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  • Buch mit Leinen-Einband

Produktdetails
  • Bibliotheca Suevica Nr.20
  • Verlag: Edition Isele
  • Seitenzahl: 1115
  • Erscheinungstermin: Juli 2006
  • Deutsch
  • Abmessung: 93mm x 170mm x 248mm
  • Gewicht: 2458g
  • ISBN-13: 9783861423874
  • ISBN-10: 3861423871
  • Artikelnr.: 20779583
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.02.2006

Der Schreck des Hirschkäfers
Notorischer Unruhestifter: Neue Fundstücke zu W. G. Sebald

Wer aus der Feder W. G. Sebalds allein die literarischen Werke kennt, dem käme wohl nicht in den Sinn, in diesem Schriftsteller einen Provokateur zu vermuten. Übermächtig das Bild vom einsamen Wanderer, der bedächtig die Weiten der menschlichen Katastrophengeschichte durchschreitet und dabei seine berückend mäandernde Prosaspur hinterläßt. Die Debatte, die sich an Sebalds These vom Versagen der Nachkriegsliteratur vor dem Luftkrieg entzündete, dürfte vielen insofern eher als Versehen erschienen sein.

Der Germanist Sebald inszenierte sich jedoch von Anfang an als überlegener Außenseiter, der aggressiv die Konfrontation suchte. Ein Materialien- und Porträtband dokumentiert jetzt den kleinen Streit, den er bereits 1969 mit seiner Magisterarbeit über Carl Sternheim lostrat, etwa in der Auseinandersetzung mit Hellmuth Karasek. Sternheims Stücke waren für Sebald wenig mehr als pathologische Symptome für dessen unbedingten Willen zur Assimilation. Ein Anwurf, mit dem er zwei Jahre zuvor auch Theodor W. Adorno konfrontierte, einen Fürsprecher des Dramatikers. Bemerkenswert ist an dem Briefwechsel zwischen dem Zweiundzwanzigjährigen und dem von ihm verehrten Soziologiepapst weniger Adornos höfliche, wenn auch in der Sache vergebliche Replik. Sondern das Licht, das er auf diese frühe Phase des werdenden Dichters wirft.

Offenbar in einem Zustand größter Gefährdung mußte sich Sebald Ende der sechziger Jahre als Lehrer in St. Gallen durchschlagen. Dort war er so mit sich beschäftigt, daß er es fertigbrachte, Adorno ausgerechnet im Dezember 1968 um eine Referenz für ein Stipendium zu bitten. Frappant freilich ist das literarische Selbstbewußtsein, mit dem der junge Germanist gegenüber dem akademischen Übervater auftritt. Das Wenige an Korrespondenz, das bislang von ihm veröffentlicht ist, läßt erahnen, was für ein origineller Briefeschreiber Sebald war - hat man eigentlich schon einmal an eine Briefausgabe gedacht?

Darüber, ob der im Jahr 2001 ums Leben gekommene Autor auch ein großer Literaturkritiker war, kann man füglich streiten. Ulrich Simons überfällige Untersuchung Sebaldscher Attacken ergibt ein wenig sympathisches Bild. So sprach er Alfred Andersch aufgrund privaten Fehlverhaltens das Recht ab, über den Holocaust zu schreiben. Die vielberufene Einheit von Ethik und Ästhetik diente ihm dazu, im Rückgriff auf die Literatur die Biographie des Autors zu entwerten und umgekehrt.

Sebald selbst dagegen gilt heute gerade im Ausland als der repräsentative deutsche Autor des Holocaust. Eine Trouvaille, die erstmals einen detaillierten Blick auf seinen Umgang mit Quellen erlaubt, präsentiert Klaus Gasseleder. Er entdeckte den Prätext zur Luisa-Lanzberg-Geschichte aus den "Ausgewanderten", die bislang unbekannten Erinnerungen der 1891 geborenen Thea Frank-G., die Gasseleder von Nachkommen Theas zur Verfügung gestellt wurden. Sebald wird in der Familie für seine Literarisierung verehrt; das unterscheidet den Fall von jenem der Susi Bechhöfer, die ihm vorgeworfen hatte, ihre Lebensgeschichte ohne ihr Einverständnis verwendet zu haben. Dennoch sind Sebalds Veränderungen geeignet, einem zunächst den Atem stocken zu lassen. Zwar zeigt die Gegenüberstellung zahlreicher Passagen, mit welcher Empathie sich der Autor dem fremden Text anverwandelt hat. Und schmunzeln mag man darüber, daß jener Hirschkäfer, dem bei Sebald der Schreck über das allgegenwärtige Unglück so in die Glieder fährt, "als hätte das Herz der Welt ausgesetzt", in Theas Vorlage unbekümmert über die Wiese brummt.

Während aber die reale Thea die Liebesabenteuer eines "Backfisches" schildert und die NS-Zeit überlebte, stellt Sebald seiner Luisa gleich mehrere todgeweihte Liebhaber an die Seite, bis sie 1941 selbst in den Tod geschickt wird. Bislang unbekannte intertextuelle Bezüge werden auch von anderen Beiträgern aufgezeigt. So weist Marcel Atze auf die Bedeutung der Gedächtnistheorien von Maurice Halbwachs für "Austerlitz" hin, Franz Loquai auf Parallelen zwischen Sebald und Proust.

Diese neuen Bezüge sind kein Zufall. Sebalds Arbeitsbibliothek ist seit kurzem in Marbach zugänglich und dürfte noch manche Entdeckung bergen. Liebgewonnenen Vorstellungen beschert sie jedoch weitere Korrekturen: Ein bibliophiler Leser, wie Sebaldianer schon früh wissen wollten, war der Autor offenbar nicht. Dagegen sprechen die mit bunten Filzstiften durchgearbeiteten Taschenbuchausgaben ebenso wie "Dauerleihgaben" des Freiburger Studentenwohnheims.

OLIVER PFOHLMANN

Marcel Atze, Franz Loquai (Hrsg.): "Sebald. Lektüren". Dokumente, Materialien, Aufsätze. Edition Isele, Eggingen 2005. 290 S., br., 22,- [Euro].

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