sonst herkommen. Die Unterhaltung. Immer neue und immer lustigere Beschreibungen der Geschlechterdifferenz. Unterhaltung kann sich ja auf den phallischen Blick aller Leserinnen und Leser verlassen. Darauf, daß eine je neue Rekonstruktion der patriarchalen Mythen einem anderen Blick keine Möglichkeit läßt.
In der editorischen Notiz zu Marieluise Fleißers Briefwechsel lautet die Leseanleitung: "Die Auswahl der Briefe geschah im Hinblick auf das überlieferte literarische Werk; sie geben Einblick in dessen Hintergrund und den oft nur vorübergehend aufgehellten, schmerzhaften Lebensvollzug."
Den Blick der Kamera auf die peinlich stolpernde Frau. Den gibt es nämlich auch in der E-Fassung. Es gibt auch tragische Unterhaltung. Da heißt der Blick dann biographische Deutung. Biographische Dokumente belegen die Peinlichkeiten. Und so sehen wir dann mit der E-Fassung dieses Blicks auf die Dokumente, die die Wirkung dieses Blicks schon im Leben der Dokumentierten beschreiben. Hier im "schmerzhaften Lebensvollzug" einer Autorin.
Ist aber nun das Leben einer Autorin der Hintergrund ihres literarischen Werks? Wäre das der Fall, das Studium der Briefe wäre literarkritische Pflicht. Aber ist das so? So einfach? Löscht die literarische Bedeutung der Texte einer Autorin den patriarchalen Blick auf sie? Auf sie als Person. Als Frau. Auf die Erinnerung an sie. Kann die Autorin über die literarische Bedeutung in den Heldenhimmel der Klassiker aufsteigen.
Beim Klassiker kann das Geschlecht vergessen werden, weil er ein Mann ist. Und dieses Vergessen macht ihn gleichzeitig zum Klassiker. Für die Frau in der Literatur funktioniert das nicht. Ihr Geschlecht wird nicht vergessen, weil sie kein Mann ist. Und so unrichtig es wäre, die weiblichen Lebensläufe zu verschweigen, die Märtyrerinnenmythologien der Heldinnenschaft schreiben diese Differenz fort. Zementieren sie. Darin ist der "schmerzliche Lebensvollzug" dann wieder klassisch.
In einem literarischen Betrieb, in dem der Autor sich heute - zu seinem Nutzen - auf seine Männlichkeit berufen kann, indem er ein bisserl grantig über die Groupies wehklagt. In einem literarischen Betrieb, der es immer schmunzelnd akzeptierte, daß dieser Betrieb mit Gynäkologie gleichauf lag in der Möglichkeit, an Frauen heranzukommen. In diesem literarischen Betrieb, in dem Literaturkritik von Altherrenwitzen manchmal schwer zu unterscheiden ist. In diesem literarischen Betrieb ist es mit der Überwindung der Geschlechterdifferenz nicht weit her. Im Gegenteil.
Der Blick auf das Leben der Autorin als Hintergrund des Werks wird im besten Fall paternalistisch gefärbt sein. Aber das ist dann auch nur eines der gängigen Mißverständnisse der Trauerarbeit. Wenn der "schmerzvolle Lebensvollzug" weihevoll geplündert wird. Wenn die betrauerte Person über Erinnerung verständlich werden soll. Verstehbar. Und es immer nur um die Trauernden geht. Und nie um die Betrauerten. Wenn es darum geht, dieses fremde Leben zu entschlüsseln. Zu entzaubern. Um sich dieses vermeintlich verstandene fremde Leben einzuverleiben. Das ist Menschenfresserei. Eigentlich. Aber dieser Zweig des Kulturbetriebs ernährt ja auch viele. Im jeweils frommen Angedenken.
