Der vorliegende Band der Reihe "Dialektische Studien" enthält 101 Briefe aus Beständen des Adorno-Archivs bzw. der privaten "Sammlung Lenk". Erläuternde Anmerkungen sowie ein Anhang, der diejenigen der im Briefwechsel erwähnten Texte enthält, die nicht mehr zugänglich sind, ergänzen die Sammlung. Eine Vorbemerkung sowie ein Vortrag über "Kritische Theorie und surreale Praxis" ordnen die vergangenen Ereignisse aus der Sicht der Herausgeberin in die heutige Zeit ein.Der Briefwechsel hatte einen unspektakulären Anlass: Er war nötig geworden, weil Elisabeth Lenk, Adornos soeben dem Examen entronnene Schülerin, von Frankfurt weg ging, um in Paris weiter zu studieren und zu promovieren. Wir sehen beide Briefpartner in die Zeitereignisse verstrickt: Elisabeth Lenk, SDSIerin der ersten Stunde, lernt in Paris André Breton und die surrealistische Gruppe, dann die Situationisten kennen und berichtet schließlich, als Lektorin an der Universität Nanterre, aus nächster Nähe von den Mai-Ereignissen. Adorno seinerseits erscheint als jemand, der von allen Seiten angefordert, aber auch angegriffen wird, immer bereit, die Schläge auf elegante Weise zu parieren, nie beleidigt, immer sachlich, aber gegen Ende doch auch sehr gehetzt, verletzt und erschöpft.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.03.2002So wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie das Geheimnis wahren wollen
Ein Liebhaberbuch: Theodor W. Adornos Briefwechsel mit Elisabeth Lenk in den Jahren 1962 bis 1969
Jeder Briefwechsel verführt den Leser zu der Annahme, es hätte kein Außen der Korrespondenz gegeben. In der gleichförmigen Rhythmik der Antworten (deren Abstand im Druckbild stets derselbe bleibt, egal ob Stunden oder Jahre zwischen ihnen liegen) verschwindet langsam das Bewusstsein für die Sprunghaftigkeit des schriftlichen Austauschs; zunehmend schwer fällt es, den Fluss der Briefe nicht mit dem des Lebens selbst zu identifizieren. Das kontinuierliche Tempo der Lektüre schwächt die Aufmerksamkeit für die Diskontinuitäten dieser Zweierbeziehung, so als würde man die aufeinander aufbauenden Kapitel eines Romans durchlaufen – bis plötzlich ein rätselhafter Bruch des Tonfalls, ein Wechsel der Anrede in Erinnerung ruft, dass diese Dokumente keinesfalls der eigentliche Schauplatz der Ereignisse sind; dass sich die Geschichte zweier Menschen nie in, sondern nur zwischen ihren Briefen abspielt.
Der etablierte Philosoph und Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Theodor W. Adorno, führte zwischen 1962 und seinem Todesjahr 1969 eine umfangreiche Korrespondenz mit seiner vorwiegend in Paris lebenden Schülerin Elisabeth Lenk, die er „für so genial begabt” hielt wie keine andere. Was diesen Briefwechsel, über seinen zeit- und geistesgeschichtlichen Hintergrund im Frankfurt und Paris der sechziger Jahre hinaus, so interessant macht, sind genau jene Lücken zwischen den Briefen: die ungeschriebene Geschichte einer Annäherung (und Distanzierung), die sich, mit Rücksicht auf Adornos akademischen wie auf seinen Familienstand, überaus diskret vollziehen musste. Vor allem im ersten Drittel dieser insgesamt 101 Briefe ist unter der Oberfläche der sachlichen Auseinandersetzung über Lenks Dissertationsprojekt zu André Breton eine wachsende Unruhe spürbar; der Jargon der Wissenschaft wird langsam von einer anderen Sprache überlagert, aus Gutachten werden angedeutete Liebesbriefe.
