Der Briefwechsel Rahel Levin Varnhagens mit ihrer engsten Freundin Pauline Wiesel, von dem bisher nur ein kleiner Teil bekannt war, wird hier erstmals vollständig, textkritisch und kommentiert veröffentlicht. Die Briefe, in denen die Fragen der Zeit ohne jeglichen Respekt vor Autoritäten und Konventionen diskutiert werden, sind nicht nur literatur- und kulturgeschichtlich von Interesse, sondern auch ein Lesevergnügen, frisch und voller Humor.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.11.1997Loses Leben, lange Briefe
Rahel Varnhagen schreibt Pauline Wiesel / Von Walter Hinck
Fährt man vom thüringischen Rudolstadt nach Saalfeld, kann man kurz vor dem Ziel einen Gedenkstein nicht übersehen. Hier fiel im Oktober 1806, in einem Vorgefecht zur Schlacht von Jena und Auerstedt, der Führer des fast vollständig vernichteten Korps, Prinz Louis Ferdinand, im Alter von dreiunddreißig Jahren. Der Neffe des Alten Fritz war ein militärischer Heißsporn, aber auch ein Freund der Wissenschaften und Künste, begabt als Pianist und Komponist, der Bohemien unter den preußischen Prinzen. Manche seiner Züge, vor allem die Eigenmächtigkeit in der Entscheidung zur Schlacht, hat man in Kleists "Prinz Friedrich von Homburg" wiederentdecken können. Zum Helden eines eigenen Dramas machte ihn Fritz von Unruh im Stück "Louis Ferdinand" (1913).
Als einen "Abgott schöner Frauen" hat Fontane den Prinzen beschrieben, und zu den Frauen, die nicht nur zu seinen Füßen, sondern auch in seinem Bette lagen, gehört Pauline Wiesel. Sie wurde zur literarischen Figur in Fanny Lewalds Roman "Prinz Louis Ferdinand. Ein Zeitbild" (1849). Die Frauen und Männer, in deren "Liebesreigen" (Carola Stern) Pauline Wiesel Mittelpunkt war, trafen sich im berühmten Salon von Rahel Levin, der späteren Rahel Varnhagen.
Pauline Cesar, 1778 als Tochter des Direktors der königlichen Bank und einer Mutter aus bekannter Berliner Hugenottenfamilie geboren, heiratete 1799 den preußischen Beamten Wilhelm Wiesel und lebte bald von ihm getrennt. Sie hatte das Glück, in Rahel Levin ihre beste und treueste Freundin zu finden und so nach ihrer Abreise aus Berlin für Jahrzehnte mit der wohl bedeutendsten Briefeschreiberin der deutschen Literatur in Korrespondenz zu treten. Erst jetzt, mit der Herausgabe des Briefwechsels durch Barbara Hahn und Birgit Bosold, wird ihre Teilhabe am literarischen Ruhm der Freundin voll dokumentiert. Der Band, Bestandteil der "Edition Rahel Levin Varnhagen", ist gegenüber zwei vorhergehenden Ausgaben eine vervollständigte und die erste umfassend kommentierte Ausgabe des Briefwechsels. Zustatten kam ihr die Wiederentdeckung von Rahels Nachlaß in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau, zu dem die Herausgeberinnen seit 1984 Zugang hatten. Über die Bedeutung dieser Korrespondenz läßt Rahel selbst keine Zweifel: sie ist der einzige Briefwechsel, den sie in ihrem Testament von 1816 erwähnt.
Die Treue zur Freundin ist so selbstverständlich nicht, und sie wurde von August Varnhagen, den Rahel 1814 heiratete, trotz gegenteiliger Beteuerungen eifersüchtig und mißmutig beobachtet. Nicht nur sein Briefwechsel mit Pauline, sondern auch seine Aufzeichnungen über sie werden im Band mit abgedruckt. "Ich unterdrückte mein widriges Gefühl", heißt es dort, "und um Rahel zu erfreuen, ging ich freundschaftlich mit Pauline um." Varnhagen kannte Pauline nicht aus ihrer Jugendzeit, wo sie, wenn die erhaltenen Porträts nicht trügen, von hinreißender Schönheit gewesen sein muß. Aber er wußte natürlich von ihren stadtbekannten Liebschaften. Als Pauline 1808 Berlin endgültig verließ, floh sie auch vor ihrem schlechten Ruf in der Gesellschaft.
