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Rilkes Briefe an Rolf Freiherrn von Ungern-Sternberg sind, wie die Briefe an einen jungen Dichter oder die Briefe an eine junge Frau, Reaktionen auf einen Ruf nach Hilfe: Am 21. Januar 1921 hatte sich der baltische Autor und Diplomat an Rilke mit der Bitte gewandt, seine Übertragungen von Jean Moréas' Stances zu begutachten und ihnen mit einer Verlagsempfehlung zur Veröffentlichung zu verhelfen. Der Briefwechsel, der sich daraufhin zwischen beiden Männern entspann, galt der detaillierten Arbeit an einzelnen Versen Moréas', doch ging er weit darüber hinaus. Ungern-Sternbergs Kontaktaufnahme zu…mehr

Produktbeschreibung
Rilkes Briefe an Rolf Freiherrn von Ungern-Sternberg sind, wie die Briefe an einen jungen Dichter oder die Briefe an eine junge Frau, Reaktionen auf einen Ruf nach Hilfe: Am 21. Januar 1921 hatte sich der baltische Autor und Diplomat an Rilke mit der Bitte gewandt, seine Übertragungen von Jean Moréas' Stances zu begutachten und ihnen mit einer Verlagsempfehlung zur Veröffentlichung zu verhelfen. Der Briefwechsel, der sich daraufhin zwischen beiden Männern entspann, galt der detaillierten Arbeit an einzelnen Versen Moréas', doch ging er weit darüber hinaus.
Ungern-Sternbergs Kontaktaufnahme zu Rilke bedeutete, biographisch gesehen, die willkommene Möglichkeit, von der Schweiz aus an die durch den Ersten Weltkrieg jäh abgebrochene Pariser Zeit anzuschließen, in der Rilke den Diplomaten kennengelernt hatte, und von den Schwierigkeiten zu sprechen, die ihm das Heimischwerden im Schweizer Exil damals noch bereitete. Die Ausgabe basiert auf dem 1980 im Insel Verlag Leipzig erschienenen Briefwechsel; sie wurde unter anderem um einige bislang unveröffentlichte Briefe sowie um die Rilkeschen Übertragungen einiger von Moréas' Stances erweitert.
Autorenporträt
Rilke, Rainer MariaRainer Maria Rilke wurde am 4. Dezember 1875 in Prag geboren. Nach dem Abbruch der Militärschule studierte er Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie in Prag, München und Berlin und schrieb Gedichte. Nach einer Liaison mit der verheirateten Lou Andreas-Salomé und heiratete er 1901 Clara Westhoff, die Scheidung folgte schon im folgenden Jahr. Aus Geldnot nahm Rilke Auftragsarbeiten an und reiste 1902 nach Paris, wo das Gedicht Der Panther entstand. Rilke unternahm Reisen nach Nordafrika, Ägypten und Spanien. Rilkes Tagebuchroman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge wurde 1910 veröffentlicht. 1919 siedelte er in die Schweiz über. In den 1920er Jahren erkrankte er an Leukämie und verstarb schließlich am 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux in der Schweiz. Rainer Maria Rilke ist einer der bedeutendsten Lyriker deutscher Sprache. Seit dem Jahr 1900 ist er Autor des Insel Verlages, sein Werk wird hier geschlossen betreut.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002

Ummauert von Gegenwart
Im Plauderton: Rilkes melancholischer Briefwechsel mit Rolf von Ungern-Sternberg / Von Thomas Rietzschel

Beide hatten sie ihre Welt verloren, Rainer Maria Rilke ebenso wie Rolf von Ungern-Sternberg, der aus dem Baltikum stammende Bildungsbürger. Tief in der Erinnerung, weit hinter den Schützengräben von Verdun, von Ypern und Langemark lag jenes Europa, in dem sie als Weltbürger zu Hause gewesen waren. Wie sollten sie nun, nach dem Krieg, je wieder zurückfinden in das kunstbestimmte, das offene Dasein, das sie noch genossen, als sie sich seinerzeit, 1913, in Paris trafen.