Im Fall von Marieluise Fleißer ist das alles ganz einfach. Gerade weil Marieluise Fleißers Texte so deutlich aus ihrem Leben schöpfen, verschließen sie sich einer einfachen biographischen Deutung. Es ist ja ebendiese Fassung in den Text, mit der die Abtrennung vom Privaten vollzogen wird. Es ist dann nur noch anekdotisch, wenn in der Erzählung "Avantgarde" der Dichter Brecht ist. Der Nickl ihr Ehemann. Und der Jude Lion Feuchtwanger. In der Figur der Cilly Obermeier wird der Blick gedreht. In dieser Figur werden die Auswirkungen des patriarchalen Blicks auf die literarische Figur beschrieben. In der literarischen Autonomie dieser Figur entwindet die Autorin ihre Person für die Dauer des Textes diesem Blick, der das Stolpern geradezu verlangt. Und ob die Geschichte mit Nickl nun eine Befreiung von Brecht oder von Draws-Tychsen oder vom Dichter der Erzählung ist. Es geht um die Befreiung und nicht um reale Personen. Und die Befreiung der Cilly Obermeier. Die ist taumelnd genug. Wird doch in dieser Literatur der weite Weg von der Erkenntnis bis zu ihrer Verwirklichung über alle Gefühle und Prägungen hinweg beschrieben. Und wie Freiheit sich nur in kleinen Splittern ins Leben zerren läßt. Das ist die Geschichte aller Aufklärung. Der lange Weg, eine Vorstellung zu entwerfen, deren Denken schon über alles Erlernte hinausgeht, und diesen Entwurf ins Leben zwingen zu wollen. Gegen alle geschichtliche Umgebung. Und gegen alle Partner, die solchen Entwürfen gegenüber sehr theoretisch bleiben. Denen die Macht ohnehin strukturell zusteht.
Was einen in diesen Texten literarisch betreffen darf. Ja, betreffen soll. Das muß einem als Anekdote fremd bleiben. Denn das private, "echte" Schicksal der Person ist hermetisch. Das ist die Fremde der anderen Person und löst in der notwendigen Lückenhaftigkeit höchstens Vermutungen aus. Ahnungen. Tratsch hat auch keine anderen Eltern. Als Vermutungen und Ahnungen.
Im literarischen Text dagegen wird die Lücke zu der Schnittstelle, an der der Leser und die Leserin Schicksal auf sich beziehen können. Müssen. In der Lücke wird die Hermetik aufgehoben. Ist der Vorgang der Rückführung des Textes auf einen selber möglich. Nicht Vermutungen. Nicht Ahnungen. Das Weiterschreiben des Literarischen ist verlangt. Der Schmerz des sich immer wieder in Abhängigkeit Begebens muß gefühlt werden. Die Qual des Begehrens. Die Dauer von Warten. Die grenzenlose Leere der Nichterfüllung. Die Flucht zum Nächsten. Zum anderen, wenn das Warten aufgebraucht ist. Und es dann dem Nächsten auch nicht sagen können. Sich auch dem nicht mitteilen können. Nie seine Sprechlosigkeit zu durchbrechen. Das alles ist notwendiger Beitrag des Lesens der Texte. Und knüpft da an, wo die Autorin den Text an den Leser und die Leserin übergibt.
Alle diese Gefühle. Einer unbekannten Person gegenüber wären sie ein Übergriff. Konstruktion einer Person aus den eigenen Erfahrungen. Der Person Marieluise Fleißer stülpte sich pure Interpretation über. Wie einer oder eine jeweils solche Briefe halt liest. Lesen will. Oder kann. Ausgehend vom Jugendbildnis auf dem Umschlag, begänne diese Konstruktion und verwehrte der Autorin jeden Zugriff auf Aussagen. Das Leben würde ins Werk zurückgeschrieben werden, obwohl die Autorin die besondere Realität des Texts als Äußerungsform unternommen hat.
Oder soll gerade das ausgemessen werden. Der Abstand vom Literarischen zum Leben. Sollte der Blick auf dieses Stolpern gerichtet werden. Wie der "schmerzvolle Lebensvollzug" mit dem Schreiben kollidierte. Sollte die Person von der Autorin subtrahiert werden und dann nachgemessen, was übrigbleibt. Denn. Kann die plane Beschreibung der diversen Pygmalionaden etwas anderes als die Wiederholung dieser Pygmalionaden werden? Die Konstruktion der Autorin. Die geht ja schon gleich los, wenn Luise Fleißer zuerst einmal alles verbrennt, was sie geschrieben hat. Weil Lion Feuchtwanger ihre Texte nicht gut findet. Weil es ihm zu expressionistisch ist. Und das geht weiter, wenn Lion Feuchtwanger aus der Luise die Marieluise macht. Sie neu benennt. Und "durchgesetzt hat es, allerdings von mir immer wieder angefeuert, Brecht". Das Werk allein reichte auch 1972 noch nicht. Das zwanzigjährige Verlegerjubiläum muß den Entschluß zur Gesamtausgabe mitbegründen. Aber. So ist das mit den schreibenden Frauen. "Dichterinnen sind oft scheu und empfindlich zugleich."Sie können nicht mit der Heldenstatur des schreibenden Manns getröstet werden. Und das Leben von Frauen. Das Private von Frauen. Daraus läßt sich keine Aura basteln. Das bleibt immer von diesem Blick beschwert. Ins Stolpernde zurückgestoßen. Und dabei helfen alle gerne mit. Die Verleger. Die Kritiker. Die Geliebten. Die Dramaturgen. Die Regisseure. Die Kollegen. "Sie selber wollte auch schreiben . . . Mit diesem Wollen geriet sie an ihn und wurde ganz stark gebrochen."