Die Herausgeberin Barbara Hahn bemüht sich in ihrem Nachwort, am Klischee von der bloßen "Geliebten" zu rütteln. Nicht wegzuleugnen ist freilich, daß Pauline mit ihrer Liebesfähigkeit verschwenderisch umging. Eingeführt in die Liebe wurde sie, allenfalls sechzehnjährig, pikanterweise vom Domherrn Hugo Graf Hatzfeld. Die Gefühle von Friedrich Gentz, dem Schriftsteller und Staatsmann, versuchte sie noch in ihrer Elendszeit wieder zu mobilisieren. Das Verhältnis mit dem Adjutanten des russischen Zaren Alexander I., Graf Schuwaloff, bescherte ihr 1803 eine Tochter. Deren Nervenkrankheit sollte allerdings schlimme Zeiten für sie heraufbeschwören. Vollends geriet sie in Berlin durch ihre Affären mit französischen Besatzungsoffizieren in den Jahren 1806/07 ins Gerede. Als sie später nach der Scheidung von ihrem Mann wieder ihren Mädchennamen annahm und 1819 in Paris noch einmal den Vergnügungen nachjagte, witzelte ein Bekannter, der preußische Diplomat Oelsner, in einem Brief über "Frau von Wiesel, die nach vielen gewonnenen Schlachten sich Caesar nennt".
Daß Rahel Levin Varnhagen trotz gesellschaftlicher Ächtung Paulines ohne Einschränkung an der Freundschaft festhält, auch als Frau des preußischen Geschäftsträgers am badischen Hof in Karlsruhe (1816 bis 1819), ist ein Zeichen ungewöhnlicher Hochherzigkeit. Von der wechselseitigen tiefen Sympathie abgesehen, wird diese Freundschaft von Rahel wohl auch als ein Probefall für wirkliche Emanzipation verstanden. Die ihr Außenseiterdasein glänzend übersteigende, aber nie vergessende und um ihre Frauenrechte kämpfende Jüdin läßt sich von der Gesellschaft auch in ihre privaten Beziehungen nicht hineinreden.
Es gibt unter den vielen der bloßen Information dienenden Briefen große Texte Rahels. Fast ins Pathetisch-Erhabene geht ein Brief aus dem Jahre 1811: "Weh! daß unser Leben wegrinnt ohne daß wir zusammen leben . . . Nur einmal konnte die Natur zwey solche zugleich leben lassen . . . Wir sind neben der menschlichen Gesellschaft . . . ausgeschlossen aus der Gesellschaft. Sie, weil sie sie beleidigten. (Ich gratulire Sie dazu! so hatten sie doch etwas; viele Tage der Lust.) Ich, weil ich nicht mit ihr sündigen und lügen kann. Ich weiß ganz Ihre innre Geschichte." Als Varnhagen wegen seiner liberalen Gesinnungen und seiner Mitarbeit im badischen Verfassungsausschuß aus Karlsruhe abberufen wird und sie nach Berlin zurückkehren müssen, sieht sich Rahel umgeben von Gespenstern, sind ihr die bekannten Gegenstände "Furien der Vergangenheit".
Weit weniger als Rahel erhebt sich Pauline zu großen Gedanken, zu philosophischer Reflexion - nie kommt ein Zweifel auf, wer in diesem Freundschaftsbund die geistig Überlegene ist. Aber wo die Verzweiflung Pauline packt, wie bei der Pflege ihrer fünfzehnjährig sterbenden Tochter in einem schweizerischen Quartier, läßt auch ihre Sprache etwas von tragischer Fallhöhe ahnen: "Wer mit Solche Vürsprechen von Glück gebohren ist wie ich, wer So geliebt hat, und ist wo möhlich noch mehr geliebt worden, wer daß Erlebt hat - wer solche Stufen gestiegen ist und So wieder runter bis bei Diebe und Mörder zu wohnen . . . - der hat Alles Erlebt, der weiß Alles."