Rilke war eben wieder auf Umwegen aus Duino in die Stadt gekommen; die Begegnung mit Rolf von Ungern-Sternberg hatte sich schnell ergeben. Seit er in Paris lebte, zeigt der junge Diplomat in russischen Diensten ein lebhaftes Interesse an den Kreisen der Künstler und Intellektuellen. Engere Freundschaft verband ihn mit dem früh gefallenen Dichter Robert Vicomte d'Humières, durch den er unter anderem auf die Werke des Symbolisten Jean Moréas gestoßen war. Und der Eifer, mit dem er sich nachher, 1920 in Berlin, an die Übersetzung seiner "Stances" machen sollte, mag nicht zuletzt der Sehnsucht entsprungen sein, der Sehnsucht nach dieser verlorenen Zeit.

Wie ein Versuch melancholischer Versenkung will nicht nur die Arbeit selbst, das Ringen um die poetische Übertragung, sondern vor allem auch der Briefwechsel anmuten, den er darüber mit Rainer Maria Rilke führte. In der Korrespondenz wurden die Brücken geschlagen zueinander und zurück in die Vergangenheit; im Gespräch über die Lyrik entkam man einer Gegenwart, die dem Dichter die Worte zu nehmen drohte. Gleich in einem der ersten Briefe wollte Rilke von seiner "Unfähigkeit zur Geistesgegenwart" sprechen. "Ich habe", schrieb er, "immer wieder Anlaß, zu untersuchen, was mir eigentlich zu jener Auffassung von früher fehle - ob nur Verwirrung, Ermüdung oder Unlust sie verhindern ..." Und auch in den Briefen des anderen glaubte er von Anfang an "das gleiche Bekenntnis einer noch nicht wieder errungenen Freudigkeit und Arglosigkeit" zu erkennen. Woher aber, fragte er, "soll sie uns auch kommen, von heute auf morgen ... zuwachsen können". Daß es am Ende doch nur wieder die Dichtung sein würde, aus der sich Hoffnung ergibt, stand als Bekenntnis zwischen den Zeilen. Es folgte aus der Anteilnahme, mit der er die Arbeit Ungern-Sternbergs, sein hermeneutisches Bemühen um die "stimmungsgetreue" Übertragung begleitete, beinah so, als ginge es um die eigenen Verse.

Im brieflichen Dialog, in der literarischen Aussprache wenigstens konnten beide die Illusion der ästhetischen Existenz bewahren. Im eleganten Ton versuchten sie wieder und wieder bei dem zu verharren, was ihnen ohnehin wichtiger als alles sonst war. Fast schon entschuldigend sprach Ungern-Sternberg ab und an von der Notwendigkeit, seinen Unterhalt mit abhaltender Beschäftigung in der Bank oder als Sprachlehrer verdienen zu müssen, während Rilke zunehmend Mühe hatte, den Gedanken an die Unbehaustheit seiner Existenz zu verdrängen. Dem "völlig Unbestimmten, Unabsehlichen" sah er sich gegenüber. Auf dem Schweizer Schloß Berg, wo er seit Monaten lebte, konnte er auf Dauer nicht bleiben; eine neue Zuflucht war lange nicht in Aussicht. Der von Ungern-Sternberg erwogene Gedanke an eine "Berufung", wohin auch immer, wurde schnell wieder verworfen, weil man sich eine andere als die dichterische Arbeit nicht vorzustellen vermochte. Eben dafür aber fehlte seit Jahren die innere Ruhe, eine Sammlung, die kreativen Ausdruck erlaubt hätte. Schritt für Schritt nur konnte die Annäherung an das eigene Schreiben wieder gelingen, vielleicht so teilnehmend, wie es der Briefwechsel mit Rolf von Ungern-Sterberg verlangte.

Was er ihm rät, was Rilke über die Bedeutung des Wörtlichen und des Wesentlichen bei der Übersetzung sagt, wie er "Convention" und "Zuneigung der Sprache" betrachtet, das alles gibt Aufschlüsse, die der Philologie in vieler Hinsicht weiterhelfen werden. Erstmals bekommt sie den vorgestellten Briefwechsel, einen ebenso schmalen wie inhaltsreichen Band von vierzehn Stücken, in der gebotenen Vollständigkeit, ergänzt überdies um zwei Schreiben Ungern-Sternbergs an die Landesbibliothek in Weimar. Dahin, an die heutige Herzogin Anna Amalia Bibliothek der Stiftung Weimarer Klassik, hatte er das Konvolut noch selbst gegeben, 1926, kurz bevor er nach Japan übersiedelte, um sich als Sprachlehrer durchzuschlagen. "Ich habe", gestand er in seinem Begleitbrief zu den Archivalien, "kein Heim mehr und fürchte bei jedem Umzug, den Rest von fahrender Habe zu verlieren." Die Übergabe besiegelte den Abschied von einer Welt, von einem Europa, das durch den Krieg so zerrissen war, daß er darin "nur noch flüchtig sein" konnte, flüchtig von Ort zu Ort und in die Vergangenheit, so wie es der Briefwechsel während seiner Übersetzung Moréas' erlaubte. Als die Arbeit beendet war, hatte die Korrespondenz ihren Gegenstand, die Kunst als tertium datur, verloren. Beinah unvermittelt sollte sie abbrechen. Keine zwei Jahre, vom 26. Januar 1921 bis zum 31. Mai 1922, hatte sie gedauert. "Leben Sie recht wohl", heißt es im letzten Brief an Rilke.