Vom Sie zum Du und zurück
Zwischen zwei Schreiben im Herbst 1964 muss es in Frankfurt zu einer Annäherung gekommen sein, die zwar an keiner Stelle angesprochen wird (Lenk bedankt sich nur für die „beiden Nachmittage”), die jedoch in der Veränderung der Anreden Niederschlag findet: von „Liebe Frau Lenk” über „Liebe Elisabeth” zu „Meine Elisabeth”; von „Ihr Adorno” und „Ihr Teddie Adorno” zu „Ganz Dein Teddie” im Sommer des darauffolgenden Jahres. Dieser Brief vom 4. September 1965, während des Urlaubs in Sils Maria geschrieben, ist der einzige offene Liebesbrief der Korrespondez und einer von zweien, in denen Adorno Elisabeth Lenk mit „Du” anspricht. Kurz nach seiner Ankunft im Frankfurter Institut jedoch kehrt er unvermittelt und ohne Aufschluss für den Leser zum distanzierten Sie zurück und sagt die im Urlaub versprochene gemeinsame Reise mit holprigen Ausreden ab.
Dieser Briefwechsel erzählt also zwei Geschichten: die andeutende, beinahe verschlüsselte der Korrespondenz selbst und die ihrer Leerstellen. Doch wie immer das Verhältnis von Adorno und Elisabeth Lenk in Wirklichkeit ausgesehen haben mag: Was sich den Bruchstücken des Briefwechsels auf anschauliche Weise entnehmen lässt, ist etwa das Verhältnis von Kunst und Theorie für die beginnende Liebesaffäre zweier Wissenschaftler.
Am Anfang der Korrespondenz, als sich das Verhältnis noch ganz auf Ratschläge des Philosophen an seine Schülerin beschränkt, lässt Adorno keinen Zweifel daran, dass jeder anständige Theoretiker für die künstlerische Produktion verloren gehen muss. Trotz seiner Ambitionen als Komponist macht er Elisabeth Lenk, wie sie es in ihrem dankbaren Antwortbrief formuliert, auf die „Zerrissenheit zwischen Kunst und Wissenschaft” aufmerksam: „Mit Recht haben Sie mich vor den Gefahren einer solchen Doppelexistenz gewarnt. Ich glaube, daß die, die Erkennen und Dichten (...) für miteinander vereinbar oder gar identisch halten (...), im Irrtum sind.”
Schön mitanzusehen ist es dann im Laufe des Briefwechsels, wie die persönliche Annäherung zu einer Aufweichung dieser orthodoxen Grenzziehung führt; je intimer ihr Verhältnis wird, desto stärker bekennen sich die beiden Wissenschaftler zur eigenen lyrischen Produktion. Als müsse dem Übergang von der akademischen zur erotischen Beziehung einer von Theorie zu Poesie folgen, schreibt Adorno in einem der ersten persönlicheren Briefe: „Ich lege Ihnen eine kleine literarische Arbeit bei, die ich vor 1933 gemeinsam mit einem Freund verfaßte (...) Da kaum ein Mensch weiß, daß ich der Autor bin, so wäre ich Ihnen dankbar, wenn auch Sie das Geheimnis wahren wollen.”
Die Scham vor der Literatur
Elisabeth Lenk nutzt diese Geste, ihrerseits mit selbstverfasster Lyrik zu reagieren: „Ich lege Ihnen, ermutigt durch das , Geheimnis’ ein Gedicht bei.” Aufschlussreich ist in diesen Passagen, welchen Stellenwert die eigene literarische Produktion in der Affektökonomie von Wissenschaftlern hat: scharf zurückgewiesen, so lange man im akademischen Diskurs miteinander kommuniziert; diskret zugestecktes „Geheimnis” in der aufkeimenden Liebesbeziehung.
Diese Briefe, in denen eine gewisse „Scham vor der Literatur” sichtbar wird, gehören zu den schönsten Stellen einer Korresondenz, die nach dem Sommer 1964 auf merkwürdige Weise abkühlt. Plötzlich kommt sogar Adornos Ehefrau Gretel ins Spiel, die in der ersten Zeit von beiden Seiten vollkommen ausgeblendet wurde, nun aber an den Enden der Briefe Glückwünsche sendet oder erhält und zuweilen sogar selbst an die talentierte Studentin schreibt. Je stärker sich die Ereignisse an den Pariser Universitäten zuspitzen, desto loser wird ohnehin der Kontakt zu Deutschland, und umittelbar vor dem Mai 68 gibt es Briefe von Elisabeth Lenk, deren Berichte über die Auflösung noch der unumstößlichsten Gewissheiten in ihrer utopischen Emphase heute tatsächlich nicht mehr vorstellbar sind. Alles in allem beschränkt sich der Briefwechsel in seiner zweiten Hälfte weitgehend auf Adornos Bemühungen, seiner Lieblingsschülerin eine reibungslose akademische Karriere zu gewährleisten, wobei sich sein Ruf bestätigt, machtpolitisch durchaus begabt gewesen zu sein.
