Im Dezember 1945 schrieb Thomas Mann jenen berühmten Brief an Theodor W. Adorno über das Prinzip der Montage in seinem Roman Doktor Faustus, verbunden mit der Einladung, gemeinsam »darüber nachzudenken, wie das Werk - ich meine Leverkühns Werk - ungefähr ins Werk zu setzen wäre«. Die enge Zusammenarbeit an den Spätwerken Adrian Leverkühns - Adorno verfaßte detaillierte Entwürfe, die im Anhang des Bandes abgedruckt sind - wurde zur Grundlage dieser Korrespondenz, die in einer sehr ungewöhnlichen Begegnung von Tradition und Moderne entstand und in diesem Spannungsfeld bis zum Tode des Dichters andauerte. - Thomas Mann schrieb Adorno über die »faszinierende Lektüre« der Minima Moralia und kommentierte ausführlich den Versuch über Wagner, ein Buch, das er lesen wollte, »wie jemand in der Apokalypse ein Buch ißt, das ihm 'süß wie Honig schmeckt'«. Adorno begleitete die letzten Werke Thomas Manns, den Erwählten, Die Betrogene und die Wiederaufnahme des Felix Krull, mit eingehenden Kommentaren und nicht selten mit begeistertem Zuspruch. Selbst sehr private Fragen von entscheidender persönlicher Bedeutung, wie die mit großer Aufrichtigkeit geführte Diskussion um die Rückkehr aus der Emigration, bleiben im Briefwechsel nicht ausgespart.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.04.2002Der Nachbar in der Trambahn mag ein Henker gewesen sein
Dass Sie zwanzig Jahre wahrhaft zu mir gesprochen haben: „Doktor Faustus” als Gemeinschaftswerk im Briefwechsel von Thomas Mann und Theodor W. Adorno
Der Kanon der Literatur nivelliert den Altersunterschied seiner Autoren. In Ruhmeshallen gibt es keine hierarchischen Strukturen mehr; jede der geschichtslosen Büsten verstrahlt den Glanz vollkommener Autonomie, und es ist nicht mehr zu sagen, in welcher Beziehung die Aufgenommenen einmal zueinander standen. Der Buchumschlag des soeben erschienenen Briefwechsels zwischen Thomas Mann und Theodor W. Adorno zeigt zwei solche Büsten – würdevolle Fotografien des Dichters und des Philosophen, jeweils auf der Höhe ihres Schaffens –, und es wird durch diese Aufmachung genau jener Eindruck einer symmetrischen Korrespondenz zweier Monolithen erweckt, den bereits einer der ersten Briefe korrigiert.
Adorno war 31 Jahre jünger als Thomas Mann, man vergisst es leicht im Abstand eines halben Jahrhunderts. In seinem Glückwunschschreiben zum 70. Geburtstag des Schriftstellers erinnert er sich an ein weit zurückliegendes Ereignis: „Im Sommer 1921 bin ich einmal, in Kampen, unbemerkt einen langen Spaziergang hinter Ihnen hergegangen und habe mir ausgedacht, wie es wäre, wenn Sie nun zu mir sprächen. Daß sie zwanzig Jahre wahrhaft zu mir gesprochen haben, das ist ein Stück verwirklichter Utopie, wie es einem kaum je zuteil wird.”
Virtuoses Bauchrednertum
Der 18-jährige Schuljunge im Hintergrund des Großdichters: Diese respekterfüllte, zuweilen leicht unterwürfige Perspektive Adornos bleibt über die gesamte Korrespondenz hinweg erkennbar, auch wenn die Begegnung der beiden im Exil von Los Angeles von Anfang an im Zeichen einer gemeinsamen Arbeit steht. Man weiß, dass Thomas Mann im Sommer 1943, kurz nach dem Beginn des „Doktor Faustus”, einen Berater für das musiktheoretische Fundament des Romans suchte und sich nach der Lektüre der „Philosophie der neuen Musik” für Adorno entschied. In seinen ersten Jahren ist der Briefwechsel ganz von diesem Arbeitsprojekt geprägt, wobei sich interessante Aufschlüsse über das poetologische Verfahren Thomas Manns ergeben. Die Ränder des literarischen Textes stehen im Blickpunkt, die Nahtstellen zwischen externen Einflüssen, Anregungen, Lektüreniederschlägen einerseits und dem abgeschlossenen Werk andererseits.
Wichtigster Bezugspunkt ist immer wieder jener lange Brief Thomas Manns vom 30. Dezember 1945, der die Konstruktionstechnik des „Doktor Faustus” vollständig freizulegen versucht. Der Ratgeber wird detailliert mit dem „Prinzip der Montage” vertraut gemacht, „das sich eigentümlich und vielleicht anstössig genug durch dieses ganze Buch zieht, – vollkommen eingeständlich, ohne ein Hehl aus sich zu machen”. Thomas Mann berichtet davon, wie er ein Element aus der Biografie von Nietzsche oder Tschaikowsky für die Geschichte seines Helden Adrian Leverkühn benutzt; „historisch gegeben und bekannt wie es ist, klebe ich es auf und lasse die Ränder verwischen”. Diese Kunst des „höheren Abschreibens” stößt aber, wie Thomas Mann im Hinblick auf seine Anleihen bei der Philosophie Adornos schreibt, in dem Moment an eine Grenze, „wenn es sich bei der Aneignung um Materialien handelt, die selbst schon Geist sind ..., besonders da der Leser sie vorderhand nicht feststellen kann, ohne dass noch, um der Illusion willen, eine rechte Möglichkeit gegeben wäre, ihn auf sie hinzuweisen. (Fussbemerkung: ,Dies stammt von Adorno-Wiesengrund’? Das geht nicht.)”
Wie sichtbar sollen die Produktionsspuren eines vollendeten Kunstwerks bleiben? Am Beispiel des „Doktor Faustus” bilden diese Grundfragen moderner Ästhetik ein Kernstück der Korrespondenz. Intertextualität live: Auch wenn Thomas Mann den Lauf des Sprachflusses nicht durch Fußnoten unterbrochen sehen will, hat sich sein Spätwerk von jeder Ambition umittelbaren Erzählens verabschiedet. „Man könnte von einer Altersneigung sprechen”, schreibt er an Adorno, „das Leben als Kulturprodukt und in Gestalt mythischer Klischees zu sehen, die man der ,selbständigen Erfindung’ in verkalkter Würde vorzieht.”
Dieser Vorliebe verdankt sich die Biographie des Komponisten Adrian Leverkühn, die sich bis in die Figuren- und Ortsbeschreibungen hinein aus Versatzstücken der Literatur-, Musik- und Kunstgeschichte zusammensetzt. Vielleicht kann die Publizierung des Briefwechsels mit Adorno an der Klärung jenes Missverständisses mitarbeiten, dass Thomas Mann der „letzte große Erzähler” deutscher Sprache sei, schöpferisches Genie im Sinne des 19. Jahrhunderts. Gerade die Entstehungsgeschichte des „Doktor Faustus” macht deutlich, dass wenige Autoren die Problematik der Beschreibbarkeit von Realität ernster genommen haben.