Das Zitat deutet an, daß bei Paulines Schriftsprache eine Sprachreform unsinnig wäre, weil sie noch vor aller Sprachregelung liegt. Die kleinen Verständnisschwierigkeiten, die sie dem heutigen Leser manchmal bietet, werden aufgewogen durch das Vergnügen an einer Sprache, die man immerfort wirklich gesprochen hört, an einer Sprecherin, die redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Immer wieder schlägt das Berlinische durch, Dativ und Akkusativ werden ununterscheidbar. Substantive und Adjektive, Verben und Adverbien sind manchmal groß, manchmal klein geschrieben, bei der Orthographie verfährt Pauline nach Einfall und Gutdünken. So blicken wir in die fröhliche Anarchie einer Schriftsprache, die noch im Saft des Mündlichen gärt; und es ist gut, daß die Herausgeberinnen allem Normierungseifer entsagt haben. Aus Paris wünscht sich Pauline in die winterlichen Alpen: "dann mit die erste Lechre währen wir Auf die hösten Berge. denn nie kam mir das bedrüfniß mehr am Herzen Berge baume Luft Grünes Als grade hier."
Wer Kommentare zur Politik erwartet, muß enttäuscht werden. Als Pauline 1815 in Paris viele der alten Bekannten wiedertrifft, etwa Friedrich Gentz und Alexander von Humboldt, ist nicht vom Anlaß, den Friedensverhandlungen, die Rede. Und als während der Julirevolution des Jahres 1830 Paulines zweiter Mann, der Hauptmann der Schweizergarde Vincent, in Barrikadenkämpfe verwickelt und leicht verwundet wird, bleibt es bei bloßer Mitteilung der Fakten. Selbst die schmähliche Abberufung Varnhagens aus Karlsruhe entlockt Rahel kein kritisches Wort. Emanzipation wird, anders als bei Bettina von Arnim, nicht als Freiheit zum politischen Räsonnement und als Pflicht zur Einmischung verstanden. Allenfalls spiegeln sich die politischen Wechselfälle in den Gemütszuständen.
Es ist die Handschrift des Seelenlebens, die wir lesen und manchmal entziffern müssen. "Melancholisch . . . ist noch das Beßte! das ist reich, da fühlt man in einem großen Horizont", schreibt Pauline aus ihrem einsamen Schweizer Domizil. Rahels Antworten und Tröstungen sind Beispiele eines hochentwickelten Einfühlungsvermögens. Ihr selbst bleibt die Etikette, der sie sich in Karslruhe als Diplomatenfrau unterwerfen muß, sehr fremd. Sie braucht etwas für die Augen, fürs Herz, braucht Spannung für Seele und Geist. Bezugspunkt und Maßstab bleibt die geistig-gesellige Berliner Glanzzeit in den ersten Jahren des Jahrhunderts. Aus Karlsruhe schreibt Rahel: "Liebe hab' ich überstanden, Heurath auch. Standesveränderung in meiner Art auch: ich meide, fliehe Amtliche und Höffische Gesellschaft; liebe nur eine wie wir sie hatten, und solchen Umgang."
Der Band bietet, wie das Nachwort betont, "den mit Abstand umfangreichsten Briefwechsel zweier Frauen". Im Unterschied zu anderen Ausgaben sind die oft längeren französisch geschriebenen Partien (vor allem in Briefen Paulines) im Original abgedruckt und finden sich in Übersetzung im Kommentarteil, der durch eine nie ins Pedantische gehende Sorgfalt besticht. Offenbar bei der Korrektur übersehen wurden Kleinigkeiten (vertauschte Datierung der Faksimiles auf Seite 25, falsches Erscheinungsjahr in Anmerkung 40, Seite 716). Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat ihre finanzielle Hilfe einem würdigen Unternehmen zukommen lassen. Dieser Briefwechsel ist eine ganz eigene prosaische Fortsetzung der großen Freundschaftsdichtung des achtzehnten Jahrhunderts.
