Die Korrespondenz zwischen Gretel Adorno und Walter Benjamin, die 1930 einsetzt, aber erst mit Benjamins Emigration nach Frankreich ihre volle Intensität erreicht, ist nicht nur ein spätes Zeugnis des intellektuellen Berlin der zwanziger Jahre, sondern auch das Dokument einer großen Freundschaft, die unabhängig von der Beziehung Benjamins zu Theodor W. Adorno bestand. Während Benjamin, neben seinen Alltagssorgen, insbesondere über jene Projekte schreibt, an denen er in den letzten Jahren seines Lebens mit Hochdruck gearbeitet hat - vor allem über den "Baudelaire" -, war es Gretel Karplus-Adorno, die mit aller Macht versuchte, Benjamin in der Welt zu halten. Sie drängte ihn zur Emigration, berichtete von Adornos Plänen und Blochs Aufenthaltsorten und hielt so die Verbindung zwischen den alten Berliner Freunden und Bekannten aufrecht. Sie half ihm durch regelmäßige Geldüberweisungen über die schlimmsten Zeiten hinweg und organisierte eine finanzielle Unterstützung aus dem anfänglich noch vom Deutschen Reich unabhängigen Saarland. In New York angekommen, versucht sie mit ihren Beschreibungen der Stadt und der Neuankömmlinge, Benjamin nach Amerika zu locken. Aber Benjamin schreibt im Frühjahr 1940: "Wir müssen sehen, unser Bestes in die Briefe zu legen; denn nichts deutet darauf hin, daß der Augenblick unseres Wiedersehens nahe ist."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2002Der Teufel als Förderer
Zum Briefwechsel von Thomas Mann und Theodor W. Adorno
Es gibt ein Bild von Klee, auf dem ein zauberhaftes Rollenspiel der Verbeugungen zu sehen ist, es heißt "Zwei Herren, einander in höherer Stellung vermutend". Die Versuchung liegt nahe, auch in den Briefen Adornos und Thomas Manns vor allem den diplomatischen Verkehr zweier meisterlicher Stilisten zu sehen, die sich in einem regelmäßigen Zeremoniell wechselseitig ihrer Bedeutung versichern. Gewiß: Wer sich auf diese Spur begibt, wird nicht leer ausgehen, die Varianten des Lobs sind unerschöpflich. "Muß ich Ihnen sagen, daß ich an Sie als den Leser dieser Arbeit gedacht habe?" schreibt Adorno, als sich Mann freundlich über seinen Benjamin-Essay geäußert hatte. Als 1951 die "Minima Moralia" erscheinen, hebt Mann die Dichte der Vignetten hervor und schreibt: "Um Sie zu lesen, darf man nicht müde sein."
Begonnen hatte die Freundschaft in den frühen vierziger Jahren. Adorno und Max Horkheimer waren an die amerikanische Westküste übergesiedelt und arbeiteten an der "Dialektik der Aufklärung", einem Endspiel des bürgerlichen Geistes; Thomas Mann schrieb an einem anderen Endspiel, dem Musiker-Roman "Doktor Faustus". Für die Kompositionstechnik des zwanzigsten Jahrhunderts und vor allem der Schönberg-Schule fand sich mit Adorno ein sachkundiger Berater, vielfach sind seine Ideen in die Kompositionen des Hauptprotagonisten Leverkühn eingegangen. Der Anhang zu den Briefen enthält Adornos Entwürfe zur Kammermusik Leverkühns und zu der Kantate "Doktor Fausti Weheklag", die das letzte Treffen Fausts mit den Schülern als "negatives Abendmahl" deutet; der Begriff der Melancholie, an Benjamins Trauerspielbuch erinnernd, spielt eine große Rolle. Auch die Uneingeweihten wurden bald durch Thomas Manns Werkstattbericht "Die Entstehung des Doktor Faustus" auf den Philosophen aufmerksam - wobei Adorno selbstbewußt darum gebeten hatte, seinen "gedanklich-phantasiemäßigen Anteil an Leverkühns OEuvre und seiner Ästhetik mehr hervorzuheben als den stofflich informatorischen".
Immer wieder hat man die Ähnlichkeit in der Erscheinung geschildert. Als der Teufel im Gespräch mit Leverkühn seine altdeutsche Gestalt ausgespielt hat, verwandelt er sich in einen modernen Intellektuellen, der selbst gelegentlich komponiert: "Einen weißen Kragen um und einen Schleifenschlips, auf der gebogenen Nase eine Brille mit Hornrahmen, hinter dem feucht-dunkle, etwas gerötete Augen schimmern - eine Mischung von Schärfe und Weichheit das Gesicht: die Nase scharf, die Lippen scharf, aber weich das Kinn, mit einem Grübchen darin, ein Grübchen an der Wange noch obendrein -, bleich und gewölbt die Stirn, aus der das Haar wohl erhöhend zurückgeschwunden, aber von ders zu den Seiten dicht, schwarz und wollig dahinterstand".
Als Roman der modernen Musik wurde der "Doktor Faustus" bewundert, aber als Parabel des deutschen Untergangs stieß er auf wenig Gegenliebe. Sicher nicht nur wegen des "Ressentiments" der Deutschen, das Adorno in einem Brief bemüht. Der Ton quälend-bemühter Ironie, mit dem der Erzähler Serenus Zeitblom das "Strafgericht" schildert, "wie es anjetzo über uns schwebt", muß schon damals angesichts des Geschehenen schwer erträglich gewesen sein, ebenso, nach den Erfahrungen mit der Roten Armee, Zeitbloms Versicherung, der Bolschewismus habe niemals Kunstwerke zerstört.