Die literarische Technik Thomas Manns, das zeigt dieser Blick auf die Rückseite seiner Produktion, ist von einer einzigartigen Doppelbewegung geprägt. Denn so artifiziell die Gestaltungsweise eines Romans wie „Doktor Faustus” sein mag: Man kann sich in die Erinnerungen Serenus Zeitbloms auch ohne weiteres vertiefen, als hätte man es mit dem Plot einer einfachen Abenteuergeschichte zu tun. Wie bei einem virtuosen Bauchredner genügen ein paar Worte der Puppe, um sofort wieder an die Unmittelbarkeit des Gesagten zu glauben, selbst wenn einem der Mechanismus der Vermittlung gerade erklärt worden ist. Gegenüber Adorno spricht Thomas Mann wiederholt davon, dass sich seine Arbeit auf die Fähigkeit beschränken würde, das vorhandene Material „in Verse zu bringen”: lakonischer Ausdruck einer Poetologie des Sekundären, die weniger mit traditionellen als vielmehr mit hochmodernen Erzählweisen zu tun hat.
Im Tagebuch dieser Zeit stellt Thomas Mann eine solche Nähe einmal selbst her. Anlässlich einer Lesung von Bruno Frank schreibt er: „Mir merkwürdig aber: Er benutzt den humanistischen Erzähl-Stil Zeitbloms vollkommen ernst, als seinen eigenen. Ich kenne im Stilistischen eigentlich nur noch die Parodie. Darin nahe bei Joyce.” Der Unterschied zwischen „Ulysses” und „Doktor Faustus” besteht aber darin – und das betrifft wieder die Frage nach der Sichtbarkeit der Produktionsspuren –, dass Joyce die Heterogenität des Erzählverfahrens vollständig nach außen stülpt. Man erinnere sich demgegenüber an die Formulierung, mit der Thomas Mann den Gedanken an eine Fußnote in seinem Werk kommentierte: „um der Illusion willen” sei dieser Eingriff unmöglich. Man könnte vom inwendigen Konstruktivismus der Literatur Thomas Manns sprechen.
Es gibt in diesem Briefwechsel eine Passage, die die Technik des „In- Verse-Bringens” heterogener Elemente, das unmerkliche Verwischen der Ränder, auf eindrucksvolle Weise vorführt. Im Juli 1948 bittet Thomas Mann, der gerade an der „Entstehung des Doktor Faustus” arbeitet, seinen vormaligen Berater um „ein paar Daten und Gedächtnisstützen über Ihre Person”. Adorno liefert einen kurzen biographischen Abriss, der mit den Worten beginnt: „Geboren bin ich 1903 in Frankfurt. Mein Vater war deutscher Jude, meine Mutter, selbst Sängerin, ist die Tochter eines französischen Offiziers korsischer – ursprünglich genuesischer – Abstammung und einer deutschen Sängerin. Ich bin in einer ganz und gar von theoretischen (auch politischen) und künstlerischen, vor allem musikalischen Interessen beherrschten Atmosphäre aufgewachsen. / Ich studierte Philosophie und Musik. Anstatt mich zu entscheiden, hatte ich mein Leben lang das Gefühl, in den diversen Bereichen eigentlich das Gleiche zu verfolgen.”
Wie lautet die entsprechende Passage in dem „Roman eines Romans”, dessen Tonfall von einer souveränen, fast an mündliches Erzählen erinnnernden Beiläufigkeit gekennzeichnet ist? „Theodor Wiesengrund Adorno, Jahrgang 1903, ist in Frankfurt am Main geboren. Sein Vater war deutscher Jude, seine Mutter, selbst Sängerin, ist die Tochter eines französischen Offiziers korsischer – ursprünglicher genuesischer – Abstammung und einer deutschen Sängerin .. . Aufgewachsen in einer ganz und gar von theoretischen (auch politischen) und künstlerischen, vor allem musikalischen Interessen beherrschten Atmosphäre, studierte er Philosophie und Musik ... Dieser merkwürdige Kopf hat die berufliche Entscheidung zwischen Philosophie und Musik sein Leben lang abgelehnt. Zu gewiß war es ihm, daß er in beiden divergenten Bereichen eigentlich das Gleiche verfolge.” Allenfalls die Position des feinfühligen Redakteurs nimmt Thomas Mann in seiner Montage einer Montage noch ein: aus „ursprünglich genuesischer” wird „ursprünglicher genuesischer Herkunft”, aus „diversen” das präzisere „divergenten Bereichen”. Ansonsten hatte Theodor W. Adorno die Sache seinerseits schon in druckreife Verse gebracht.
Hintertür zur Unsterblichkeit
Dieser irritierende Pragmatismus in der Komposition eigener Texte gehört vielleicht wirklich zu den Eigenschaften von Alterswerken. Gut vorstellbar ist dagegen die Sorgfalt, mit der Adorno die biographischen Informationen für jenen Roman zusammenstellte, der ihm, wie er erwartungsvoll schreibt, die „Hintertür zur Unsterblichkeit” öffnen sollte. Es ist den Briefen der beiden Korrespondenten ohnehin eine gewisse Differenz anzumerken, was ihren Stellenwert im eigenen Werk, ihre schriftstellerische Ambition betrifft. Während Thomas Mann, nach dem „Montage”-Brief, zunehmend kürzer und lakonischer wird, versucht Adorno in seinen Kommentaren zum „Doktor Faustus” und später zum „Erwählten”, zur „Betrogenen” und zum „Felix Krull” seine ästhetischen Positionen zu schärfen. Die Grenze zwischen Brief und Abhandlung verfließt in den letzten Jahren nur noch auf der Seite des Jüngeren; seine Überlegungen zum Fragment, mit denen er die zögernde Wiederaufnahme des „Krull” forcieren möchte, oder zur ästhetischen Autonomie der Romane Thomas Manns bilden offensichtlich die Keimzelle späterer Aufsätze über Valéry, Borchardt oder engagierte Literatur.
Doch es ist nicht nur das dynamischere Verhältnis zur eigenen Produktion, das Adornos Briefe nach dem Ende der gemeinsamen Arbeit von denen Manns unterscheidet; sie gewähren dem Adressaten auch einen unmittelbareren Einblick in persönliche Lebenszusammenhänge. Nach der Rückkehr an die Frankfurter Universität im Oktober 1949 berichtet Adorno etwa mit einer Emphase über die Wissbegier der deutschen Studenten, die etwas Überraschendes, dem Tonfall seiner um diese Zeit entstehenden Texte beinahe Unangemessenes hat. Dass „von einem ,Niveauverlust’ der akademischen Jugend nicht die Rede sein kann”, lässt er den in Los Angeles Gebliebenen wissen, so wie er überhaupt Mühe hat, vier Jahre nach Kriegsende noch Nachwirkungen des nationalsozialistischen Regimes zu entdecken: „Wenn ich aufrichtig bin, muß ich sagen, daß es immer erst der Reflexion bedarf, um mich daran zu erinnern, daß der Nachbar in der Trambahn ein Henker gewesen sein kann.” Diese Briefpassagen sind deshalb so interessant, weil man natürlich die Unerbittlichkeit des Sounds in den Nachkriegstexten Adornos im Ohr hat. Fast scheint es, als hätte er der drohenden Verführung durch die Leichtigkeit des Neubeginns eine um so radikalere stilistische Strenge entgegensetzen müssen.