Rahel Levin Varnhagen: "Briefwechsel mit Pauline Wiesel". Herausgegeben von Barbara Hahn unter Mitarbeit von Birgit Bosold. Verlag C. H. Beck, München 1997. 768 S., geb., 168,- DM.
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Rahel Varnhagen schreibt Pauline Wiesel / Von Walter Hinck
Fährt man vom thüringischen Rudolstadt nach Saalfeld, kann man kurz vor dem Ziel einen Gedenkstein nicht übersehen. Hier fiel im Oktober 1806, in einem Vorgefecht zur Schlacht von Jena und Auerstedt, der Führer des fast vollständig vernichteten Korps, Prinz Louis Ferdinand, im Alter von dreiunddreißig Jahren. Der Neffe des Alten Fritz war ein militärischer Heißsporn, aber auch ein Freund der Wissenschaften und Künste, begabt als Pianist und Komponist, der Bohemien unter den preußischen Prinzen. Manche seiner Züge, vor allem die Eigenmächtigkeit in der Entscheidung zur Schlacht, hat man in Kleists "Prinz Friedrich von Homburg" wiederentdecken können. Zum Helden eines eigenen Dramas machte ihn Fritz von Unruh im Stück "Louis Ferdinand" (1913).
Als einen "Abgott schöner Frauen" hat Fontane den Prinzen beschrieben, und zu den Frauen, die nicht nur zu seinen Füßen, sondern auch in seinem Bette lagen, gehört Pauline Wiesel. Sie wurde zur literarischen Figur in Fanny Lewalds Roman "Prinz Louis Ferdinand. Ein Zeitbild" (1849). Die Frauen und Männer, in deren "Liebesreigen" (Carola Stern) Pauline Wiesel Mittelpunkt war, trafen sich im berühmten Salon von Rahel Levin, der späteren Rahel Varnhagen.
Pauline Cesar, 1778 als Tochter des Direktors der königlichen Bank und einer Mutter aus bekannter Berliner Hugenottenfamilie geboren, heiratete 1799 den preußischen Beamten Wilhelm Wiesel und lebte bald von ihm getrennt. Sie hatte das Glück, in Rahel Levin ihre beste und treueste Freundin zu finden und so nach ihrer Abreise aus Berlin für Jahrzehnte mit der wohl bedeutendsten Briefeschreiberin der deutschen Literatur in Korrespondenz zu treten. Erst jetzt, mit der Herausgabe des Briefwechsels durch Barbara Hahn und Birgit Bosold, wird ihre Teilhabe am literarischen Ruhm der Freundin voll dokumentiert. Der Band, Bestandteil der "Edition Rahel Levin Varnhagen", ist gegenüber zwei vorhergehenden Ausgaben eine vervollständigte und die erste umfassend kommentierte Ausgabe des Briefwechsels. Zustatten kam ihr die Wiederentdeckung von Rahels Nachlaß in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau, zu dem die Herausgeberinnen seit 1984 Zugang hatten. Über die Bedeutung dieser Korrespondenz läßt Rahel selbst keine Zweifel: sie ist der einzige Briefwechsel, den sie in ihrem Testament von 1816 erwähnt.
Die Treue zur Freundin ist so selbstverständlich nicht, und sie wurde von August Varnhagen, den Rahel 1814 heiratete, trotz gegenteiliger Beteuerungen eifersüchtig und mißmutig beobachtet. Nicht nur sein Briefwechsel mit Pauline, sondern auch seine Aufzeichnungen über sie werden im Band mit abgedruckt. "Ich unterdrückte mein widriges Gefühl", heißt es dort, "und um Rahel zu erfreuen, ging ich freundschaftlich mit Pauline um." Varnhagen kannte Pauline nicht aus ihrer Jugendzeit, wo sie, wenn die erhaltenen Porträts nicht trügen, von hinreißender Schönheit gewesen sein muß. Aber er wußte natürlich von ihren stadtbekannten Liebschaften. Als Pauline 1808 Berlin endgültig verließ, floh sie auch vor ihrem schlechten Ruf in der Gesellschaft.