In der Korrespondenz der beiden Emigranten, von denen der eine sich zur Rückkehr nach Deutschland entschließt, spielt das Urteil über die alte Heimat eine große Rolle. Adorno blühte im Kontakt mit den deutschen Studenten offensichtlich auf: "Im übrigen befinde ich mich physisch ausnehmend wohl, dreimal so frisch und arbeitsfähig als im Westen, von Kopfschmerzen verschont - sonderbares Ansprechen eines gleichsam professionell Heimatlosen auf die Heimat." Im Jahr 1949 hielt er den Vortrag "Die auferstandene Kultur". Und diese ersten Eindrücke des Zurückgekehrten klangen nun stellenweise so unverhohlen optimistisch, daß mancher hellhörig wurde. Denn Adorno begann den Vortrag mit dem Bekenntnis, vom geistigen Klima in Deutschland positiv überrascht zu sein. Die Vorstellungen, die er sich draußen von der Barbarisierung gebildet hatte, mußte er revidieren: "Die Beziehung zu geistigen Dingen, im allerweitesten Sinne verstanden, ist intensiv. Mir will sie größer erscheinen als in den Jahren vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. Damals verdrängten die machtpolitischen Kämpfe alles andere." Natürlich blieb die positive Sicht der Lage nicht das letzte Wort; die mangelnde Bereitschaft der Deutschen zur Utopie und zum postnationalen Engagement, dieser ewige Tadel der ewigen Linken, kam auch 1949 schon zur Sprache. Dann nahm der Schweizer Kritiker Max Rychner Adornos Äußerungen zustimmend auf, und der Philosoph mußte sich fragen, ob er am Ende zu viele Konzessionen gemacht hatte.
Während Adorno sich langsam und, im Falle seiner Studenten, wohlwollend mit der Wirklichkeit der Bundesrepublik vertraut machte, blieb Thomas Mann mit der Heimat zerstritten. "Ihre Äußerungen über das Land, wo Sie zur Zeit wirken", so die kühle Formulierung, "schlugen zu sehr in die prodeutsche Kerbe - scheinbar. Ich wußte sie zu lesen, aber Rychner auch." Und ein anderes Mal schreibt er dem Freund: "Ich gönne Sie den Deutschen nicht, aber zugleich fühle ich nur zu gut die Befriedigung mit, die Ihr Verlangen nach Wirkungsmöglichkeit, Tätigkeit dort findet." Allzuoft erinnert Thomas Mann in seinen späten Briefen an einen altersstarren Unheilspropheten: Wetternd gegen die Montanunion mit Frankreich, die am Ende doch wieder der deutschen Hegemonie aufhelfen werde, und gegen den "Faschismus" der McCarthy-Ära, vor dem er in die Schweiz ausweicht. In solchen Momenten ist es oft Adorno, der sich den unbefangenen Blick auf die Wirklichkeit bewahrt - daß man vor 1933 auf der Linken nicht zwischen Brüning, einem autoritären Zentrumsmann, und Hitler unterschieden habe, erscheint ihm in einem der Briefe als Zeichen der Barbarei - dagegen gelte es, "noch im Negativen zu differenzieren".
Dann wieder hat man den Eindruck, als habe sich Adorno der Schärfe-Konkurrenz mit Thomas Mann nicht entziehen können. Neben Ernst Jünger sind es Martin Heidegger und Wagner, die ihn beunruhigen: "Wissen Sie übrigens, daß Bestrebungen im Gange sind, Bayreuth wieder aufzusperren, und haben Sie erwogen, etwas dagegen zu unternehmen? Es will mir scheinen, daß Bayreuth, neben der Wiederzulassung Heideggers, zu den bedenklichsten Symptomen hier gehört, wofern man nicht auf die darin sich abzeichnenden primären Momente eingehen will." Tatsächlich: Es sollte nur ein Jahrzehnt dauern, bis Adorno selbst in Bayreuth Vorträge zu halten begann.
Aber dies alles waren Urteile, die vom Tag bedingt sein mochten und im Zweifelsfall revidierbar waren. Wichtiger ist, daß die Korrespondenz einen neuen Einblick in die Form von Adornos Briefen erlaubt. Man weiß, daß der Philosoph oftmals lange, sachbezogene Briefe an seine Freunde schrieb; zu seiner eigentlichen epistolarischen Stärke fand er, wenn er an der Entstehung von Werken aus größerem oder geringerem Abstand teilnehmen konnte. Drei Briefwechsel waren bislang veröffentlicht: Der mit dem Komponisten Ernst Krenek, den dieser selbst 1974 herausgab; im Rahmen der Werkausgabe finden sich die Korrespondenzen mit seinem Kompositionslehrer Alban Berg und mit Walter Benjamin. Wer etwas von Adorno als praktischem, handeldem Philosophen erfahren will, kann nichts Besseres tun, als ihn in der konkreten brieflichen Kommunikation zu beobachten. Niemand konnte - mit Gründen und Gedanken - zur Produktion so ermutigen wie Adorno. Man hat in der Vergangenheit oft die negativen Seiten seiner langen Schreiben sehen wollen, die Vorbehalte und Einwände etwa, mit denen er an Benjamins assoziativem Marxismus die mangelnde logische Vermittlung tadelte. Aber wie er Alban Berg während der Komposition der "Lulu" mit immer neuen Reflexionen zu Wedekind überraschte, so hilft er Thomas Mann mit kleinen ästhetischen Theorien auf, wenn die Arbeit stockt. Zu den schönsten Briefen gehört der vom 28. April 1952, mit dem er die mühselige Wiederaufnahme des frühen Krull-Fragments kommentiert. Nicht mehr Dialektik, sondern Weisheit ist es, mit der er an das "offene und fragmentarische Leben" erinnert, das "vergißt, was es eigentlich in Bewegung bringt, um es nur im letzten Augenblick, zusammenraffend und wie aus weiter Ferne noch einmal zu erinnern . . . wäre es geplant, so wäre es unmöglich". Man kann sich vorstellen, was Adorno als Lehrer bedeutet haben muß.