Zahllosen Ankündigungen zum Trotz haben sich die beiden Korrespondenten nach Adornos Rückkehr 1949 nicht mehr persönlich getroffen. In den Briefen Thomas Manns glaubt man an Nuancen des Tonfalls bereits zu erkennen, dass er dieses mehrmalige Versäumnis nicht unbedingt bedauerte. Welch gewandte Politiker der Freundschaft in dieser Korrespondenz tatsächlich aufeinander trafen, vermag ein Blick in Thomas Manns Tagebücher dieser Jahre zu zeigen. Man sollte sie parallel zu dem Briefwechsel lesen; auf diese Weise wird nicht zuletzt deutlich, dass dem musikalischen Berater in der „Entstehung des Doktor Faustus” ursprünglich eine weitaus umfassendere Würdigung zugedacht war. Im Jahre 1948 gibt es regelmäßig Einträge wie diese: „Adorno, in dessen Brust das Bewußtsein der musikalsichen Teilhabe am Faustus gährt. Etwas unheimlich.”; „Morgens mit K. belastendes Gespräch über die Adorno- Enthüllungen, die sie unerträglich desillusionierend findet”.
Ähnliche Abweichungen vom stets freundschaftlichen Tonfall der Briefe finden sich in jenen Tagebuchnotizen, die sich auf zugesandte Werke Adornos beziehen. So schreibt er etwa nach Erhalt eines Beitrags in der Neuen Rundschau begeistert: „Ihr Benjamin-Aufsatz ist ein faszinierendes Stück Lektüre”, während das Tagebuch über die gleiche Ausgabe der Zeitschrift folgendes Urteil fällt: „Recht snobisch und supergescheit. Adorno über Benjamin. Dieser selbst über Historie. Man müsste es wohl studieren, würde aber nichts davon behalten.”; Insofern verhält sich der Briefeschreiber Thomas Mann zu den Gedankensplittern seines Tagebuchs ähnlich wie der glättende Erzähler Zeitblom zum vielfältig montierenden Autor. Wie heißt es doch in der so milden Diktion der „Entstehung des Doktor Faustus”? „Dann spielte mir Adorno, während ich zuschauend bei ihm am Flügel stand, die Sonate opus 111 vollständig und auf höchst instruktive Art. Ich war nie aufmerksamer gewesen.” Im Tagebuch heißt es einige Zeit später: „Zum Abendessen bei Adorno’s. Wundervoller Pfälzer. Schlechtes Klavierspiel A.’s”
ANDREAS
BERNARD
THEODOR W. ADORNO / THOMAS MANN: Briefwechsel 1943-1955. Herausgegeben von Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2002. 176 Seiten. 24,90 Euro.
Von oben: Thomas Mann mit Enkel Frido im Garten seines Hauses in „Pacific Palisades”, 1944. Willem Swanenburg: „Satan malt das Bild der weltlichen Eitelkeit”. Adorno am Schreibtisch in Los Angeles.
Fotos:
Thomas Mann Archiv / SZ-Archiv / Theodor W. Adorno Archiv
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Dass Sie zwanzig Jahre wahrhaft zu mir gesprochen haben: „Doktor Faustus” als Gemeinschaftswerk im Briefwechsel von Thomas Mann und Theodor W. Adorno
Der Kanon der Literatur nivelliert den Altersunterschied seiner Autoren. In Ruhmeshallen gibt es keine hierarchischen Strukturen mehr; jede der geschichtslosen Büsten verstrahlt den Glanz vollkommener Autonomie, und es ist nicht mehr zu sagen, in welcher Beziehung die Aufgenommenen einmal zueinander standen. Der Buchumschlag des soeben erschienenen Briefwechsels zwischen Thomas Mann und Theodor W. Adorno zeigt zwei solche Büsten – würdevolle Fotografien des Dichters und des Philosophen, jeweils auf der Höhe ihres Schaffens –, und es wird durch diese Aufmachung genau jener Eindruck einer symmetrischen Korrespondenz zweier Monolithen erweckt, den bereits einer der ersten Briefe korrigiert.
Adorno war 31 Jahre jünger als Thomas Mann, man vergisst es leicht im Abstand eines halben Jahrhunderts. In seinem Glückwunschschreiben zum 70. Geburtstag des Schriftstellers erinnert er sich an ein weit zurückliegendes Ereignis: „Im Sommer 1921 bin ich einmal, in Kampen, unbemerkt einen langen Spaziergang hinter Ihnen hergegangen und habe mir ausgedacht, wie es wäre, wenn Sie nun zu mir sprächen. Daß sie zwanzig Jahre wahrhaft zu mir gesprochen haben, das ist ein Stück verwirklichter Utopie, wie es einem kaum je zuteil wird.”
Virtuoses Bauchrednertum
Der 18-jährige Schuljunge im Hintergrund des Großdichters: Diese respekterfüllte, zuweilen leicht unterwürfige Perspektive Adornos bleibt über die gesamte Korrespondenz hinweg erkennbar, auch wenn die Begegnung der beiden im Exil von Los Angeles von Anfang an im Zeichen einer gemeinsamen Arbeit steht. Man weiß, dass Thomas Mann im Sommer 1943, kurz nach dem Beginn des „Doktor Faustus”, einen Berater für das musiktheoretische Fundament des Romans suchte und sich nach der Lektüre der „Philosophie der neuen Musik” für Adorno entschied. In seinen ersten Jahren ist der Briefwechsel ganz von diesem Arbeitsprojekt geprägt, wobei sich interessante Aufschlüsse über das poetologische Verfahren Thomas Manns ergeben. Die Ränder des literarischen Textes stehen im Blickpunkt, die Nahtstellen zwischen externen Einflüssen, Anregungen, Lektüreniederschlägen einerseits und dem abgeschlossenen Werk andererseits.
Wichtigster Bezugspunkt ist immer wieder jener lange Brief Thomas Manns vom 30. Dezember 1945, der die Konstruktionstechnik des „Doktor Faustus” vollständig freizulegen versucht. Der Ratgeber wird detailliert mit dem „Prinzip der Montage” vertraut gemacht, „das sich eigentümlich und vielleicht anstössig genug durch dieses ganze Buch zieht, – vollkommen eingeständlich, ohne ein Hehl aus sich zu machen”. Thomas Mann berichtet davon, wie er ein Element aus der Biografie von Nietzsche oder Tschaikowsky für die Geschichte seines Helden Adrian Leverkühn benutzt; „historisch gegeben und bekannt wie es ist, klebe ich es auf und lasse die Ränder verwischen”. Diese Kunst des „höheren Abschreibens” stößt aber, wie Thomas Mann im Hinblick auf seine Anleihen bei der Philosophie Adornos schreibt, in dem Moment an eine Grenze, „wenn es sich bei der Aneignung um Materialien handelt, die selbst schon Geist sind ..., besonders da der Leser sie vorderhand nicht feststellen kann, ohne dass noch, um der Illusion willen, eine rechte Möglichkeit gegeben wäre, ihn auf sie hinzuweisen. (Fussbemerkung: ,Dies stammt von Adorno-Wiesengrund’? Das geht nicht.)”