Die Herausgeberin Barbara Hahn bemüht sich in ihrem Nachwort, am Klischee von der bloßen "Geliebten" zu rütteln. Nicht wegzuleugnen ist freilich, daß Pauline mit ihrer Liebesfähigkeit verschwenderisch umging. Eingeführt in die Liebe wurde sie, allenfalls sechzehnjährig, pikanterweise vom Domherrn Hugo Graf Hatzfeld. Die Gefühle von Friedrich Gentz, dem Schriftsteller und Staatsmann, versuchte sie noch in ihrer Elendszeit wieder zu mobilisieren. Das Verhältnis mit dem Adjutanten des russischen Zaren Alexander I., Graf Schuwaloff, bescherte ihr 1803 eine Tochter. Deren Nervenkrankheit sollte allerdings schlimme Zeiten für sie heraufbeschwören. Vollends geriet sie in Berlin durch ihre Affären mit französischen Besatzungsoffizieren in den Jahren 1806/07 ins Gerede. Als sie später nach der Scheidung von ihrem Mann wieder ihren Mädchennamen annahm und 1819 in Paris noch einmal den Vergnügungen nachjagte, witzelte ein Bekannter, der preußische Diplomat Oelsner, in einem Brief über "Frau von Wiesel, die nach vielen gewonnenen Schlachten sich Caesar nennt".
Daß Rahel Levin Varnhagen trotz gesellschaftlicher Ächtung Paulines ohne Einschränkung an der Freundschaft festhält, auch als Frau des preußischen Geschäftsträgers am badischen Hof in Karlsruhe (1816 bis 1819), ist ein Zeichen ungewöhnlicher Hochherzigkeit. Von der wechselseitigen tiefen Sympathie abgesehen, wird diese Freundschaft von Rahel wohl auch als ein Probefall für wirkliche Emanzipation verstanden. Die ihr Außenseiterdasein glänzend übersteigende, aber nie vergessende und um ihre Frauenrechte kämpfende Jüdin läßt sich von der Gesellschaft auch in ihre privaten Beziehungen nicht hineinreden.
Es gibt unter den vielen der bloßen Information dienenden Briefen große Texte Rahels. Fast ins Pathetisch-Erhabene geht ein Brief aus dem Jahre 1811: "Weh! daß unser Leben wegrinnt ohne daß wir zusammen leben . . . Nur einmal konnte die Natur zwey solche zugleich leben lassen . . . Wir sind neben der menschlichen Gesellschaft . . . ausgeschlossen aus der Gesellschaft. Sie, weil sie sie beleidigten. (Ich gratulire Sie dazu! so hatten sie doch etwas; viele Tage der Lust.) Ich, weil ich nicht mit ihr sündigen und lügen kann. Ich weiß ganz Ihre innre Geschichte." Als Varnhagen wegen seiner liberalen Gesinnungen und seiner Mitarbeit im badischen Verfassungsausschuß aus Karlsruhe abberufen wird und sie nach Berlin zurückkehren müssen, sieht sich Rahel umgeben von Gespenstern, sind ihr die bekannten Gegenstände "Furien der Vergangenheit".
Weit weniger als Rahel erhebt sich Pauline zu großen Gedanken, zu philosophischer Reflexion - nie kommt ein Zweifel auf, wer in diesem Freundschaftsbund die geistig Überlegene ist. Aber wo die Verzweiflung Pauline packt, wie bei der Pflege ihrer fünfzehnjährig sterbenden Tochter in einem schweizerischen Quartier, läßt auch ihre Sprache etwas von tragischer Fallhöhe ahnen: "Wer mit Solche Vürsprechen von Glück gebohren ist wie ich, wer So geliebt hat, und ist wo möhlich noch mehr geliebt worden, wer daß Erlebt hat - wer solche Stufen gestiegen ist und So wieder runter bis bei Diebe und Mörder zu wohnen . . . - der hat Alles Erlebt, der weiß Alles."