Theodor W. Adorno / Thomas Mann: "Briefwechsel 1943 - 1955". Herausgegeben von Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 179 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum Briefwechsel von Thomas Mann und Theodor W. Adorno
Es gibt ein Bild von Klee, auf dem ein zauberhaftes Rollenspiel der Verbeugungen zu sehen ist, es heißt "Zwei Herren, einander in höherer Stellung vermutend". Die Versuchung liegt nahe, auch in den Briefen Adornos und Thomas Manns vor allem den diplomatischen Verkehr zweier meisterlicher Stilisten zu sehen, die sich in einem regelmäßigen Zeremoniell wechselseitig ihrer Bedeutung versichern. Gewiß: Wer sich auf diese Spur begibt, wird nicht leer ausgehen, die Varianten des Lobs sind unerschöpflich. "Muß ich Ihnen sagen, daß ich an Sie als den Leser dieser Arbeit gedacht habe?" schreibt Adorno, als sich Mann freundlich über seinen Benjamin-Essay geäußert hatte. Als 1951 die "Minima Moralia" erscheinen, hebt Mann die Dichte der Vignetten hervor und schreibt: "Um Sie zu lesen, darf man nicht müde sein."
Begonnen hatte die Freundschaft in den frühen vierziger Jahren. Adorno und Max Horkheimer waren an die amerikanische Westküste übergesiedelt und arbeiteten an der "Dialektik der Aufklärung", einem Endspiel des bürgerlichen Geistes; Thomas Mann schrieb an einem anderen Endspiel, dem Musiker-Roman "Doktor Faustus". Für die Kompositionstechnik des zwanzigsten Jahrhunderts und vor allem der Schönberg-Schule fand sich mit Adorno ein sachkundiger Berater, vielfach sind seine Ideen in die Kompositionen des Hauptprotagonisten Leverkühn eingegangen. Der Anhang zu den Briefen enthält Adornos Entwürfe zur Kammermusik Leverkühns und zu der Kantate "Doktor Fausti Weheklag", die das letzte Treffen Fausts mit den Schülern als "negatives Abendmahl" deutet; der Begriff der Melancholie, an Benjamins Trauerspielbuch erinnernd, spielt eine große Rolle. Auch die Uneingeweihten wurden bald durch Thomas Manns Werkstattbericht "Die Entstehung des Doktor Faustus" auf den Philosophen aufmerksam - wobei Adorno selbstbewußt darum gebeten hatte, seinen "gedanklich-phantasiemäßigen Anteil an Leverkühns OEuvre und seiner Ästhetik mehr hervorzuheben als den stofflich informatorischen".
Immer wieder hat man die Ähnlichkeit in der Erscheinung geschildert. Als der Teufel im Gespräch mit Leverkühn seine altdeutsche Gestalt ausgespielt hat, verwandelt er sich in einen modernen Intellektuellen, der selbst gelegentlich komponiert: "Einen weißen Kragen um und einen Schleifenschlips, auf der gebogenen Nase eine Brille mit Hornrahmen, hinter dem feucht-dunkle, etwas gerötete Augen schimmern - eine Mischung von Schärfe und Weichheit das Gesicht: die Nase scharf, die Lippen scharf, aber weich das Kinn, mit einem Grübchen darin, ein Grübchen an der Wange noch obendrein -, bleich und gewölbt die Stirn, aus der das Haar wohl erhöhend zurückgeschwunden, aber von ders zu den Seiten dicht, schwarz und wollig dahinterstand".
Als Roman der modernen Musik wurde der "Doktor Faustus" bewundert, aber als Parabel des deutschen Untergangs stieß er auf wenig Gegenliebe. Sicher nicht nur wegen des "Ressentiments" der Deutschen, das Adorno in einem Brief bemüht. Der Ton quälend-bemühter Ironie, mit dem der Erzähler Serenus Zeitblom das "Strafgericht" schildert, "wie es anjetzo über uns schwebt", muß schon damals angesichts des Geschehenen schwer erträglich gewesen sein, ebenso, nach den Erfahrungen mit der Roten Armee, Zeitbloms Versicherung, der Bolschewismus habe niemals Kunstwerke zerstört.
In der Korrespondenz der beiden Emigranten, von denen der eine sich zur Rückkehr nach Deutschland entschließt, spielt das Urteil über die alte Heimat eine große Rolle. Adorno blühte im Kontakt mit den deutschen Studenten offensichtlich auf: "Im übrigen befinde ich mich physisch ausnehmend wohl, dreimal so frisch und arbeitsfähig als im Westen, von Kopfschmerzen verschont - sonderbares Ansprechen eines gleichsam professionell Heimatlosen auf die Heimat." Im Jahr 1949 hielt er den Vortrag "Die auferstandene Kultur". Und diese ersten Eindrücke des Zurückgekehrten klangen nun stellenweise so unverhohlen optimistisch, daß mancher hellhörig wurde. Denn Adorno begann den Vortrag mit dem Bekenntnis, vom geistigen Klima in Deutschland positiv überrascht zu sein. Die Vorstellungen, die er sich draußen von der Barbarisierung gebildet hatte, mußte er revidieren: "Die Beziehung zu geistigen Dingen, im allerweitesten Sinne verstanden, ist intensiv. Mir will sie größer erscheinen als in den Jahren vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. Damals verdrängten die machtpolitischen Kämpfe alles andere." Natürlich blieb die positive Sicht der Lage nicht das letzte Wort; die mangelnde Bereitschaft der Deutschen zur Utopie und zum postnationalen Engagement, dieser ewige Tadel der ewigen Linken, kam auch 1949 schon zur Sprache. Dann nahm der Schweizer Kritiker Max Rychner Adornos Äußerungen zustimmend auf, und der Philosoph mußte sich fragen, ob er am Ende zu viele Konzessionen gemacht hatte.