Wie sichtbar sollen die Produktionsspuren eines vollendeten Kunstwerks bleiben? Am Beispiel des „Doktor Faustus” bilden diese Grundfragen moderner Ästhetik ein Kernstück der Korrespondenz. Intertextualität live: Auch wenn Thomas Mann den Lauf des Sprachflusses nicht durch Fußnoten unterbrochen sehen will, hat sich sein Spätwerk von jeder Ambition umittelbaren Erzählens verabschiedet. „Man könnte von einer Altersneigung sprechen”, schreibt er an Adorno, „das Leben als Kulturprodukt und in Gestalt mythischer Klischees zu sehen, die man der ,selbständigen Erfindung’ in verkalkter Würde vorzieht.”
Dieser Vorliebe verdankt sich die Biographie des Komponisten Adrian Leverkühn, die sich bis in die Figuren- und Ortsbeschreibungen hinein aus Versatzstücken der Literatur-, Musik- und Kunstgeschichte zusammensetzt. Vielleicht kann die Publizierung des Briefwechsels mit Adorno an der Klärung jenes Missverständisses mitarbeiten, dass Thomas Mann der „letzte große Erzähler” deutscher Sprache sei, schöpferisches Genie im Sinne des 19. Jahrhunderts. Gerade die Entstehungsgeschichte des „Doktor Faustus” macht deutlich, dass wenige Autoren die Problematik der Beschreibbarkeit von Realität ernster genommen haben.
Die literarische Technik Thomas Manns, das zeigt dieser Blick auf die Rückseite seiner Produktion, ist von einer einzigartigen Doppelbewegung geprägt. Denn so artifiziell die Gestaltungsweise eines Romans wie „Doktor Faustus” sein mag: Man kann sich in die Erinnerungen Serenus Zeitbloms auch ohne weiteres vertiefen, als hätte man es mit dem Plot einer einfachen Abenteuergeschichte zu tun. Wie bei einem virtuosen Bauchredner genügen ein paar Worte der Puppe, um sofort wieder an die Unmittelbarkeit des Gesagten zu glauben, selbst wenn einem der Mechanismus der Vermittlung gerade erklärt worden ist. Gegenüber Adorno spricht Thomas Mann wiederholt davon, dass sich seine Arbeit auf die Fähigkeit beschränken würde, das vorhandene Material „in Verse zu bringen”: lakonischer Ausdruck einer Poetologie des Sekundären, die weniger mit traditionellen als vielmehr mit hochmodernen Erzählweisen zu tun hat.
Im Tagebuch dieser Zeit stellt Thomas Mann eine solche Nähe einmal selbst her. Anlässlich einer Lesung von Bruno Frank schreibt er: „Mir merkwürdig aber: Er benutzt den humanistischen Erzähl-Stil Zeitbloms vollkommen ernst, als seinen eigenen. Ich kenne im Stilistischen eigentlich nur noch die Parodie. Darin nahe bei Joyce.” Der Unterschied zwischen „Ulysses” und „Doktor Faustus” besteht aber darin – und das betrifft wieder die Frage nach der Sichtbarkeit der Produktionsspuren –, dass Joyce die Heterogenität des Erzählverfahrens vollständig nach außen stülpt. Man erinnere sich demgegenüber an die Formulierung, mit der Thomas Mann den Gedanken an eine Fußnote in seinem Werk kommentierte: „um der Illusion willen” sei dieser Eingriff unmöglich. Man könnte vom inwendigen Konstruktivismus der Literatur Thomas Manns sprechen.
Es gibt in diesem Briefwechsel eine Passage, die die Technik des „In- Verse-Bringens” heterogener Elemente, das unmerkliche Verwischen der Ränder, auf eindrucksvolle Weise vorführt. Im Juli 1948 bittet Thomas Mann, der gerade an der „Entstehung des Doktor Faustus” arbeitet, seinen vormaligen Berater um „ein paar Daten und Gedächtnisstützen über Ihre Person”. Adorno liefert einen kurzen biographischen Abriss, der mit den Worten beginnt: „Geboren bin ich 1903 in Frankfurt. Mein Vater war deutscher Jude, meine Mutter, selbst Sängerin, ist die Tochter eines französischen Offiziers korsischer – ursprünglich genuesischer – Abstammung und einer deutschen Sängerin. Ich bin in einer ganz und gar von theoretischen (auch politischen) und künstlerischen, vor allem musikalischen Interessen beherrschten Atmosphäre aufgewachsen. / Ich studierte Philosophie und Musik. Anstatt mich zu entscheiden, hatte ich mein Leben lang das Gefühl, in den diversen Bereichen eigentlich das Gleiche zu verfolgen.”
Wie lautet die entsprechende Passage in dem „Roman eines Romans”, dessen Tonfall von einer souveränen, fast an mündliches Erzählen erinnnernden Beiläufigkeit gekennzeichnet ist? „Theodor Wiesengrund Adorno, Jahrgang 1903, ist in Frankfurt am Main geboren. Sein Vater war deutscher Jude, seine Mutter, selbst Sängerin, ist die Tochter eines französischen Offiziers korsischer – ursprünglicher genuesischer – Abstammung und einer deutschen Sängerin .. . Aufgewachsen in einer ganz und gar von theoretischen (auch politischen) und künstlerischen, vor allem musikalischen Interessen beherrschten Atmosphäre, studierte er Philosophie und Musik ... Dieser merkwürdige Kopf hat die berufliche Entscheidung zwischen Philosophie und Musik sein Leben lang abgelehnt. Zu gewiß war es ihm, daß er in beiden divergenten Bereichen eigentlich das Gleiche verfolge.” Allenfalls die Position des feinfühligen Redakteurs nimmt Thomas Mann in seiner Montage einer Montage noch ein: aus „ursprünglich genuesischer” wird „ursprünglicher genuesischer Herkunft”, aus „diversen” das präzisere „divergenten Bereichen”. Ansonsten hatte Theodor W. Adorno die Sache seinerseits schon in druckreife Verse gebracht.