Diese Korrespondenz, der am Ende einige Schriften Elisabeth Lenks beigefügt sind, ist ein lesenswertes Zeugnis aus dem letzten Lebensjahrzehnt Adornos. Nur eine editorische Eigenheit stört auffallend: die Anmerkungen Lenks am Ende jedes Briefes, die in allzu persönlichem Tonfall gehalten sind und aus Dokumenten der Zeit- oft genug solche einer Privatgeschichte machen („Erika Lorenz jobbt damals im Institut für Sozialforschung und war meine beste Freundin”; „Im übrigen ist die Elisabeth Lenk, die in diesen Briefen auftritt, mir heute ziemlich fremd”). Diese unpassenden Kommentare lassen den Band wie ein nur für einen privaten Umkreis gedachtes „Liebhaberbuch” wirken – das es doch, in relevanterem Zusammenhang, ohnehin ist.
ANDREAS BERNARD
THEODOR W. ADORNO, ELISABETH LENK: Briefwechsel 1962 - 1969. Edition Text und Kritik, München 2001. 200 Seiten, 27 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ein Liebhaberbuch: Theodor W. Adornos Briefwechsel mit Elisabeth Lenk in den Jahren 1962 bis 1969
Jeder Briefwechsel verführt den Leser zu der Annahme, es hätte kein Außen der Korrespondenz gegeben. In der gleichförmigen Rhythmik der Antworten (deren Abstand im Druckbild stets derselbe bleibt, egal ob Stunden oder Jahre zwischen ihnen liegen) verschwindet langsam das Bewusstsein für die Sprunghaftigkeit des schriftlichen Austauschs; zunehmend schwer fällt es, den Fluss der Briefe nicht mit dem des Lebens selbst zu identifizieren. Das kontinuierliche Tempo der Lektüre schwächt die Aufmerksamkeit für die Diskontinuitäten dieser Zweierbeziehung, so als würde man die aufeinander aufbauenden Kapitel eines Romans durchlaufen – bis plötzlich ein rätselhafter Bruch des Tonfalls, ein Wechsel der Anrede in Erinnerung ruft, dass diese Dokumente keinesfalls der eigentliche Schauplatz der Ereignisse sind; dass sich die Geschichte zweier Menschen nie in, sondern nur zwischen ihren Briefen abspielt.
Der etablierte Philosoph und Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Theodor W. Adorno, führte zwischen 1962 und seinem Todesjahr 1969 eine umfangreiche Korrespondenz mit seiner vorwiegend in Paris lebenden Schülerin Elisabeth Lenk, die er „für so genial begabt” hielt wie keine andere. Was diesen Briefwechsel, über seinen zeit- und geistesgeschichtlichen Hintergrund im Frankfurt und Paris der sechziger Jahre hinaus, so interessant macht, sind genau jene Lücken zwischen den Briefen: die ungeschriebene Geschichte einer Annäherung (und Distanzierung), die sich, mit Rücksicht auf Adornos akademischen wie auf seinen Familienstand, überaus diskret vollziehen musste. Vor allem im ersten Drittel dieser insgesamt 101 Briefe ist unter der Oberfläche der sachlichen Auseinandersetzung über Lenks Dissertationsprojekt zu André Breton eine wachsende Unruhe spürbar; der Jargon der Wissenschaft wird langsam von einer anderen Sprache überlagert, aus Gutachten werden angedeutete Liebesbriefe.