Während Adorno sich langsam und, im Falle seiner Studenten, wohlwollend mit der Wirklichkeit der Bundesrepublik vertraut machte, blieb Thomas Mann mit der Heimat zerstritten. "Ihre Äußerungen über das Land, wo Sie zur Zeit wirken", so die kühle Formulierung, "schlugen zu sehr in die prodeutsche Kerbe - scheinbar. Ich wußte sie zu lesen, aber Rychner auch." Und ein anderes Mal schreibt er dem Freund: "Ich gönne Sie den Deutschen nicht, aber zugleich fühle ich nur zu gut die Befriedigung mit, die Ihr Verlangen nach Wirkungsmöglichkeit, Tätigkeit dort findet." Allzuoft erinnert Thomas Mann in seinen späten Briefen an einen altersstarren Unheilspropheten: Wetternd gegen die Montanunion mit Frankreich, die am Ende doch wieder der deutschen Hegemonie aufhelfen werde, und gegen den "Faschismus" der McCarthy-Ära, vor dem er in die Schweiz ausweicht. In solchen Momenten ist es oft Adorno, der sich den unbefangenen Blick auf die Wirklichkeit bewahrt - daß man vor 1933 auf der Linken nicht zwischen Brüning, einem autoritären Zentrumsmann, und Hitler unterschieden habe, erscheint ihm in einem der Briefe als Zeichen der Barbarei - dagegen gelte es, "noch im Negativen zu differenzieren".
Dann wieder hat man den Eindruck, als habe sich Adorno der Schärfe-Konkurrenz mit Thomas Mann nicht entziehen können. Neben Ernst Jünger sind es Martin Heidegger und Wagner, die ihn beunruhigen: "Wissen Sie übrigens, daß Bestrebungen im Gange sind, Bayreuth wieder aufzusperren, und haben Sie erwogen, etwas dagegen zu unternehmen? Es will mir scheinen, daß Bayreuth, neben der Wiederzulassung Heideggers, zu den bedenklichsten Symptomen hier gehört, wofern man nicht auf die darin sich abzeichnenden primären Momente eingehen will." Tatsächlich: Es sollte nur ein Jahrzehnt dauern, bis Adorno selbst in Bayreuth Vorträge zu halten begann.
Aber dies alles waren Urteile, die vom Tag bedingt sein mochten und im Zweifelsfall revidierbar waren. Wichtiger ist, daß die Korrespondenz einen neuen Einblick in die Form von Adornos Briefen erlaubt. Man weiß, daß der Philosoph oftmals lange, sachbezogene Briefe an seine Freunde schrieb; zu seiner eigentlichen epistolarischen Stärke fand er, wenn er an der Entstehung von Werken aus größerem oder geringerem Abstand teilnehmen konnte. Drei Briefwechsel waren bislang veröffentlicht: Der mit dem Komponisten Ernst Krenek, den dieser selbst 1974 herausgab; im Rahmen der Werkausgabe finden sich die Korrespondenzen mit seinem Kompositionslehrer Alban Berg und mit Walter Benjamin. Wer etwas von Adorno als praktischem, handeldem Philosophen erfahren will, kann nichts Besseres tun, als ihn in der konkreten brieflichen Kommunikation zu beobachten. Niemand konnte - mit Gründen und Gedanken - zur Produktion so ermutigen wie Adorno. Man hat in der Vergangenheit oft die negativen Seiten seiner langen Schreiben sehen wollen, die Vorbehalte und Einwände etwa, mit denen er an Benjamins assoziativem Marxismus die mangelnde logische Vermittlung tadelte. Aber wie er Alban Berg während der Komposition der "Lulu" mit immer neuen Reflexionen zu Wedekind überraschte, so hilft er Thomas Mann mit kleinen ästhetischen Theorien auf, wenn die Arbeit stockt. Zu den schönsten Briefen gehört der vom 28. April 1952, mit dem er die mühselige Wiederaufnahme des frühen Krull-Fragments kommentiert. Nicht mehr Dialektik, sondern Weisheit ist es, mit der er an das "offene und fragmentarische Leben" erinnert, das "vergißt, was es eigentlich in Bewegung bringt, um es nur im letzten Augenblick, zusammenraffend und wie aus weiter Ferne noch einmal zu erinnern . . . wäre es geplant, so wäre es unmöglich". Man kann sich vorstellen, was Adorno als Lehrer bedeutet haben muß.
Theodor W. Adorno / Thomas Mann: "Briefwechsel 1943 - 1955". Herausgegeben von Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 179 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.08.2005Letzte Stunden im Westend
Dokument einer außergewöhnlichen Freundschaft: Walter Benjamins Briefwechsel mit Gretel Adorno
Fünf Jahre nach Abschluss der sechsbändigen Ausgabe mit Briefen Walter Benjamins wartet das Herausgeberteam Gödde und Lonitz mit einer Überraschung auf. Zwar sind die darin publizierten Briefe Benjamins nicht neu, vieles davon ist schon mehrfach gedruckt: in verschiedenen Briefausgaben und ausschnittweise, soweit es die Genese seiner Schriften betrifft, im Kommentarteil der Werkausgabe. Jedoch erscheinen seine Briefe im Lichte der Gegenbriefe in einer anderen Färbung - und manchmal wie neu. Die Gegenbriefe: Das sind die bisher unveröffentlichten Briefe von Gretel Adorno.
Zwar war die Verbundenheit zwischen Benjamin und Gretel Karplus bekannt, auffällig durch den ganz eigenen Ton in der Korrespondenz. Doch musste vieles an der Beziehung rätselhaft bleiben, solange man nur seine Briefe an sie lesen konnte. So wird mancher sich etwa gefragt haben, wie es Benjamin gelungen ist, die vertraute Nähe zu ihr aufrechtzuerhalten durch die Jahre und alle Klippen seiner Beziehung zu Theodor W. Adorno hindurch (mit dem Gretel seit 1937 verheiratet war), mehr noch durch die Konflikte mit dem „Institut für Sozialforschung” um seine in deren Zeitschrift publizierten Aufsätze.