Hintertür zur Unsterblichkeit
Dieser irritierende Pragmatismus in der Komposition eigener Texte gehört vielleicht wirklich zu den Eigenschaften von Alterswerken. Gut vorstellbar ist dagegen die Sorgfalt, mit der Adorno die biographischen Informationen für jenen Roman zusammenstellte, der ihm, wie er erwartungsvoll schreibt, die „Hintertür zur Unsterblichkeit” öffnen sollte. Es ist den Briefen der beiden Korrespondenten ohnehin eine gewisse Differenz anzumerken, was ihren Stellenwert im eigenen Werk, ihre schriftstellerische Ambition betrifft. Während Thomas Mann, nach dem „Montage”-Brief, zunehmend kürzer und lakonischer wird, versucht Adorno in seinen Kommentaren zum „Doktor Faustus” und später zum „Erwählten”, zur „Betrogenen” und zum „Felix Krull” seine ästhetischen Positionen zu schärfen. Die Grenze zwischen Brief und Abhandlung verfließt in den letzten Jahren nur noch auf der Seite des Jüngeren; seine Überlegungen zum Fragment, mit denen er die zögernde Wiederaufnahme des „Krull” forcieren möchte, oder zur ästhetischen Autonomie der Romane Thomas Manns bilden offensichtlich die Keimzelle späterer Aufsätze über Valéry, Borchardt oder engagierte Literatur.
Doch es ist nicht nur das dynamischere Verhältnis zur eigenen Produktion, das Adornos Briefe nach dem Ende der gemeinsamen Arbeit von denen Manns unterscheidet; sie gewähren dem Adressaten auch einen unmittelbareren Einblick in persönliche Lebenszusammenhänge. Nach der Rückkehr an die Frankfurter Universität im Oktober 1949 berichtet Adorno etwa mit einer Emphase über die Wissbegier der deutschen Studenten, die etwas Überraschendes, dem Tonfall seiner um diese Zeit entstehenden Texte beinahe Unangemessenes hat. Dass „von einem ,Niveauverlust’ der akademischen Jugend nicht die Rede sein kann”, lässt er den in Los Angeles Gebliebenen wissen, so wie er überhaupt Mühe hat, vier Jahre nach Kriegsende noch Nachwirkungen des nationalsozialistischen Regimes zu entdecken: „Wenn ich aufrichtig bin, muß ich sagen, daß es immer erst der Reflexion bedarf, um mich daran zu erinnern, daß der Nachbar in der Trambahn ein Henker gewesen sein kann.” Diese Briefpassagen sind deshalb so interessant, weil man natürlich die Unerbittlichkeit des Sounds in den Nachkriegstexten Adornos im Ohr hat. Fast scheint es, als hätte er der drohenden Verführung durch die Leichtigkeit des Neubeginns eine um so radikalere stilistische Strenge entgegensetzen müssen.
Zahllosen Ankündigungen zum Trotz haben sich die beiden Korrespondenten nach Adornos Rückkehr 1949 nicht mehr persönlich getroffen. In den Briefen Thomas Manns glaubt man an Nuancen des Tonfalls bereits zu erkennen, dass er dieses mehrmalige Versäumnis nicht unbedingt bedauerte. Welch gewandte Politiker der Freundschaft in dieser Korrespondenz tatsächlich aufeinander trafen, vermag ein Blick in Thomas Manns Tagebücher dieser Jahre zu zeigen. Man sollte sie parallel zu dem Briefwechsel lesen; auf diese Weise wird nicht zuletzt deutlich, dass dem musikalischen Berater in der „Entstehung des Doktor Faustus” ursprünglich eine weitaus umfassendere Würdigung zugedacht war. Im Jahre 1948 gibt es regelmäßig Einträge wie diese: „Adorno, in dessen Brust das Bewußtsein der musikalsichen Teilhabe am Faustus gährt. Etwas unheimlich.”; „Morgens mit K. belastendes Gespräch über die Adorno- Enthüllungen, die sie unerträglich desillusionierend findet”.
Ähnliche Abweichungen vom stets freundschaftlichen Tonfall der Briefe finden sich in jenen Tagebuchnotizen, die sich auf zugesandte Werke Adornos beziehen. So schreibt er etwa nach Erhalt eines Beitrags in der Neuen Rundschau begeistert: „Ihr Benjamin-Aufsatz ist ein faszinierendes Stück Lektüre”, während das Tagebuch über die gleiche Ausgabe der Zeitschrift folgendes Urteil fällt: „Recht snobisch und supergescheit. Adorno über Benjamin. Dieser selbst über Historie. Man müsste es wohl studieren, würde aber nichts davon behalten.”; Insofern verhält sich der Briefeschreiber Thomas Mann zu den Gedankensplittern seines Tagebuchs ähnlich wie der glättende Erzähler Zeitblom zum vielfältig montierenden Autor. Wie heißt es doch in der so milden Diktion der „Entstehung des Doktor Faustus”? „Dann spielte mir Adorno, während ich zuschauend bei ihm am Flügel stand, die Sonate opus 111 vollständig und auf höchst instruktive Art. Ich war nie aufmerksamer gewesen.” Im Tagebuch heißt es einige Zeit später: „Zum Abendessen bei Adorno’s. Wundervoller Pfälzer. Schlechtes Klavierspiel A.’s”
ANDREAS
BERNARD
THEODOR W. ADORNO / THOMAS MANN: Briefwechsel 1943-1955. Herausgegeben von Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2002. 176 Seiten. 24,90 Euro.
Von oben: Thomas Mann mit Enkel Frido im Garten seines Hauses in „Pacific Palisades”, 1944. Willem Swanenburg: „Satan malt das Bild der weltlichen Eitelkeit”. Adorno am Schreibtisch in Los Angeles.
Fotos:
Thomas Mann Archiv / SZ-Archiv / Theodor W. Adorno Archiv
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2002Der Teufel als Förderer
Zum Briefwechsel von Thomas Mann und Theodor W. Adorno
Es gibt ein Bild von Klee, auf dem ein zauberhaftes Rollenspiel der Verbeugungen zu sehen ist, es heißt "Zwei Herren, einander in höherer Stellung vermutend". Die Versuchung liegt nahe, auch in den Briefen Adornos und Thomas Manns vor allem den diplomatischen Verkehr zweier meisterlicher Stilisten zu sehen, die sich in einem regelmäßigen Zeremoniell wechselseitig ihrer Bedeutung versichern. Gewiß: Wer sich auf diese Spur begibt, wird nicht leer ausgehen, die Varianten des Lobs sind unerschöpflich. "Muß ich Ihnen sagen, daß ich an Sie als den Leser dieser Arbeit gedacht habe?" schreibt Adorno, als sich Mann freundlich über seinen Benjamin-Essay geäußert hatte. Als 1951 die "Minima Moralia" erscheinen, hebt Mann die Dichte der Vignetten hervor und schreibt: "Um Sie zu lesen, darf man nicht müde sein."