Vom Sie zum Du und zurück
Zwischen zwei Schreiben im Herbst 1964 muss es in Frankfurt zu einer Annäherung gekommen sein, die zwar an keiner Stelle angesprochen wird (Lenk bedankt sich nur für die „beiden Nachmittage”), die jedoch in der Veränderung der Anreden Niederschlag findet: von „Liebe Frau Lenk” über „Liebe Elisabeth” zu „Meine Elisabeth”; von „Ihr Adorno” und „Ihr Teddie Adorno” zu „Ganz Dein Teddie” im Sommer des darauffolgenden Jahres. Dieser Brief vom 4. September 1965, während des Urlaubs in Sils Maria geschrieben, ist der einzige offene Liebesbrief der Korrespondez und einer von zweien, in denen Adorno Elisabeth Lenk mit „Du” anspricht. Kurz nach seiner Ankunft im Frankfurter Institut jedoch kehrt er unvermittelt und ohne Aufschluss für den Leser zum distanzierten Sie zurück und sagt die im Urlaub versprochene gemeinsame Reise mit holprigen Ausreden ab.
Dieser Briefwechsel erzählt also zwei Geschichten: die andeutende, beinahe verschlüsselte der Korrespondenz selbst und die ihrer Leerstellen. Doch wie immer das Verhältnis von Adorno und Elisabeth Lenk in Wirklichkeit ausgesehen haben mag: Was sich den Bruchstücken des Briefwechsels auf anschauliche Weise entnehmen lässt, ist etwa das Verhältnis von Kunst und Theorie für die beginnende Liebesaffäre zweier Wissenschaftler.
Am Anfang der Korrespondenz, als sich das Verhältnis noch ganz auf Ratschläge des Philosophen an seine Schülerin beschränkt, lässt Adorno keinen Zweifel daran, dass jeder anständige Theoretiker für die künstlerische Produktion verloren gehen muss. Trotz seiner Ambitionen als Komponist macht er Elisabeth Lenk, wie sie es in ihrem dankbaren Antwortbrief formuliert, auf die „Zerrissenheit zwischen Kunst und Wissenschaft” aufmerksam: „Mit Recht haben Sie mich vor den Gefahren einer solchen Doppelexistenz gewarnt. Ich glaube, daß die, die Erkennen und Dichten (...) für miteinander vereinbar oder gar identisch halten (...), im Irrtum sind.”
Schön mitanzusehen ist es dann im Laufe des Briefwechsels, wie die persönliche Annäherung zu einer Aufweichung dieser orthodoxen Grenzziehung führt; je intimer ihr Verhältnis wird, desto stärker bekennen sich die beiden Wissenschaftler zur eigenen lyrischen Produktion. Als müsse dem Übergang von der akademischen zur erotischen Beziehung einer von Theorie zu Poesie folgen, schreibt Adorno in einem der ersten persönlicheren Briefe: „Ich lege Ihnen eine kleine literarische Arbeit bei, die ich vor 1933 gemeinsam mit einem Freund verfaßte (...) Da kaum ein Mensch weiß, daß ich der Autor bin, so wäre ich Ihnen dankbar, wenn auch Sie das Geheimnis wahren wollen.”
Die Scham vor der Literatur
Elisabeth Lenk nutzt diese Geste, ihrerseits mit selbstverfasster Lyrik zu reagieren: „Ich lege Ihnen, ermutigt durch das , Geheimnis’ ein Gedicht bei.” Aufschlussreich ist in diesen Passagen, welchen Stellenwert die eigene literarische Produktion in der Affektökonomie von Wissenschaftlern hat: scharf zurückgewiesen, so lange man im akademischen Diskurs miteinander kommuniziert; diskret zugestecktes „Geheimnis” in der aufkeimenden Liebesbeziehung.