Ebenso bekannt war die Dramaturgie fingierter Namen, die exklusiv nur in diesem Briefwechsel benutzt werden und ihm einen eigenen Ton verleihen: Er heißt hier Detlef, nach einem seiner Pseudonyme, das er ab 1933 für seine Veröffentlichungen wählte. Sie wird nur hier Felizitas genannt, nach einer Figur aus dem Theaterstück „Ein Mantel, ein Hut, ein Handschuh” von Wilhelm Speyer, an dem Benjamin mitgearbeitet hatte. Der Name ist eine Anspielung auf die Handschuhfirma, die die zehn Jahre jüngere, in gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsene, promovierte Chemikerin Gretel in Berlin von 1933 bis 1937 leitete.
„Immer mehr Leute ziehen fort”
Durch den vorliegenden Briefwechsel erhalten wir erstmals eine genaueres Porträt von dieser Frau. Ihre Stellung erlaubte es ihr, Benjamin hin und wieder über die ärgste Not hinwegzuhelfen. Wenn die Geldüberweisungen, die vor allem während der ersten Exiljahre nach Ibiza oder Paris gingen, im Briefwechsel erwähnt werden, ist nie direkt vom Geld die Rede, sondern von „rosa Zettelchen” oder „Blumenmustern”. So weiß sie zu verhindern, dass die Linderung der Kränkungen der Armut durch jene Kränkungen, die der Bittsteller empfindet, zunichte gemacht wird.
Eine ähnliche Empfindlichkeit belegt ihre Frage, ob sie nun nicht eigentlich den Namen Felizitas ablegen müsse, als Benjamin mitteilt, dass seine Bemühungen um den ihm zustehenden Tantiemen-Anteil am Speyerschen Theaterstück endgültig vergebens waren. Ein profaner Akt im Trauerspiel der mühsamen Sicherung bescheidenster Existenz- und Arbeitsbedingungen, das auch dieses biografische Dokument aus dem letzten Jahrzehnt im Leben Benjamins beherrscht. Doch gerade für die Belange des alltäglichen Lebens spielte die Briefpartnerin eine Hauptrolle. Ihr gibt er Einblick in seine Lage und den Stand seiner Arbeiten, mit ihr tauscht er ständig Bücher, Leseeindrücke und Berichte über das gegenseitige Befinden. Sie schickt ihm Papier, besorgt ihm entlegene Bücher und Zeitschriften; bei ihr hat er einen Teil seiner Bibliothek und Unterlagen deponiert, nachdem er seine Berliner Wohnung hatte aufgeben müssen. Und sie berichtet ihm in seine zunehmende Vereinsamung von Bekannten und Freunden in Berlin. In dieser Hinsicht allerdings wendet sich mit dem Fortschreiten des NS-Regimes, durch das viele Intellektuelle und Juden ins Exil getrieben wurden, das Blatt. „Immer mehr Leute ziehen fort”, klagt sie im Oktober 1935.
Doch vertraut Gretel Karplus dem Freund auch ganz andere Klagen an, auch diese exklusiv. Wäre Benjamin ihrer mehrfachen Aufforderung gefolgt, die Blätter zu vernichten, dann erführen die Leser des jetzt publizierten Briefwechsels etwas weniger von ihren Geheimnissen. Doch auch in diesem Fall enthüllte er noch eines jener zahlreichen Geheimnisse, die oft in Hinterlassenschaften und Nachlässen schlummern - bis sie ediert werden. Die Aufhebung des Briefgeheimnisses, die mit jeder Briefedition einhergeht, macht uns in diesem Falle nicht nur zu Voyeuren, sondern zu Komplizen. „Unser Geheimnis”, so nennt Gretel die selbstgewählten Namen und das Du, ein Geheimnis, das sie immer wieder bespricht, wenn nicht beschwört, ebenso wie „unser intensives Beisammensein 1932/33” oder „die letzten Stunden im Berliner alten Westend.”
Was in Gretels Worten wie das Ende einer Epoche erscheint, der Vorabend des Dritten Reiches, bezieht sich auf jene Wintermonate vor Benjamins Weggang aus Berlin, auf die der Beginn ihrer Freundschaft zurückgeht, die sich danach - mit Ausnahme weniger kurzer Begegnungen - ausschließlich im Briefwechsel abspielt. Dass die räumliche Distanz das Gefühl der Nähe und die Sehnsucht steigert, wird von ihr durchaus reflektiert, ebenso das Vergnügen an der Heimlichkeit und dem Versteck.
Vor allem vor Adorno - sie spricht von Teddie, er von Wiesengrund - weiß Gretel Karplus das Geheimnis zu schützen. Sie kündigt die Zeiten seiner Berlinbesuche an und nennt Benjamin auch mal eine andere Postadresse, an die er ihr schreiben soll. Insofern handelt der Briefwechsel von einer nicht unkomplizierten Dreierbeziehung. Die Dramaturgie der Anreden, die Art und Weise, wie das Ich und Du sich zum Du und Wir (Felizitas und Teddie) oder auch mal zum Ich (Felizitas) und Ihr (Detlef/Teddie) wandelt, gehört zu jenen Momenten, die die Lektüre des Briefwechsels zum Vergnügen machen. Nicht nur, weil Benjamins Briefe bereits bekannt sind, sorgt vor allem Gretels Anteil an der Korrespondenz für Überraschungen, sondern auch, weil sie die Aktivste in der Gestaltung der Dreierkonstellation ist.