Begonnen hatte die Freundschaft in den frühen vierziger Jahren. Adorno und Max Horkheimer waren an die amerikanische Westküste übergesiedelt und arbeiteten an der "Dialektik der Aufklärung", einem Endspiel des bürgerlichen Geistes; Thomas Mann schrieb an einem anderen Endspiel, dem Musiker-Roman "Doktor Faustus". Für die Kompositionstechnik des zwanzigsten Jahrhunderts und vor allem der Schönberg-Schule fand sich mit Adorno ein sachkundiger Berater, vielfach sind seine Ideen in die Kompositionen des Hauptprotagonisten Leverkühn eingegangen. Der Anhang zu den Briefen enthält Adornos Entwürfe zur Kammermusik Leverkühns und zu der Kantate "Doktor Fausti Weheklag", die das letzte Treffen Fausts mit den Schülern als "negatives Abendmahl" deutet; der Begriff der Melancholie, an Benjamins Trauerspielbuch erinnernd, spielt eine große Rolle. Auch die Uneingeweihten wurden bald durch Thomas Manns Werkstattbericht "Die Entstehung des Doktor Faustus" auf den Philosophen aufmerksam - wobei Adorno selbstbewußt darum gebeten hatte, seinen "gedanklich-phantasiemäßigen Anteil an Leverkühns OEuvre und seiner Ästhetik mehr hervorzuheben als den stofflich informatorischen".
Immer wieder hat man die Ähnlichkeit in der Erscheinung geschildert. Als der Teufel im Gespräch mit Leverkühn seine altdeutsche Gestalt ausgespielt hat, verwandelt er sich in einen modernen Intellektuellen, der selbst gelegentlich komponiert: "Einen weißen Kragen um und einen Schleifenschlips, auf der gebogenen Nase eine Brille mit Hornrahmen, hinter dem feucht-dunkle, etwas gerötete Augen schimmern - eine Mischung von Schärfe und Weichheit das Gesicht: die Nase scharf, die Lippen scharf, aber weich das Kinn, mit einem Grübchen darin, ein Grübchen an der Wange noch obendrein -, bleich und gewölbt die Stirn, aus der das Haar wohl erhöhend zurückgeschwunden, aber von ders zu den Seiten dicht, schwarz und wollig dahinterstand".
Als Roman der modernen Musik wurde der "Doktor Faustus" bewundert, aber als Parabel des deutschen Untergangs stieß er auf wenig Gegenliebe. Sicher nicht nur wegen des "Ressentiments" der Deutschen, das Adorno in einem Brief bemüht. Der Ton quälend-bemühter Ironie, mit dem der Erzähler Serenus Zeitblom das "Strafgericht" schildert, "wie es anjetzo über uns schwebt", muß schon damals angesichts des Geschehenen schwer erträglich gewesen sein, ebenso, nach den Erfahrungen mit der Roten Armee, Zeitbloms Versicherung, der Bolschewismus habe niemals Kunstwerke zerstört.
In der Korrespondenz der beiden Emigranten, von denen der eine sich zur Rückkehr nach Deutschland entschließt, spielt das Urteil über die alte Heimat eine große Rolle. Adorno blühte im Kontakt mit den deutschen Studenten offensichtlich auf: "Im übrigen befinde ich mich physisch ausnehmend wohl, dreimal so frisch und arbeitsfähig als im Westen, von Kopfschmerzen verschont - sonderbares Ansprechen eines gleichsam professionell Heimatlosen auf die Heimat." Im Jahr 1949 hielt er den Vortrag "Die auferstandene Kultur". Und diese ersten Eindrücke des Zurückgekehrten klangen nun stellenweise so unverhohlen optimistisch, daß mancher hellhörig wurde. Denn Adorno begann den Vortrag mit dem Bekenntnis, vom geistigen Klima in Deutschland positiv überrascht zu sein. Die Vorstellungen, die er sich draußen von der Barbarisierung gebildet hatte, mußte er revidieren: "Die Beziehung zu geistigen Dingen, im allerweitesten Sinne verstanden, ist intensiv. Mir will sie größer erscheinen als in den Jahren vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. Damals verdrängten die machtpolitischen Kämpfe alles andere." Natürlich blieb die positive Sicht der Lage nicht das letzte Wort; die mangelnde Bereitschaft der Deutschen zur Utopie und zum postnationalen Engagement, dieser ewige Tadel der ewigen Linken, kam auch 1949 schon zur Sprache. Dann nahm der Schweizer Kritiker Max Rychner Adornos Äußerungen zustimmend auf, und der Philosoph mußte sich fragen, ob er am Ende zu viele Konzessionen gemacht hatte.
Während Adorno sich langsam und, im Falle seiner Studenten, wohlwollend mit der Wirklichkeit der Bundesrepublik vertraut machte, blieb Thomas Mann mit der Heimat zerstritten. "Ihre Äußerungen über das Land, wo Sie zur Zeit wirken", so die kühle Formulierung, "schlugen zu sehr in die prodeutsche Kerbe - scheinbar. Ich wußte sie zu lesen, aber Rychner auch." Und ein anderes Mal schreibt er dem Freund: "Ich gönne Sie den Deutschen nicht, aber zugleich fühle ich nur zu gut die Befriedigung mit, die Ihr Verlangen nach Wirkungsmöglichkeit, Tätigkeit dort findet." Allzuoft erinnert Thomas Mann in seinen späten Briefen an einen altersstarren Unheilspropheten: Wetternd gegen die Montanunion mit Frankreich, die am Ende doch wieder der deutschen Hegemonie aufhelfen werde, und gegen den "Faschismus" der McCarthy-Ära, vor dem er in die Schweiz ausweicht. In solchen Momenten ist es oft Adorno, der sich den unbefangenen Blick auf die Wirklichkeit bewahrt - daß man vor 1933 auf der Linken nicht zwischen Brüning, einem autoritären Zentrumsmann, und Hitler unterschieden habe, erscheint ihm in einem der Briefe als Zeichen der Barbarei - dagegen gelte es, "noch im Negativen zu differenzieren".
Dann wieder hat man den Eindruck, als habe sich Adorno der Schärfe-Konkurrenz mit Thomas Mann nicht entziehen können. Neben Ernst Jünger sind es Martin Heidegger und Wagner, die ihn beunruhigen: "Wissen Sie übrigens, daß Bestrebungen im Gange sind, Bayreuth wieder aufzusperren, und haben Sie erwogen, etwas dagegen zu unternehmen? Es will mir scheinen, daß Bayreuth, neben der Wiederzulassung Heideggers, zu den bedenklichsten Symptomen hier gehört, wofern man nicht auf die darin sich abzeichnenden primären Momente eingehen will." Tatsächlich: Es sollte nur ein Jahrzehnt dauern, bis Adorno selbst in Bayreuth Vorträge zu halten begann.