Wehmut mischte sich in den Stolz, mit dem der Übersetzer das fertige Buch an seinen Ratgeber schickte. Trotz dessen prominenter Fürsprache hatte sich kein großen Verlag für das Vorhaben finden lassen. In nur dreihundert Exemplaren mußte das Buch schließlich im kleinen Berliner Wir Verlag herauskommen. Die öffentliche Resonanz hielt sich in Grenzen; die eigentliche Wirkung der Arbeit war eine gleichsam therapeutische gewesen. "Aber", fragte Ungern-Sternberg nach Abschluß der Übersetzung, "ist man nicht auch Entwürfen und Gespinsten dankbar, die uns jene freien Möglichkeiten vorspiegeln, an denen wir vor dem Kriege so reich waren ..."

Anschluß und Ermutigung vor allem hatten sich aus dem Briefwechsel ergeben. Daß sein Ausklang mit dem letzten Aufleben von Rilkes dichterischer Kreativität, dem Abschluß der "Duineser Elegien", zusammenfiel, will nach der Lektüre jedenfalls viel weniger zufällig erscheinen, als es auf den ersten Blick anmuten mag. Auch dem Lyriker hatte der Austausch geholfen, "den Mauerring" abzutragen, der ihn "vom Gewesenen ebenso abgeschlossen hielt, wie von dem, was etwa noch ... doch noch ... kommen konnte". Im Dialog konnte er zurückfinden, zurück in die verlorene Welt der eigenen Verse. Und wer noch ein Ohr hat für den elegant kultivierten Ton dieser Vorzeit, der wird mit den Autoren heute wie ehedem versinken in der melancholischen Stimmung "dieser langen Plauderei".

Rainer Maria Rilke: "Briefwechsel mit Rolf von Ungern-Sternberg". Herausgegeben von Konrad Kratzsch. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2002. 160 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.02.2003