Vor allem in den ersten zwei Korrespondenzjahren scheint die Beziehung für sie tendenziell eine liaison dangereux für ihre Verbindung mit Teddie gewesen zu sein, mit dem sie seit 1924 verlobt war. Kaum hat sie ihre Zeilen emotional aufgeladen, muss sie die Beziehung neutralisieren - wobei sie auch zu problematischen Bildern greift wie dem, dass sie Benjamin adoptieren wolle, während sie Adorno als ihr „Sorgenkind” bezeichnet , worauf Benjamin sie in der ihm eigenen, feinen Ironie aufmerksam macht: „Ein Sorgenkind und ein Adoptivkind. Sehnen Sie sich nicht manchmal nach einem Erwachsenen? Den könnte ich bei Ihnen schon vertreten, wenn Sie gegenwärtig wären”. Doch eine gemeinsame Gegenwart wird von ihrer Seite nahezu systematisch verhindert, indem sie geplante Besuche oder Treffen immer wieder aufschiebt, um anderseits ihre Sehnsucht danach zum Ausdruck zu bringen.
Die Konstellation verändert sich, als es Gretel durch geschickte Diplomatie gelingt, den intellektuellen Austausch zwischen den Männern zu vermitteln und ihre Freundschaft zu Benjamin in ihre Beziehung zu Adorno zu integrieren. Jetzt verwandelt sich Benjamin für sie zum Vertrauten, dem sie ihre Zweifel und Ängste, ihre Enttäuschungen und ihre Einsamkeit mitteilt. So klagt sie etwa über ihr ewiges Warten auf Adorno, ein Abwarten, das so gar nichts mit jenem Warten gemein hat, das Benjamin im Surrealismus-Essay als „profane Erleuchtung” gewertet hat. So meldet sie nach zehnjähriger Verlobungszeit im Oktober 1934: „noch immer alles beim Alten.”
Bloß Teddies Anhängsel?
Im gleichen Augenblick, wie Benjamin zum Vertrauten wird, ist zu beobachten, wie sich die Dreiecks- in eine Vierecksbeziehung verwandelt. Dies geschieht, als Gretel sich auf eine Affäre mit Egon Wissing einlässt, an deren Zustandekommen ausgerechnet Benjamin nicht unschuldig ist, weil er ihr seinen alten Freund als Arzt empfohlen hatte, und die die einzige wirkliche Irritation in der fast zehnjährigen Korrespondenz hervorruft. Die „tollen 3 Monate in Berlin”, die sie mit ihm erlebt, werden erst nachträglich von ihr in aller Klarheit benannt, wenn sie ihn als „Gegenkandidaten” bezeichnet. Wissing war ganz offensichtlich ein Mann, der in ihr ambivalente Gefühle ausgelöst hat, draufgängerisch und unzuverlässig zugleich. Sie drängt wiederholt darauf, von Benjamin mehr über seine Vergangenheit zu erfahren und sich über ihn auszutauschen. Und hier bewährt sich das Vertrauen; ihre Bitte um Diskretion ist bei Benjamin überflüssig.
Der Briefwechsel liest sich vor allem als Dokument einer außergewöhnlichen Freundschaft, welche die verschiedenen Stadien im Bedeutungsspektrum des Besonderen durchläuft. Am Anfang steht die Aura des „Originellen und Einzigartigen”, dann wird Benjamin zum „großen Bruder” und „zärtlichen Beichtvater”. Aus der geheimen Korrespondenz droht für kurze Zeit, nachdem Gretel und Theodor Adorno geheiratet haben und nun eine Wohnung, also auch eine Postanschrift teilen, eine bloße „Sonderkorrespondenz” zu werden, Anhängsel zur eigentlichen zwischen Teddie und Walter, die bis zum Schluss das Sie nicht aufgeben werden: eine Art Postskriptum von Felizitas an Detlef, das den Briefen Adornos angefügt ist. Es ist die Zeit, nachdem sie das Geschäft aufgegeben hat, mit Adorno erst nach London, dann nach New York gegangen ist, wo sie darum kämpft, nicht nur als „Anhängsel von Teddie” wahrgenommen zu werden. Bis der von Teddie gesonderte Briefwechsel zwischen Detlef und Felizitas wieder aufgenommen wird und sich die „Sonderstellung unserer Freundschaft” durchsetzt.
SIGRID WEIGEL
GRETEL ADORNO, WALTER BENJAMIN: Briefwechsel 1930-1940. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 434 Seiten, 26,90 Euro.
Gretel Karplus, hier ein Porträt vom März 1931, heiratete Adorno 1937. Zehn Jahre lang korrespondierte sie als „Felizitas” mit Walter Benjamin („Detlef”).
Foto: Studio Joël-Heinzelmann / Walter Benjamin Archiv, Akademie der Künste, Berlin
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Dokument einer außergewöhnlichen Freundschaft: Walter Benjamins Briefwechsel mit Gretel Adorno
Fünf Jahre nach Abschluss der sechsbändigen Ausgabe mit Briefen Walter Benjamins wartet das Herausgeberteam Gödde und Lonitz mit einer Überraschung auf. Zwar sind die darin publizierten Briefe Benjamins nicht neu, vieles davon ist schon mehrfach gedruckt: in verschiedenen Briefausgaben und ausschnittweise, soweit es die Genese seiner Schriften betrifft, im Kommentarteil der Werkausgabe. Jedoch erscheinen seine Briefe im Lichte der Gegenbriefe in einer anderen Färbung - und manchmal wie neu. Die Gegenbriefe: Das sind die bisher unveröffentlichten Briefe von Gretel Adorno.