Diese Briefe, in denen eine gewisse „Scham vor der Literatur” sichtbar wird, gehören zu den schönsten Stellen einer Korresondenz, die nach dem Sommer 1964 auf merkwürdige Weise abkühlt. Plötzlich kommt sogar Adornos Ehefrau Gretel ins Spiel, die in der ersten Zeit von beiden Seiten vollkommen ausgeblendet wurde, nun aber an den Enden der Briefe Glückwünsche sendet oder erhält und zuweilen sogar selbst an die talentierte Studentin schreibt. Je stärker sich die Ereignisse an den Pariser Universitäten zuspitzen, desto loser wird ohnehin der Kontakt zu Deutschland, und umittelbar vor dem Mai 68 gibt es Briefe von Elisabeth Lenk, deren Berichte über die Auflösung noch der unumstößlichsten Gewissheiten in ihrer utopischen Emphase heute tatsächlich nicht mehr vorstellbar sind. Alles in allem beschränkt sich der Briefwechsel in seiner zweiten Hälfte weitgehend auf Adornos Bemühungen, seiner Lieblingsschülerin eine reibungslose akademische Karriere zu gewährleisten, wobei sich sein Ruf bestätigt, machtpolitisch durchaus begabt gewesen zu sein.
Diese Korrespondenz, der am Ende einige Schriften Elisabeth Lenks beigefügt sind, ist ein lesenswertes Zeugnis aus dem letzten Lebensjahrzehnt Adornos. Nur eine editorische Eigenheit stört auffallend: die Anmerkungen Lenks am Ende jedes Briefes, die in allzu persönlichem Tonfall gehalten sind und aus Dokumenten der Zeit- oft genug solche einer Privatgeschichte machen („Erika Lorenz jobbt damals im Institut für Sozialforschung und war meine beste Freundin”; „Im übrigen ist die Elisabeth Lenk, die in diesen Briefen auftritt, mir heute ziemlich fremd”). Diese unpassenden Kommentare lassen den Band wie ein nur für einen privaten Umkreis gedachtes „Liebhaberbuch” wirken – das es doch, in relevanterem Zusammenhang, ohnehin ist.
ANDREAS BERNARD
THEODOR W. ADORNO, ELISABETH LENK: Briefwechsel 1962 - 1969. Edition Text und Kritik, München 2001. 200 Seiten, 27 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2002Adorno auf Traumreise
Adorno, so schreibt Elisabeth Lenk in der Einleitung zu diesem Briefwechsel, sei für sie, als sie in Frankfurt Anfang der sechziger Jahre studierte, derjenige gewesen, der am entschiedensten die Aufarbeitung der Vergangenheit gefordert habe: "Er störte, und eben dies hatte mich ganz und gar für ihn eingenommen." In einem Gedicht, das sie ihm im Herbst 1964 schickt, heißt es von einer tanzenden Frau: "Hörst du das Klirren nicht hinter der Mauer / Und das böse Flüstern der Bäume / Du störst hier du bist nicht willkommen". Identifizierung stand am Anfang. Zunächst hatte Elisabeth Lenk mit einer Arbeit über die französische Soziologie bei Adorno promovieren wollen, dann drängte sich der Surrealismus vor. Und über die ganzen Jahre des Briefwechsels begleitet uns die Geschichte dieser Dissertation, die dann, nach Adornos Tod, die deutsche Nachblüte des Surrealismus einläuten sollte (Theodor W. Adorno und Elisabeth Lenk: "Briefwechsel 1962-1969". Hrsg. von Elisabeth Lenk. Edition Text und Kritik, München 2001. 227 S., geb., 27,- [Euro]). Hinzu kam die von Adorno geförderte Arbeit an der deutschen Ausgabe von Charles Fouriers "Theorie der vier Bewegungen", einer versponnenen sozialistischen Glücksmathematik des neunzehnten Jahrhunderts. Briefwechsel bedürfen stets der Kommentierung. Personennamen müssen aufgeschlüsselt, Situationen müssen erhellt werden. Das kann man akademisch-korrekt machen, verbindlich, kühl. Man kann es aber auch so halten wie Elisabeth Lenk: subjektiv, oft ungerecht und durchaus nachtragend, ja verstiegen, voll persönlicher Erinnerungen und seltsamer Einzelheiten - und immer lebendig. Kein Klatschbedürfnis aus der Berliner Szene um Peter Szondi, aus dem Pariser Kreis um André Breton bleibt unbefriedigt. Nicht daß es keine bedeutenden Briefe gäbe - den