Warum also sollte frau diese Briefe lesen. Diese Briefe an Marieluise Fleißer oder von ihr. Die mit ihrem Werk etwas zu tun haben. Und vielleicht sind ja die nicht veröffentlichten die interessanteren.
Eine Berechtigung, sich in dieses Leben zu drängen, läge darin, diese Briefsammlung als Dokument der Bedingung des Schreibens zu lesen. Des Schreibens einer Frau. Das hieße aber, den Blick zu wenden. Das hieße, den Blick von außen aufzugeben und von innen heraus nach außen zu richten. Das hieße, den Blick der Stolpernden aufzunehmen und auf den ihr beim Stolpern zusehenden Mann zu richten. Nicht mitleidende Weihe wäre das dann. Es müßte konkret den Bedingungen des Schreibens nachgegangen werden. Denn. Auch wenn die Zeiten nicht vergleichbar sind. Die Frage von Beruf und Beziehung. Und ganz sicher die Frage einer künstlerischen Tätigkeit und Beziehung. Die wird weiterhin gestellt. Und die Erpressung, daß frau durchaus ihren Weg gehen kann. Aber. Ob sie dann im Leben alles so haben kann? Diese Erpressung läuft weiter und wird gemeinhin als erledigte Frauenfrage geführt.
Als Dokument der Bedingungen des Schreibens einer Frau ist der Band wichtig. Aber nur aus diesem Blickwinkel kann die Autorin einer neuerlichen patriarchalen Konstruktion entzogen werden. Sicher davor bleibt die Autorin aber weiterhin nur in ihrem Text, den Marieluise Fleißer solcher ewiger Fremderfindung immer entgegenhielt. Da ist die Gegenwehr gegen den Blick aufgeschrieben, der einer das Stolpern anbefiehlt, um dann mehr oder weniger nachsichtig darüber lächeln zu können.
Um so schöner wäre es dann, eine kritische Ausgabe dieser Texte zu haben. Vielleicht sogar mit dem Bild der älteren Autorin. Warum muß Marieluise Fleißer ewig zwanzigjährig von den Buchdeckeln lächeln. Gerade wenn es um den "schmerzvollen Lebensvollzug" gehen soll.
Aber an dieser Verwendung des Bilds der Autorin zeigt sich das Problem. Wie kann mit weiblicher Erinnerung in Würde umgegangen werden. Ganz sicher nicht mit der Verstärkung des literarischen Fräuleinwundersyndroms, das Frauen auf immer jung und herzig stolpernd festlegen will. Und die dann auch noch schreiben. Und damit sind wir bei den Leseanleitungen des literarischen Betriebs für Texte von Frauen angelangt. So viel hat sich nicht geändert. Seit den von Lion Feuchtwanger ausgelösten Textverbrennungen und der Brechtschen Förderung, so lange sie willfährig blieb.
Marieluise Fleißer: "Briefwechsel 1925-1974". Herausgegeben von Günther Rühle. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001. 2 Bände, je 740 S., geb., 68,- DM (br., 32,90 DM).
Elfi Hartenstein/Annette Hülsenbeck: "Marieluise Fleißer". Leben im Spagat. edition ebersbach, Berlin 2001. 144 S., 90 Abb., geb., 68,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
In einer biografisch orientierten Besprechung stellt uns Gisela von Wysocki zwei von Günther Rühle herausgegebene Bände aus dem Werk Marieluise Fleißers vor: den "Briefwechsel 1925-1974" und die "Erzählungen", beide erschienen bei Suhrkamp.