Zwar war die Verbundenheit zwischen Benjamin und Gretel Karplus bekannt, auffällig durch den ganz eigenen Ton in der Korrespondenz. Doch musste vieles an der Beziehung rätselhaft bleiben, solange man nur seine Briefe an sie lesen konnte. So wird mancher sich etwa gefragt haben, wie es Benjamin gelungen ist, die vertraute Nähe zu ihr aufrechtzuerhalten durch die Jahre und alle Klippen seiner Beziehung zu Theodor W. Adorno hindurch (mit dem Gretel seit 1937 verheiratet war), mehr noch durch die Konflikte mit dem „Institut für Sozialforschung” um seine in deren Zeitschrift publizierten Aufsätze.
Ebenso bekannt war die Dramaturgie fingierter Namen, die exklusiv nur in diesem Briefwechsel benutzt werden und ihm einen eigenen Ton verleihen: Er heißt hier Detlef, nach einem seiner Pseudonyme, das er ab 1933 für seine Veröffentlichungen wählte. Sie wird nur hier Felizitas genannt, nach einer Figur aus dem Theaterstück „Ein Mantel, ein Hut, ein Handschuh” von Wilhelm Speyer, an dem Benjamin mitgearbeitet hatte. Der Name ist eine Anspielung auf die Handschuhfirma, die die zehn Jahre jüngere, in gutbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsene, promovierte Chemikerin Gretel in Berlin von 1933 bis 1937 leitete.
„Immer mehr Leute ziehen fort”
Durch den vorliegenden Briefwechsel erhalten wir erstmals eine genaueres Porträt von dieser Frau. Ihre Stellung erlaubte es ihr, Benjamin hin und wieder über die ärgste Not hinwegzuhelfen. Wenn die Geldüberweisungen, die vor allem während der ersten Exiljahre nach Ibiza oder Paris gingen, im Briefwechsel erwähnt werden, ist nie direkt vom Geld die Rede, sondern von „rosa Zettelchen” oder „Blumenmustern”. So weiß sie zu verhindern, dass die Linderung der Kränkungen der Armut durch jene Kränkungen, die der Bittsteller empfindet, zunichte gemacht wird.
Eine ähnliche Empfindlichkeit belegt ihre Frage, ob sie nun nicht eigentlich den Namen Felizitas ablegen müsse, als Benjamin mitteilt, dass seine Bemühungen um den ihm zustehenden Tantiemen-Anteil am Speyerschen Theaterstück endgültig vergebens waren. Ein profaner Akt im Trauerspiel der mühsamen Sicherung bescheidenster Existenz- und Arbeitsbedingungen, das auch dieses biografische Dokument aus dem letzten Jahrzehnt im Leben Benjamins beherrscht. Doch gerade für die Belange des alltäglichen Lebens spielte die Briefpartnerin eine Hauptrolle. Ihr gibt er Einblick in seine Lage und den Stand seiner Arbeiten, mit ihr tauscht er ständig Bücher, Leseeindrücke und Berichte über das gegenseitige Befinden. Sie schickt ihm Papier, besorgt ihm entlegene Bücher und Zeitschriften; bei ihr hat er einen Teil seiner Bibliothek und Unterlagen deponiert, nachdem er seine Berliner Wohnung hatte aufgeben müssen. Und sie berichtet ihm in seine zunehmende Vereinsamung von Bekannten und Freunden in Berlin. In dieser Hinsicht allerdings wendet sich mit dem Fortschreiten des NS-Regimes, durch das viele Intellektuelle und Juden ins Exil getrieben wurden, das Blatt. „Immer mehr Leute ziehen fort”, klagt sie im Oktober 1935.
Doch vertraut Gretel Karplus dem Freund auch ganz andere Klagen an, auch diese exklusiv. Wäre Benjamin ihrer mehrfachen Aufforderung gefolgt, die Blätter zu vernichten, dann erführen die Leser des jetzt publizierten Briefwechsels etwas weniger von ihren Geheimnissen. Doch auch in diesem Fall enthüllte er noch eines jener zahlreichen Geheimnisse, die oft in Hinterlassenschaften und Nachlässen schlummern - bis sie ediert werden. Die Aufhebung des Briefgeheimnisses, die mit jeder Briefedition einhergeht, macht uns in diesem Falle nicht nur zu Voyeuren, sondern zu Komplizen. „Unser Geheimnis”, so nennt Gretel die selbstgewählten Namen und das Du, ein Geheimnis, das sie immer wieder bespricht, wenn nicht beschwört, ebenso wie „unser intensives Beisammensein 1932/33” oder „die letzten Stunden im Berliner alten Westend.”
Was in Gretels Worten wie das Ende einer Epoche erscheint, der Vorabend des Dritten Reiches, bezieht sich auf jene Wintermonate vor Benjamins Weggang aus Berlin, auf die der Beginn ihrer Freundschaft zurückgeht, die sich danach - mit Ausnahme weniger kurzer Begegnungen - ausschließlich im Briefwechsel abspielt. Dass die räumliche Distanz das Gefühl der Nähe und die Sehnsucht steigert, wird von ihr durchaus reflektiert, ebenso das Vergnügen an der Heimlichkeit und dem Versteck.
Vor allem vor Adorno - sie spricht von Teddie, er von Wiesengrund - weiß Gretel Karplus das Geheimnis zu schützen. Sie kündigt die Zeiten seiner Berlinbesuche an und nennt Benjamin auch mal eine andere Postadresse, an die er ihr schreiben soll. Insofern handelt der Briefwechsel von einer nicht unkomplizierten Dreierbeziehung. Die Dramaturgie der Anreden, die Art und Weise, wie das Ich und Du sich zum Du und Wir (Felizitas und Teddie) oder auch mal zum Ich (Felizitas) und Ihr (Detlef/Teddie) wandelt, gehört zu jenen Momenten, die die Lektüre des Briefwechsels zum Vergnügen machen. Nicht nur, weil Benjamins Briefe bereits bekannt sind, sorgt vor allem Gretels Anteil an der Korrespondenz für Überraschungen, sondern auch, weil sie die Aktivste in der Gestaltung der Dreierkonstellation ist.