zeitdiagnostisch informativsten, über eine französische Kommune, schreibt sie ihm nach den Mai-Unruhen am 26. Juli 1968. Dazwischen aber ertappt man sich dabei, vor den Briefen gleich die Erläuterungen zu lesen; Adorno hätte wohl von einer "entsublimierten" Lektüre gesprochen. Und das betrifft nicht nur die Frage, wer mit wem zusammen ist oder sich gerade getrennt hat. Gibt es über den jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes eine bezeichnendere Anekdote als jene, die hier mitgeteilt wird? Taubes, so Elisabeth Lenk, habe "der linken Fakultät in seinem Fachbereich manchen Streit gespielt, so als er einen polnischen Seelenforscher so überschwänglich lobte, daß der Fachbereich diesem eine Gastprofessur anbot. Erst nach der erfolgreichen Papstwahl stellte sich heraus, daß es Woityla gewesen war." Die gemeinsamen Interessen für die Dichter und Denker entfesselter Leidenschaften werden für einen Moment auch praktisch. "Ich habe noch nie, wirklich noch nie eine Frau getroffen, die ich für so genial begabt halte wie Dich, in den Bereichen, die mir die nächsten sind; und bitte, setze das nicht auf das Konto meiner Verliebtheit, zu der es nur noch mehr beiträgt", schreibt er einmal, und kurz später: "Mir fehlen die Worte, Dir zu sagen, wie ich mich freue, mit Dir wegzufahren, wir wollen es zusammen ausdenken." Diesmal bleibt die Anmerkung denkbar knapp: "Diese Traumreise hat nie stattgefunden." Nun kann der Leser ins Grübeln geraten wie bei Goethe und Marianne von Willemer. Bald sind auch seine Briefe wieder beim "Sie" angelangt, von dem sie nie abgegangen war. Schmeichlerisch rühmt sie seine "pouvoir de séduction" - aber es geht nur noch um Gutachten und Prüfungen. Der Kontakt mit Elisabeth Lenk brachte auch in Adorno die surrealistische Komponente wieder zum Vorschein. Als eine gemeinsame Bekannte ermordet wird, spielt er für einen Augenblick Bretons Sehertum nach: "Trotzdem kann ich mich erinnern, daß ich, als ich Aliette einladen wollte und hörte, ihre Adresse sei unbekannt, für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl von Unheil hatte." Nur für einen Moment überläßt sich Adorno der surrealen Erfahrung. Dann zuckt er zurück: "Aber natürlich kann so etwas auch nachträgliche Projektion sein." Wie oft erlebt man das, wenn man Adorno liest: Man spürt, was möglich gewesen wäre und was der rationalen Selbstzensur zum Opfer fiel.
LORENZ JÄGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Adorno, so schreibt Elisabeth Lenk in der Einleitung zu diesem Briefwechsel, sei für sie, als sie in Frankfurt Anfang der sechziger Jahre studierte, derjenige gewesen, der am entschiedensten die Aufarbeitung der Vergangenheit gefordert habe: "Er störte, und eben dies hatte mich ganz und gar für ihn eingenommen." In einem Gedicht, das sie ihm im Herbst 1964 schickt, heißt es von einer tanzenden Frau: "Hörst du das Klirren nicht hinter der Mauer / Und das böse Flüstern der Bäume / Du störst hier du bist nicht willkommen". Identifizierung stand am Anfang. Zunächst hatte Elisabeth Lenk mit einer Arbeit über die französische Soziologie bei Adorno promovieren wollen, dann drängte sich der Surrealismus vor. Und über die ganzen Jahre des Briefwechsels begleitet uns die Geschichte dieser Dissertation, die dann, nach Adornos Tod, die deutsche Nachblüte des Surrealismus einläuten sollte (Theodor W. Adorno und Elisabeth Lenk: "Briefwechsel 1962-1969". Hrsg. von Elisabeth Lenk. Edition Text und Kritik, München 2001. 