1) Marieluise Fleißer: "Briefwechsel 1925-1974"
Gisela von Wysocki zeigt sich dankbar für die Leistung des Herausgebers, die fast 50 Jahre währende Korrespondenz der Fleißer "mit ausführlichen Kommentaren über die Briefpartner" (Robert Musil, Lotte Lenya, Helene Weigel u.a.) lesbar gemacht zu haben. Überrascht ist die Rezensentin sowohl angesichts der bloßen Vielfalt der Ebenen und Tonarten in den Briefen ("Man vernimmt die Dichterin, die Unternehmerin, die Familienangehörige, die Kollegin, die genervte Ehefrau") als auch über die "eloquente Nachdrücklichkeit" der korrespondierenden Fleißer. Hier sei sie einmal nicht die störrische, aufgeraute Dichterin, sondern verfüge über ein "lebenskunstfertiges" Stilgefühl und diplomatische Geschmeidigkeit. Vielleicht lässt sich just damit ja auch erklären, warum Wysocki jegliche Hinweise auf die Haltung der Dichterin zur faschistischen Gewaltherrschaft in den Briefen vergeblich sucht.
2) Marieluise Fleißer: "Erzählungen"
Die Rezensentin bleibt recht allgemein, wenn sie sich diesem "Geburtstagsbuch" zuwendet. Keine einzelne der versammelten Erzählungen tritt vor das Auge des Lesers. Stattdessen erfahren wir zum einen, dass der Band auch die politischen und sozialen Stationen belichtet, die Fleißer im Deutschland des 20. Jahrhunderts miterlebt hat, und zum anderen, was den Texten der Fleißer zugrunde liegt: Wysocki zufolge legen die Geschichten den "Mechanismus von Sogwirkungen offen. Die Verlockung und ihren Umschlag in die Demütigung." Diese Struktur findet die Rezensentin bereits in den frühen Erzählungen, wo sie "in unverwechselbare Wort- und Satzverdichtungen" gekleidet ist. Im Aussprechen der Niederlage, erklärt sie uns, schärfte diese Prosa sich und ermittelte dort "ein geheimes Kräftereservoir".
© Perlentaucher Medien GmbH
1) Marieluise Fleißer: "Briefwechsel 1925-1974"
Gisela von Wysocki zeigt sich dankbar für die Leistung des Herausgebers, die fast 50 Jahre währende Korrespondenz der Fleißer "mit ausführlichen Kommentaren über die Briefpartner" (Robert Musil, Lotte Lenya, Helene Weigel u.a.) lesbar gemacht zu haben. Überrascht ist die Rezensentin sowohl angesichts der bloßen Vielfalt der Ebenen und Tonarten in den Briefen ("Man vernimmt die Dichterin, die Unternehmerin, die Familienangehörige, die Kollegin, die genervte Ehefrau") als auch über die "eloquente Nachdrücklichkeit" der korrespondierenden Fleißer. Hier sei sie einmal nicht die störrische, aufgeraute Dichterin, sondern verfüge über ein "lebenskunstfertiges" Stilgefühl und diplomatische Geschmeidigkeit. Vielleicht lässt sich just damit ja auch erklären, warum Wysocki jegliche Hinweise auf die Haltung der Dichterin zur faschistischen Gewaltherrschaft in den Briefen vergeblich sucht.
2) Marieluise Fleißer: "Erzählungen"
Die Rezensentin bleibt recht allgemein, wenn sie sich diesem "Geburtstagsbuch" zuwendet. Keine einzelne der versammelten Erzählungen tritt vor das Auge des Lesers. Stattdessen erfahren wir zum einen, dass der Band auch die politischen und sozialen Stationen belichtet, die Fleißer im Deutschland des 20. Jahrhunderts miterlebt hat, und zum anderen, was den Texten der Fleißer zugrunde liegt: Wysocki zufolge legen die Geschichten den "Mechanismus von Sogwirkungen offen. Die Verlockung und ihren Umschlag in die Demütigung." Diese Struktur findet die Rezensentin bereits in den frühen Erzählungen, wo sie "in unverwechselbare Wort- und Satzverdichtungen" gekleidet ist. Im Aussprechen der Niederlage, erklärt sie uns, schärfte diese Prosa sich und ermittelte dort "ein geheimes Kräftereservoir".
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