Vor allem in den ersten zwei Korrespondenzjahren scheint die Beziehung für sie tendenziell eine liaison dangereux für ihre Verbindung mit Teddie gewesen zu sein, mit dem sie seit 1924 verlobt war. Kaum hat sie ihre Zeilen emotional aufgeladen, muss sie die Beziehung neutralisieren - wobei sie auch zu problematischen Bildern greift wie dem, dass sie Benjamin adoptieren wolle, während sie Adorno als ihr „Sorgenkind” bezeichnet , worauf Benjamin sie in der ihm eigenen, feinen Ironie aufmerksam macht: „Ein Sorgenkind und ein Adoptivkind. Sehnen Sie sich nicht manchmal nach einem Erwachsenen? Den könnte ich bei Ihnen schon vertreten, wenn Sie gegenwärtig wären”. Doch eine gemeinsame Gegenwart wird von ihrer Seite nahezu systematisch verhindert, indem sie geplante Besuche oder Treffen immer wieder aufschiebt, um anderseits ihre Sehnsucht danach zum Ausdruck zu bringen.
Die Konstellation verändert sich, als es Gretel durch geschickte Diplomatie gelingt, den intellektuellen Austausch zwischen den Männern zu vermitteln und ihre Freundschaft zu Benjamin in ihre Beziehung zu Adorno zu integrieren. Jetzt verwandelt sich Benjamin für sie zum Vertrauten, dem sie ihre Zweifel und Ängste, ihre Enttäuschungen und ihre Einsamkeit mitteilt. So klagt sie etwa über ihr ewiges Warten auf Adorno, ein Abwarten, das so gar nichts mit jenem Warten gemein hat, das Benjamin im Surrealismus-Essay als „profane Erleuchtung” gewertet hat. So meldet sie nach zehnjähriger Verlobungszeit im Oktober 1934: „noch immer alles beim Alten.”
Bloß Teddies Anhängsel?
Im gleichen Augenblick, wie Benjamin zum Vertrauten wird, ist zu beobachten, wie sich die Dreiecks- in eine Vierecksbeziehung verwandelt. Dies geschieht, als Gretel sich auf eine Affäre mit Egon Wissing einlässt, an deren Zustandekommen ausgerechnet Benjamin nicht unschuldig ist, weil er ihr seinen alten Freund als Arzt empfohlen hatte, und die die einzige wirkliche Irritation in der fast zehnjährigen Korrespondenz hervorruft. Die „tollen 3 Monate in Berlin”, die sie mit ihm erlebt, werden erst nachträglich von ihr in aller Klarheit benannt, wenn sie ihn als „Gegenkandidaten” bezeichnet. Wissing war ganz offensichtlich ein Mann, der in ihr ambivalente Gefühle ausgelöst hat, draufgängerisch und unzuverlässig zugleich. Sie drängt wiederholt darauf, von Benjamin mehr über seine Vergangenheit zu erfahren und sich über ihn auszutauschen. Und hier bewährt sich das Vertrauen; ihre Bitte um Diskretion ist bei Benjamin überflüssig.
Der Briefwechsel liest sich vor allem als Dokument einer außergewöhnlichen Freundschaft, welche die verschiedenen Stadien im Bedeutungsspektrum des Besonderen durchläuft. Am Anfang steht die Aura des „Originellen und Einzigartigen”, dann wird Benjamin zum „großen Bruder” und „zärtlichen Beichtvater”. Aus der geheimen Korrespondenz droht für kurze Zeit, nachdem Gretel und Theodor Adorno geheiratet haben und nun eine Wohnung, also auch eine Postanschrift teilen, eine bloße „Sonderkorrespondenz” zu werden, Anhängsel zur eigentlichen zwischen Teddie und Walter, die bis zum Schluss das Sie nicht aufgeben werden: eine Art Postskriptum von Felizitas an Detlef, das den Briefen Adornos angefügt ist. Es ist die Zeit, nachdem sie das Geschäft aufgegeben hat, mit Adorno erst nach London, dann nach New York gegangen ist, wo sie darum kämpft, nicht nur als „Anhängsel von Teddie” wahrgenommen zu werden. Bis der von Teddie gesonderte Briefwechsel zwischen Detlef und Felizitas wieder aufgenommen wird und sich die „Sonderstellung unserer Freundschaft” durchsetzt.
SIGRID WEIGEL
GRETEL ADORNO, WALTER BENJAMIN: Briefwechsel 1930-1940. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 434 Seiten, 26,90 Euro.
Gretel Karplus, hier ein Porträt vom März 1931, heiratete Adorno 1937. Zehn Jahre lang korrespondierte sie als „Felizitas” mit Walter Benjamin („Detlef”).
Foto: Studio Joël-Heinzelmann / Walter Benjamin Archiv, Akademie der Künste, Berlin
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Die Herausgeber des Briefwechsels zwischen Gretel Adorno und Walter Benjamin "verdienen unseren Dank", schreibt Rezensent Manfred Schneider. Christoph Gödde und Henri Lonitz ermöglichen es dem Leser schließlich, Einblick in eine "ungewöhnliche Freundschaft" zu erhalten. Durch den "intimen Charakter" der Briefe komme man Adorno und Benjamin sehr nahe: Man "fürchtet" um ihr Leben und "hofft" bis zum letzten Augenblick, wie es der Kritiker formuliert. Er zeigt sich besonders angetan von den Erläuterungen, mit denen die Herausgeber "dokumentieren", wie Benjamin Adornos Texte für andere Skizzen nutzt, wie seine Gedanken "über alle Papiere laufen", die er jemals in der Hand hält. Das macht diesen Briefwechsel in den Augen des Rezensenten "einzigartig" und die vorliegende "schöne Edition" umso lesenswerter.
© Perlentaucher Medien GmbH
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