Aber dies alles waren Urteile, die vom Tag bedingt sein mochten und im Zweifelsfall revidierbar waren. Wichtiger ist, daß die Korrespondenz einen neuen Einblick in die Form von Adornos Briefen erlaubt. Man weiß, daß der Philosoph oftmals lange, sachbezogene Briefe an seine Freunde schrieb; zu seiner eigentlichen epistolarischen Stärke fand er, wenn er an der Entstehung von Werken aus größerem oder geringerem Abstand teilnehmen konnte. Drei Briefwechsel waren bislang veröffentlicht: Der mit dem Komponisten Ernst Krenek, den dieser selbst 1974 herausgab; im Rahmen der Werkausgabe finden sich die Korrespondenzen mit seinem Kompositionslehrer Alban Berg und mit Walter Benjamin. Wer etwas von Adorno als praktischem, handeldem Philosophen erfahren will, kann nichts Besseres tun, als ihn in der konkreten brieflichen Kommunikation zu beobachten. Niemand konnte - mit Gründen und Gedanken - zur Produktion so ermutigen wie Adorno. Man hat in der Vergangenheit oft die negativen Seiten seiner langen Schreiben sehen wollen, die Vorbehalte und Einwände etwa, mit denen er an Benjamins assoziativem Marxismus die mangelnde logische Vermittlung tadelte. Aber wie er Alban Berg während der Komposition der "Lulu" mit immer neuen Reflexionen zu Wedekind überraschte, so hilft er Thomas Mann mit kleinen ästhetischen Theorien auf, wenn die Arbeit stockt. Zu den schönsten Briefen gehört der vom 28. April 1952, mit dem er die mühselige Wiederaufnahme des frühen Krull-Fragments kommentiert. Nicht mehr Dialektik, sondern Weisheit ist es, mit der er an das "offene und fragmentarische Leben" erinnert, das "vergißt, was es eigentlich in Bewegung bringt, um es nur im letzten Augenblick, zusammenraffend und wie aus weiter Ferne noch einmal zu erinnern . . . wäre es geplant, so wäre es unmöglich". Man kann sich vorstellen, was Adorno als Lehrer bedeutet haben muß.
Theodor W. Adorno / Thomas Mann: "Briefwechsel 1943 - 1955". Herausgegeben von Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 179 S., geb., 24,90 [Euro].
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Zum Briefwechsel von Thomas Mann und Theodor W. Adorno
Es gibt ein Bild von Klee, auf dem ein zauberhaftes Rollenspiel der Verbeugungen zu sehen ist, es heißt "Zwei Herren, einander in höherer Stellung vermutend". Die Versuchung liegt nahe, auch in den Briefen Adornos und Thomas Manns vor allem den diplomatischen Verkehr zweier meisterlicher Stilisten zu sehen, die sich in einem regelmäßigen Zeremoniell wechselseitig ihrer Bedeutung versichern. Gewiß: Wer sich auf diese Spur begibt, wird nicht leer ausgehen, die Varianten des Lobs sind unerschöpflich. "Muß ich Ihnen sagen, daß ich an Sie als den Leser dieser Arbeit gedacht habe?" schreibt Adorno, als sich Mann freundlich über seinen Benjamin-Essay geäußert hatte. Als 1951 die "Minima Moralia" erscheinen, hebt Mann die Dichte der Vignetten hervor und schreibt: "Um Sie zu lesen, darf man nicht müde sein."
Begonnen hatte die Freundschaft in den frühen vierziger Jahren. Adorno und Max Horkheimer waren an die amerikanische Westküste übergesiedelt und arbeiteten an der "Dialektik der Aufklärung", einem Endspiel des bürgerlichen Geistes; Thomas Mann schrieb an einem anderen Endspiel, dem Musiker-Roman "Doktor Faustus". Für die Kompositionstechnik des zwanzigsten Jahrhunderts und vor allem der Schönberg-Schule fand sich mit Adorno ein sachkundiger Berater, vielfach sind seine Ideen in die Kompositionen des Hauptprotagonisten Leverkühn eingegangen. Der Anhang zu den Briefen enthält Adornos Entwürfe zur Kammermusik Leverkühns und zu der Kantate "Doktor Fausti Weheklag", die das letzte Treffen Fausts mit den Schülern als "negatives Abendmahl" deutet; der Begriff der Melancholie, an Benjamins Trauerspielbuch erinnernd, spielt eine große Rolle. Auch die Uneingeweihten wurden bald durch Thomas Manns Werkstattbericht "Die Entstehung des Doktor Faustus" auf den Philosophen aufmerksam - wobei Adorno selbstbewußt darum gebeten hatte, seinen "gedanklich-phantasiemäßigen Anteil an Leverkühns OEuvre und seiner Ästhetik mehr hervorzuheben als den stofflich informatorischen".
Immer wieder hat man die Ähnlichkeit in der Erscheinung geschildert. Als der Teufel im Gespräch mit Leverkühn seine altdeutsche Gestalt ausgespielt hat, verwandelt er sich in einen modernen Intellektuellen, der selbst gelegentlich komponiert: "Einen weißen Kragen um und einen Schleifenschlips, auf der gebogenen Nase eine Brille mit Hornrahmen, hinter dem feucht-dunkle, etwas gerötete Augen schimmern - eine Mischung von Schärfe und Weichheit das Gesicht: die Nase scharf, die Lippen scharf, aber weich das Kinn, mit einem Grübchen darin, ein Grübchen an der Wange noch obendrein -, bleich und gewölbt die Stirn, aus der das Haar wohl erhöhend zurückgeschwunden, aber von ders zu den Seiten dicht, schwarz und wollig dahinterstand".
Als Roman der modernen Musik wurde der "Doktor Faustus" bewundert, aber als Parabel des deutschen Untergangs stieß er auf wenig Gegenliebe. Sicher nicht nur wegen des "Ressentiments" der Deutschen, das Adorno in einem Brief bemüht. Der Ton quälend-bemühter Ironie, mit dem der Erzähler Serenus Zeitblom das "Strafgericht" schildert, "wie es anjetzo über uns schwebt", muß schon damals angesichts des Geschehenen schwer erträglich gewesen sein, ebenso, nach den Erfahrungen mit der Roten Armee, Zeitbloms Versicherung, der Bolschewismus habe niemals Kunstwerke zerstört.
In der Korrespondenz der beiden Emigranten, von denen der eine sich zur Rückkehr nach Deutschland entschließt, spielt das Urteil über die alte Heimat eine große Rolle. Adorno blühte im Kontakt mit den deutschen Studenten offensichtlich auf: "Im übrigen befinde ich mich physisch ausnehmend wohl, dreimal so frisch und arbeitsfähig als im Westen, von Kopfschmerzen verschont - sonderbares Ansprechen eines gleichsam professionell Heimatlosen auf die Heimat." Im Jahr 1949 hielt er den Vortrag "Die auferstandene Kultur". Und diese ersten Eindrücke des Zurückgekehrten klangen nun stellenweise so unverhohlen optimistisch, daß mancher hellhörig wurde. Denn Adorno begann den Vortrag mit dem Bekenntnis, vom geistigen Klima in Deutschland positiv überrascht zu sein. Die Vorstellungen, die er sich draußen von der Barbarisierung gebildet hatte, mußte er revidieren: "Die Beziehung zu geistigen Dingen, im allerweitesten Sinne verstanden, ist intensiv. Mir will sie größer erscheinen als in den Jahren vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. Damals verdrängten die machtpolitischen Kämpfe alles andere." Natürlich blieb die positive Sicht der Lage nicht das letzte Wort; die mangelnde Bereitschaft der Deutschen zur Utopie und zum postnationalen Engagement, dieser ewige Tadel der ewigen Linken, kam auch 1949 schon zur Sprache. Dann nahm der Schweizer Kritiker Max Rychner Adornos Äußerungen zustimmend auf, und der Philosoph mußte sich fragen, ob er am Ende zu viele Konzessionen gemacht hatte.