227 S., geb., 27,- [Euro]). Hinzu kam die von Adorno geförderte Arbeit an der deutschen Ausgabe von Charles Fouriers "Theorie der vier Bewegungen", einer versponnenen sozialistischen Glücksmathematik des neunzehnten Jahrhunderts. Briefwechsel bedürfen stets der Kommentierung. Personennamen müssen aufgeschlüsselt, Situationen müssen erhellt werden. Das kann man akademisch-korrekt machen, verbindlich, kühl. Man kann es aber auch so halten wie Elisabeth Lenk: subjektiv, oft ungerecht und durchaus nachtragend, ja verstiegen, voll persönlicher Erinnerungen und seltsamer Einzelheiten - und immer lebendig. Kein Klatschbedürfnis aus der Berliner Szene um Peter Szondi, aus dem Pariser Kreis um André Breton bleibt unbefriedigt. Nicht daß es keine bedeutenden Briefe gäbe - den zeitdiagnostisch informativsten, über eine französische Kommune, schreibt sie ihm nach den Mai-Unruhen am 26. Juli 1968. Dazwischen aber ertappt man sich dabei, vor den Briefen gleich die Erläuterungen zu lesen; Adorno hätte wohl von einer "entsublimierten" Lektüre gesprochen. Und das betrifft nicht nur die Frage, wer mit wem zusammen ist oder sich gerade getrennt hat. Gibt es über den jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes eine bezeichnendere Anekdote als jene, die hier mitgeteilt wird? Taubes, so Elisabeth Lenk, habe "der linken Fakultät in seinem Fachbereich manchen Streit gespielt, so als er einen polnischen Seelenforscher so überschwänglich lobte, daß der Fachbereich diesem eine Gastprofessur anbot. Erst nach der erfolgreichen Papstwahl stellte sich heraus, daß es Woityla gewesen war." Die gemeinsamen Interessen für die Dichter und Denker entfesselter Leidenschaften werden für einen Moment auch praktisch. "Ich habe noch nie, wirklich noch nie eine Frau getroffen, die ich für so genial begabt halte wie Dich, in den Bereichen, die mir die nächsten sind; und bitte, setze das nicht auf das Konto meiner Verliebtheit, zu der es nur noch mehr beiträgt", schreibt er einmal, und kurz später: "Mir fehlen die Worte, Dir zu sagen, wie ich mich freue, mit Dir wegzufahren, wir wollen es zusammen ausdenken." Diesmal bleibt die Anmerkung denkbar knapp: "Diese Traumreise hat nie stattgefunden." Nun kann der Leser ins Grübeln geraten wie bei Goethe und Marianne von Willemer. Bald sind auch seine Briefe wieder beim "Sie" angelangt, von dem sie nie abgegangen war. Schmeichlerisch rühmt sie seine "pouvoir de séduction" - aber es geht nur noch um Gutachten und Prüfungen. Der Kontakt mit Elisabeth Lenk brachte auch in Adorno die surrealistische Komponente wieder zum Vorschein. Als eine gemeinsame Bekannte ermordet wird, spielt er für einen Augenblick Bretons Sehertum nach: "Trotzdem kann ich mich erinnern, daß ich, als ich Aliette einladen wollte und hörte, ihre Adresse sei unbekannt, für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl von Unheil hatte." Nur für einen Moment überläßt sich Adorno der surrealen Erfahrung. Dann zuckt er zurück: "Aber natürlich kann so etwas auch nachträgliche Projektion sein." Wie oft erlebt man das, wenn man Adorno liest: Man spürt, was möglich gewesen wäre und was der rationalen Selbstzensur zum Opfer fiel.
LORENZ JÄGER
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit Interesse verfolgt Lorenz Jäger die Entwicklung von der glühenden Identifizierung der Briefpartnerin und Herausgeberin mit dem großen Ted Adorno bis zu dem Moment, da sich die Briefe nurmehr noch um pragmatische Fragen hinsichtlich Gutachten und Prüfungen drehen. Die stark subjektive Färbung der Kommentare allerdings ist schuld, dass Jäger oft lieber gleich die Erläuterungen gelesen hat. So ungerecht und nachtragend, ja verstiegen sich Lenk hier nicht selten gibt, schreibt er, so lebendig lesen sich ihre Ausführungen über die Berliner Szene um Peter Szondi oder den Pariser Kreis um Andre Breton. "Nicht dass es keine bedeutenden Briefe gäbe" - zeitdiagnostisches Informatives über eine französische Kommune z.B., interessanter aber scheint doch wie immer der Klatsch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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