Warum gab es bisher über die kunstgeschichtliche Entwicklung des englischen Möbels zwischen 1820 und 1920 fast keine monografischen Publikationen? Christopher Payne, international anerkannter Spezialist für europäische Möbel des 19. Jahrhunderts, war sich über die Lücke schon lange bewusst, aber ihm
war auch klar, dass es schwierig sein würde, sie zu füllen. Das Problem ist der Eklektizismus jener…mehrWarum gab es bisher über die kunstgeschichtliche Entwicklung des englischen Möbels zwischen 1820 und 1920 fast keine monografischen Publikationen? Christopher Payne, international anerkannter Spezialist für europäische Möbel des 19. Jahrhunderts, war sich über die Lücke schon lange bewusst, aber ihm war auch klar, dass es schwierig sein würde, sie zu füllen. Das Problem ist der Eklektizismus jener Epoche, die bewusst auf Stilelemente vergangener Zeiten zurückgriff und dieses Prinzip über einen langen Zeitraum beibehielt. Was wir in Deutschland als „Historismus“ kennen, etablierte sich in England schon um 1820 im Segment der Luxusmöbel. Payne bemerkt in seiner hervorragend illustrierten Monografie, dass selbst der englische Handel diesen Stil oft als „viktorianisch“ missinterpretiert und damit auch fehldatiert. George III und William IV waren kunstaffin und schufen in ihrer Vorbildfunktion die Grundlage dessen, was sich etwa 20 Jahre später im Bürgertum als „viktorianischer Stil“ breit manifestierte.
Payne besitzt ein unfassbar umfangreiches Wissen, das sich aus seiner Zeit als Direktor bei Sotheby‘s und als selbständiger Händler speist. Alle stilprägenden Designer, Hersteller und Luxushändler tauchen in seinen nach Jahrzehnten gestaffelten Kapiteln mit detaillierten biografischen Angaben auf, wobei es allerdings bei den langlebigen Firmen einige Redundanzen gibt. Der Vorteil ist, dass jedes Kapitel autark funktioniert, als Leser hätte ich eine weniger in die Tiefe gehende Wiederholung allerdings bevorzugt. Über den umfangreichen Index im Anhang sind die Referenzen auch leicht wieder aufzufinden.
Besonders hervorheben möchte ich Paynes Fokus auf die verwendeten Materialien. Er ist ein hervorragender Holzkundler und es zeichnet sich im Lauf der Zeit immer deutlicher heraus, dass die Einordnung von nicht datierten Möbeln oft über eine präzise Materialbestimmung möglich ist. Das noch um 1820 als absoluter Luxusstil verwendete Design wird unter Verwendung preiswerterer (aus heutiger Sicht immer noch kostbarer) Furnierhölzer später im Bürgertum demokratisiert. Der Band untersucht, wie im Untertitel zu erkennen ist, die Avantgarde dieser Entwicklung und nicht die spätere „Massenproduktion“. Aufgrund von Paynes enzyklopädischem Wissen um Provenienz und Lokalisation bedeutender Möbel ist das Bildmaterial hierzu äußerst umfangreich und erlaubt dem Leser, ein stilistisches Gespür zu entwickeln. Hinzu kommen zahlreiche Darstellungen, die die Möbel im historischen Wohnkontext zeigen, was zum einen bei der Datierung hilft, zum anderen die praktische Verwendung illustriert.
Die Verarbeitungsqualität englischer Möbel dieser Zeit ist herausragend und nicht zufällig haben sich ungeheure Mengen von ihnen aus bürgerlichem Umfeld erhalten. Die in der Monografie gezeigten Beispiele setzen aber eigene Maßstäbe in Qualität, verfeinertem Design und Materialauswahl. Auch wenn der Autor bescheiden darauf hinweist, dass das Buch keineswegs enzyklopädisch gedacht ist, ist die Informationstiefe insgesamt so hoch, dass es aus meiner Sicht durchaus enzyklopädischen Charakter hat. Payne diskutiert seine Zuschreibungen und begründet die Wahl im direkten Vergleich mit Stücken gesicherter Provenienz. So werden vereinzelt selbst „Handschriften“ von Herstellern/Designern erkennbar.
Die Epoche des „britischen Historismus“ ist aufgrund seiner wiederholten Stilrückgriffe und langen Dauer immer noch schwer zu fassen, durch Paynes Monografie werden aber viele der Entwicklungen erkennbar und auch zeitlich besser auflösbar. Einschränkungen gelten insofern, dass die Abgrenzung zum stilistisch ähnlichen bürgerlichen Segment weiterhin eine Herausforderung bleiben wird.
(Das Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)