Das Zitat deutet an, daß bei Paulines Schriftsprache eine Sprachreform unsinnig wäre, weil sie noch vor aller Sprachregelung liegt. Die kleinen Verständnisschwierigkeiten, die sie dem heutigen Leser manchmal bietet, werden aufgewogen durch das Vergnügen an einer Sprache, die man immerfort wirklich gesprochen hört, an einer Sprecherin, die redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Immer wieder schlägt das Berlinische durch, Dativ und Akkusativ werden ununterscheidbar. Substantive und Adjektive, Verben und Adverbien sind manchmal groß, manchmal klein geschrieben, bei der Orthographie verfährt Pauline nach Einfall und Gutdünken. So blicken wir in die fröhliche Anarchie einer Schriftsprache, die noch im Saft des Mündlichen gärt; und es ist gut, daß die Herausgeberinnen allem Normierungseifer entsagt haben. Aus Paris wünscht sich Pauline in die winterlichen Alpen: "dann mit die erste Lechre währen wir Auf die hösten Berge. denn nie kam mir das bedrüfniß mehr am Herzen Berge baume Luft Grünes Als grade hier."
Wer Kommentare zur Politik erwartet, muß enttäuscht werden. Als Pauline 1815 in Paris viele der alten Bekannten wiedertrifft, etwa Friedrich Gentz und Alexander von Humboldt, ist nicht vom Anlaß, den Friedensverhandlungen, die Rede. Und als während der Julirevolution des Jahres 1830 Paulines zweiter Mann, der Hauptmann der Schweizergarde Vincent, in Barrikadenkämpfe verwickelt und leicht verwundet wird, bleibt es bei bloßer Mitteilung der Fakten. Selbst die schmähliche Abberufung Varnhagens aus Karlsruhe entlockt Rahel kein kritisches Wort. Emanzipation wird, anders als bei Bettina von Arnim, nicht als Freiheit zum politischen Räsonnement und als Pflicht zur Einmischung verstanden. Allenfalls spiegeln sich die politischen Wechselfälle in den Gemütszuständen.
Es ist die Handschrift des Seelenlebens, die wir lesen und manchmal entziffern müssen. "Melancholisch . . . ist noch das Beßte! das ist reich, da fühlt man in einem großen Horizont", schreibt Pauline aus ihrem einsamen Schweizer Domizil. Rahels Antworten und Tröstungen sind Beispiele eines hochentwickelten Einfühlungsvermögens. Ihr selbst bleibt die Etikette, der sie sich in Karslruhe als Diplomatenfrau unterwerfen muß, sehr fremd. Sie braucht etwas für die Augen, fürs Herz, braucht Spannung für Seele und Geist. Bezugspunkt und Maßstab bleibt die geistig-gesellige Berliner Glanzzeit in den ersten Jahren des Jahrhunderts. Aus Karlsruhe schreibt Rahel: "Liebe hab' ich überstanden, Heurath auch. Standesveränderung in meiner Art auch: ich meide, fliehe Amtliche und Höffische Gesellschaft; liebe nur eine wie wir sie hatten, und solchen Umgang."
Der Band bietet, wie das Nachwort betont, "den mit Abstand umfangreichsten Briefwechsel zweier Frauen". Im Unterschied zu anderen Ausgaben sind die oft längeren französisch geschriebenen Partien (vor allem in Briefen Paulines) im Original abgedruckt und finden sich in Übersetzung im Kommentarteil, der durch eine nie ins Pedantische gehende Sorgfalt besticht. Offenbar bei der Korrektur übersehen wurden Kleinigkeiten (vertauschte Datierung der Faksimiles auf Seite 25, falsches Erscheinungsjahr in Anmerkung 40, Seite 716). Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat ihre finanzielle Hilfe einem würdigen Unternehmen zukommen lassen. Dieser Briefwechsel ist eine ganz eigene prosaische Fortsetzung der großen Freundschaftsdichtung des achtzehnten Jahrhunderts.
Rahel Levin Varnhagen: "Briefwechsel mit Pauline Wiesel". Herausgegeben von Barbara Hahn unter Mitarbeit von Birgit Bosold. Verlag C. H. Beck, München 1997. 768 S., geb., 168,- DM.
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