Fahrende aus dem alten Europa
Rainer Maria Rilkes Briefwechsel mit Rolf von Ungern-Sternberg
Das Schönste an Briefen ist die Verspätung, mit der sie aus der Vergangenheit kommen, um unter Umgehung der Gegenwart an den Pforten der Zukunft anzuklopfen: „Ich habe”, schreibt Rainer Maria Rilke in einem Brief vom 28. Januar 1922 an einen seiner fernen Briefpartner, den baltischen Schriftsteller und demissionierten Diplomaten Rolf von Ungern-Sternberg, „ich habe in all diesen Monaten nicht viel vor mich gebracht, die Mühsäligkeit der Conzentration ist immer noch in meinen Nerven –, manchmal scheint mir, ich sei immer noch dabei, den Mauerring, Stein um Stein abzutragen, der mich (in Krieg und Nachkrieg) vom Gewesenen ebenso abgeschlossen hielt, wie von dem, was etwa noch ... doch noch ... kommen konnte.”
Brücken bauen
Über den verhältnismäßig kurzen Zeitraum dieses erst im Januar 1921 begonnenen Briefwechsels hinaus zog Rilke das Resümee eines langen Jahrzehnts, in dem es ihm als Dichter die Sprache verschlagen hatte, während der unermüdliche Briefeschreiber seine öffentliche Schweigezeit durch eine Fülle privater Korrespondenzen überbrückte: „Von diesen Brücken / Die wir mit Verschiedenem baun”, sprach Rilke einmal in Versen, die er dem polnischen Übersetzer der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge widmete. Dabei hatte er zwar das einschlägige Handwerk im Sinn, doch mit gleichem Recht könnte dieser Gedanke als Motto über jedem gelungenen Briefverkehr stehen: So auch über Rilkes Korrespondenz mit dem baltischen Baron, die ihren besonderen Reiz daraus bezieht, dass sie einen sinnreichen Reflex auf die epistolarische Gattung schlechthin erlaubt, insofern hier tatsächlich Übersetzungsfragen verhandelt wurden.
Rolf von Ungern-Sternberg war damals mit der Übertragung der Stanzen des Jean Moréas (1856-1910) aus dem Französischen ins Deutsche befasst und hatte sich hilfesuchend an den Verfasser des Stundenbuchs gewandt, der ihm ein flüchtiger Bekannter aus Pariser Vorkriegszeiten war. Anfangs war Rilke mit dem lyrischen Werk des symbolistischen Dichters zwar gar nicht vertraut, doch sobald seine Neugier und Aufnahmebereitschaft einmal geweckt waren, gingen zwischen den beiden Korrespondenten dicke Bündel von Briefen und Manuskripten hin und her, die bis an die Seitenränder beschrieben, annotiert und kommentiert waren: „supplementäre Überraschungen” nannte Rilke das zunehmende „Blättern im Wiedererkannten”, bis er am Ende ein fertiges Buch, an dem er als stiller Teilhaber mitgewirkt hatte, in den Händen hielt, und es, wie er in seinem letzten, seinem Dankesbrief an Ungern schrieb, „Seite für Seite, als ein Vertrauter, ins reinste Vertrauen Einbezogener, aufschlagen” durfte.
Mit dieser kleinen, aber von tiefen persönlichen und poetischen Einsichten begleiteten Korrespondenz liegt ein einzigartiges Lehrstück der angewandten Briefkunde vor. Selten sind Stoff und Form einer weithin ausgestorbenen Kunst so glücklich wie hier mit der geistigen und seelischen Verfassung der Schreibenden – obwohl sie eine eher unglückliche war – übereingekommen und haben im fortwährenden gegenseitigen Nehmen und Geben zu Resultaten – lyrischen Übersetzungen – gefunden, die in der Tat Brücken schlugen: Brücken nicht nur über Sprachgrenzen, sondern auch über Ländergrenzen und persönliche Schicksale hinweg, noch dazu über die Zeitläufte und deren Verwerfungen, um jedes Mal das zu leisten, was der gemeinsamen Überzeugung der Korrespondenten nach auch die vornehmste Aufgabe des Übersetzers sein sollte: ein Original durch seine Übertragung zu vertiefen.
Zwei unbehauste und versprengte Europäer, die „ohne sichere Wohnung” waren, hatten einander gefunden: Der eine lebte zurückgezogen in der neutralen Schweiz, der andere war für eine Weile in Berlin untergetaucht, von wo er nach Schweden auszuwandern plante, aber in der Folge einer langen Odyssee durch fast alle europäischen Länder am Ende im fernen Japan landete. Zuvor hatte er, kurz nach Rilkes Tod, den Briefwechsel der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar als Depositum übergeben, mit den Worten: „Ich habe kein Heim mehr und fürchte bei jedem Umzug, den Rest von fahrender Habe zu verlieren.”