Während Adorno sich langsam und, im Falle seiner Studenten, wohlwollend mit der Wirklichkeit der Bundesrepublik vertraut machte, blieb Thomas Mann mit der Heimat zerstritten. "Ihre Äußerungen über das Land, wo Sie zur Zeit wirken", so die kühle Formulierung, "schlugen zu sehr in die prodeutsche Kerbe - scheinbar. Ich wußte sie zu lesen, aber Rychner auch." Und ein anderes Mal schreibt er dem Freund: "Ich gönne Sie den Deutschen nicht, aber zugleich fühle ich nur zu gut die Befriedigung mit, die Ihr Verlangen nach Wirkungsmöglichkeit, Tätigkeit dort findet." Allzuoft erinnert Thomas Mann in seinen späten Briefen an einen altersstarren Unheilspropheten: Wetternd gegen die Montanunion mit Frankreich, die am Ende doch wieder der deutschen Hegemonie aufhelfen werde, und gegen den "Faschismus" der McCarthy-Ära, vor dem er in die Schweiz ausweicht. In solchen Momenten ist es oft Adorno, der sich den unbefangenen Blick auf die Wirklichkeit bewahrt - daß man vor 1933 auf der Linken nicht zwischen Brüning, einem autoritären Zentrumsmann, und Hitler unterschieden habe, erscheint ihm in einem der Briefe als Zeichen der Barbarei - dagegen gelte es, "noch im Negativen zu differenzieren".
Dann wieder hat man den Eindruck, als habe sich Adorno der Schärfe-Konkurrenz mit Thomas Mann nicht entziehen können. Neben Ernst Jünger sind es Martin Heidegger und Wagner, die ihn beunruhigen: "Wissen Sie übrigens, daß Bestrebungen im Gange sind, Bayreuth wieder aufzusperren, und haben Sie erwogen, etwas dagegen zu unternehmen? Es will mir scheinen, daß Bayreuth, neben der Wiederzulassung Heideggers, zu den bedenklichsten Symptomen hier gehört, wofern man nicht auf die darin sich abzeichnenden primären Momente eingehen will." Tatsächlich: Es sollte nur ein Jahrzehnt dauern, bis Adorno selbst in Bayreuth Vorträge zu halten begann.
Aber dies alles waren Urteile, die vom Tag bedingt sein mochten und im Zweifelsfall revidierbar waren. Wichtiger ist, daß die Korrespondenz einen neuen Einblick in die Form von Adornos Briefen erlaubt. Man weiß, daß der Philosoph oftmals lange, sachbezogene Briefe an seine Freunde schrieb; zu seiner eigentlichen epistolarischen Stärke fand er, wenn er an der Entstehung von Werken aus größerem oder geringerem Abstand teilnehmen konnte. Drei Briefwechsel waren bislang veröffentlicht: Der mit dem Komponisten Ernst Krenek, den dieser selbst 1974 herausgab; im Rahmen der Werkausgabe finden sich die Korrespondenzen mit seinem Kompositionslehrer Alban Berg und mit Walter Benjamin. Wer etwas von Adorno als praktischem, handeldem Philosophen erfahren will, kann nichts Besseres tun, als ihn in der konkreten brieflichen Kommunikation zu beobachten. Niemand konnte - mit Gründen und Gedanken - zur Produktion so ermutigen wie Adorno. Man hat in der Vergangenheit oft die negativen Seiten seiner langen Schreiben sehen wollen, die Vorbehalte und Einwände etwa, mit denen er an Benjamins assoziativem Marxismus die mangelnde logische Vermittlung tadelte. Aber wie er Alban Berg während der Komposition der "Lulu" mit immer neuen Reflexionen zu Wedekind überraschte, so hilft er Thomas Mann mit kleinen ästhetischen Theorien auf, wenn die Arbeit stockt. Zu den schönsten Briefen gehört der vom 28. April 1952, mit dem er die mühselige Wiederaufnahme des frühen Krull-Fragments kommentiert. Nicht mehr Dialektik, sondern Weisheit ist es, mit der er an das "offene und fragmentarische Leben" erinnert, das "vergißt, was es eigentlich in Bewegung bringt, um es nur im letzten Augenblick, zusammenraffend und wie aus weiter Ferne noch einmal zu erinnern . . . wäre es geplant, so wäre es unmöglich". Man kann sich vorstellen, was Adorno als Lehrer bedeutet haben muß.
Theodor W. Adorno / Thomas Mann: "Briefwechsel 1943 - 1955". Herausgegeben von Christoph Gödde und Thomas Sprecher. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 179 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
In einer äußerst umfangreichen, informativen Rezension bespricht Martin Meyer den Briefwechsel zwischen Thomas Mann und Theodor W. Adorno. Wie Meyer ausführt, berührt die Korrespondenz neben Fragen der Literatur, besonders im Zusammenhang mit der Entstehung von Manns Roman "Doktor Faustus", auch Politisches und Privates. Im wesentlichen referiert Meyer die wichtigsten Themen des Briefwechsels, wobei er immer wieder auch auf das persönliche Verhältnis der beiden Geistesgiganten zu sprechen kommt. Dabei kristallisiert sich Meyer zufolge heraus, dass Adorno als "deutlicher Bewunderer" Manns dem Zauberer bis zuletzt mit größtem Respekt und Abstand, ja bisweilen fast devot begegnete. Ausführlich geht Meyer auf Adornos Mitarbeit am "Doktor Faustus" ein, der ohne Adornos Mitarbeit wohl nicht in seiner jetzigen Form entstanden wäre. Im weiteren Verlauf der Korrespondenz erweitert sich der Horizont der Themen, hebt Meyer hervor, es geht um grundsätzliche Fragen moderner Ästhetik, um Thomas Manns weitere Werke bis zum "Felix Krull", um Fragen des Exils, die Rückkehr Manns nach Europa und um weltpolitische Fragen. Dass Adorno nach Frankfurt zurückkehrt, macht ihm Mann geradezu zum Vorwurf, so dass die Korrespondenz zeitweise merklich abkühlt, berichtet Meyer. Überhaupt: deutlicher als in den Briefen Adornos lassen sich in den Briefen Manns "Stimmungen und Launen der Autorenschaft herauslesen", die auch von der Niedergeschlagenheit und Melancholie Manns Auskunft geben. Mann konnte sich dann aber stets Adornos Zuspruch und Aufmunterung sicher sein, hält Meyer fest, insbesondere als Adorno, der selbst in den späteren Arbeiten Schönbergs ein "konservatives Element" wittert und Strawinsky als "restaurativ" erledigt, im Falle Thomas Manns "unendlich viel gnädiger" urteilte.
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