Anfangs waren Rilke und Ungern-Sternberg einander noch mit Höflichkeitsfloskeln begegnet: „Hochverehrter Herr Rilke”, „Sehr werther Baron von Ungern-Sternberg”, heißt es in den ersten, doch „Mein lieber Baron Ungern” und „Lieber, sehr verehrter Herr Rilke” in den letzten Briefen. Beide hatten ihre französische Wahlheimat verlassen müssen, um sich, wie Ungern schrieb, im „Parallelismus Ihres und meines fahrenden Geschicks” wiederzufinden. Auf die Ära vor 1914 blickten sie zurück als auf eine Welt, in der man – mit Rilkes Worten – noch „Wahlheimathen” erwerben konnte: „Solange die Welt offen war und die Auswahl einer solchen kompositen Heimath uneingeschränkt, bildete sich aus allem so Erworbenen wirklich etwas wie eine schwebende und doch hinreichend tragende Stelle, gewissermaßen über den Ländern –”.
Die Flüchtigen
Für Rilke war dies, neben Paris, wo er dank seiner „Neigung zu den ‚Dingen‘” auch bei einem kurzen Nachkriegsbesuch „an die Bruchstellen meiner dortigen Welt in ein paar Tagen leis anheilen” wollte, die Welt von Schloss Duino bei Triest, wo er auf Einladung der Fürstin Marie von Thurn und Taxis 1911/12 weilte, während die ersten Duineser Elegien entstanden. Ihr Fortgang wurde von der Katastrophe des Weltkriegs unterbrochen, und lange Zeit vergeblich versuchte Rilke in der Nachkriegszeit auch daran wieder „anzuheilen” – bis es ihm im Februar 1922 endlich gelang, und zwar im Anschluss an jenen eingangs zitierten, noch ganz verzagten Brief an Ungern, der aber bereits die ersehnte Wende und deshalb mit liebenswürdigen Worten auch ein Moratorium aufs Briefeschreiben ankündigte: „... heute hab ich mir versprochen, während des Februar nicht einen einzigen Brief zu schreiben –, umso schöner, dass ich mich Ihnen, vor dieser Enthaltung, noch einmal geltend und dankbar machen kann!”
„Wer aber sind sie, sag mir, die Fahrenden, diese ein wenig / Flüchtigern noch als wir selbst”, heißt es in Anspielung auf ein Gemälde von Picasso am Eingang der Fünften Elegie, die am 14. Februar 1922 fertiggestellt wurde. Wenn man will, kann man in der Anfangszeile ein Echo auf den im Brief vom 22. Januar vermerkten „Parallelismus” beider „fahrenden Geschicks” vernehmen, wie umgekehrt auch in einer von Ungern-Sternberg mit Rilkes Hilfe übersetzten Verszeile des Moréas: „Wir, die wir sorglos sind und nimmer sinken dürfen, / Lass uns als Hauch vergehn!” Welch lyrischer Abschied vom alten Europa hätte schöner und elegischer sein können? Da passt dieses kleine Büchlein mit seinen Gaben und Geschenken, die sich zwei versprengte Europäer gegenseitig machten, noch immer gut ins Reisegepäck.
Mit dem Erscheinen der deutschen Ausgabe von Moréas’ Stanzen brach der Briefwechsel ab: „So schließe ich, ohne zu schließen”, hatte Rilke in einem seiner letzten Briefe geschrieben. Doch längst waren unsichtbare Dritte im Spiel, mit denen er auf der langen Umlaufbahn von Blättern und Büchern weitergeführt wurde, darunter auch Marie Taxis, der Rilke am 7. Januar 1923 schrieb: „Ob wohl Ungern-Sternberg bei Ihnen gewesen ist? Ich schulde ihm einen Brief seit Unzeiten, – aber eben wegen jener Zustände, die jede Anstrengung bestrafen, bin ich ein immer schlechterer Correspondent geworden. Wie gesagt, ich schriebe am Liebsten – Ihnen!” Das war ein reizendes Kompliment an die fürstliche Gönnerin. Doch inzwischen war die Schaffenskrise überwunden, und längst schrieb Rilke wieder öffentliche Briefe an seine Leser: Gedichte.
VOLKER BREIDECKER
RAINER MARIA RILKE: Briefwechsel mit Rolf von Ungern-Sternberg. Herausgegeben von Konrad Kratzsch unter Mitarbeit von Vera Hauschild. Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 2002. 159 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Mit dieser kleinen, aber von tiefen persönlichen und poetischen Einsichten begleiteten Korrespondenz liegt für Rezensent Volker Breidecker "ein einzigartiges Lehrstück der angewandten Briefkunde" vor. Selten seien Stoff und Form einer "weithin ausgestorbenen Kunst" so glücklich wie hier "mit der geistigen und seelischen Verfassung der Schreibenden" übereingekommen. Im fortwährenden Geben und Nehmen haben beide Briefschreiber für den Rezensenten außerdem nicht nur über Sprachgrenzen sondern auch über Ländergrenzen und persönliche Schicksale geschlagen. Begonnen habe der Briefwechsel zwischen Rilke und dem in der Schweiz lebenden baltischen Schriftsteller und demissionierten Diplomaten, als sich von Ungern-Sternberg hilfesuchend an Rilke wegen einer Übersetzungsfrage zu den Stanzen Jean Moreas' gewandt habe. Etwa zwei Jahre lang seien zwischen beiden "dicke Bündel von Briefen und Manuskripten" hin und her gegangen, die der Rezensent als "bis an die Seitenränder beschrieben, annotiert und kommentiert" beschreibt. Der Briefwechsel ist Breidecker zufolge auch deswegen von Bedeutung, weil er in das Jahrzehnt fällt, in dem Rilke außer Briefen nichts geschrieben habe.

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