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Nahe dem Fluss Tunguska in der sibirischen Taiga ereignete sich am 30. Juni 1908 eine unerklärliche Explosion, die Hunderte Quadratkilometer Wald zu Boden drückte. Meteoriteneinschlag? Unterirdischer Vulkanausbruch? Schwarzes Loch"? Ein Rätsel, das Forscher und Esoteriker bis heute beschäftigt. Eine Expedition sowjetischer Wissenschaftler bricht im Jahr 1928 zum Ort des Geschehens auf. Der Mathematikstudent Alexander Snegirjow schließt sich an, den die bolschewistische Revolution aller Wurzeln beraubt hat. Zurückkehren wird er als ein ganz anderer: Bro ist sein Name, und er hat gelernt, die…mehr

Produktbeschreibung
Nahe dem Fluss Tunguska in der sibirischen Taiga ereignete sich am 30. Juni 1908 eine unerklärliche Explosion, die Hunderte Quadratkilometer Wald zu Boden drückte. Meteoriteneinschlag? Unterirdischer Vulkanausbruch? Schwarzes Loch"? Ein Rätsel, das Forscher und Esoteriker bis heute beschäftigt. Eine Expedition sowjetischer Wissenschaftler bricht im Jahr 1928 zum Ort des Geschehens auf. Der Mathematikstudent Alexander Snegirjow schließt sich an, den die bolschewistische Revolution aller Wurzeln beraubt hat. Zurückkehren wird er als ein ganz anderer: Bro ist sein Name, und er hat gelernt, die Naturkatastrophe als einen glücklichen Wendepunkt der Weltgeschichte zu begreifen. Schon Vladimir Sorokins letzter, viel diskutierter Roman LJOD. Das Eis handelte von jenem kosmischen Urstoff, der die menschliche Gesellschaft wie ein Lackmuspapier prüft, in eine Elite von Hoffnungsträgern und eine todgeweihte Masse von Fleischmaschinen" scheidet. In seinem neuen Buch erfahren wir, was vorher geschah: wie die Sprache des Herzens", vom Eis entfacht, zum Fegefeuer auf Erden wird.
Autorenporträt
Vladimir Sorokin, geb. 1955, gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Russlands. Er ist einer der schärfsten Kritiker der politischen Eliten Russlands und sieht sich regelmäßig heftigen Angriffen regimetreuer Gruppen ausgesetzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2006

Das Leben ist eine gräßlich verschlungene Nahrungskette
Klingelingeling, der Eismann ist wieder da: Bei Vladimir Sorokin wird die Geschichte schockgefrostet / Von Wolfgang Schneider

Um Herzensangelegenheiten geht es in diesem Buch: "Ich bohrte die Finger in die Brust, hakte sie hinter die Rippen, zog. Die Rippen knackten. Schreiend vor Schmerz, zerbrach ich mir den Brustkorb. Nun konnte ich mit der Hand tief in die Brust hineinfahren und mein Herz betasten. Es war warm und prall, pochte gleichmütig unter meinen Fingern. Ich drückte zu."

Alexander Snegirjow steht mit diesem Albtraum kurz vor der Wendung aller Dinge. Er wird zum Gründungsvater jener Vorbereitungsgesellschaft der Eisheiligen, die in Vladimir Sorokins letztem Roman "Ljod", Eis, beschrieben wurde. Wir erinnern uns: Am Anfang war das reine Licht, in dreiundzwanzigtausend Strahlen. Dann kam es zu einem fatalen Irrtum: der Schöpfung der Erde, dem "häßlichsten Ort im Universum". Die ursprünglichen Lichtstrahlen aber schlafen in den Herzen von dreiundzwanzigtausend Menschen. Dank des Ljod-Eises, das 1908 via Meteor in Sibirien niedergegangen ist, können sie nun erweckt, sprich: mit dem Eishammer "aufgeklopft" werden. Und wenn der Tag kommt, an dem sich die dreiundzwanzigtausend im Kreis aufstellen, bei den Händen fassen und ihre Herzen im Chor die dreiundzwanzigtausend Herzensworte sprechen lassen - dann, ja dann wird der große Weltfehler korrigiert und mit der Erde die Störung der Welten-Harmonie beseitigt sein.

"Bro", am Erscheinungstag in Moskauer Buchhandlungen erwartet wie ein neuer "Harry Potter", erzählt die Vorgeschichte von "Ljod". Snegirjow alias "Bro" hatte dort bereits im zweiten Teil einen Auftritt: als weiser alter Mann der Eis-Gemeinschaft, der eine mit besonderen Herzensgaben gesegnete junge Frau namens Chram ins geheime Wissen initiiert. "Ljod" war ein Puzzle aus Berichten von "Schwestern" und "Brüdern", ein postmodernes Erzählragout. "Bro" kommt dagegen in klassischer Bratenform daher - ein richtiger, durcherzählter Roman.

Sorokin, Meister der Stil-Mimikry, beginnt im Ton des gemütvollen russischen Realismus des neunzehnten Jahrhunderts. Ein Stil, der in der Welt zu Hause ist. Snegirjow wird 1908 als Sohn eines wohlhabenden Zuckerfabrikanten geboren. Wir lesen von seiner Kindheit mit sieben Geschwistern, Sommern auf dem Landgut inmitten einer Schar von Freunden und Verwandten. "In diesem menschlichen Bienenkorb wuchs ich heran - ein gesundes, glückliches Kind." Dann kommen Krieg und Revolution. Bei der Flucht vor den Bolschewisten beendet eine Granate das Kindheitsparadies: Vater, Bruder, Onkel sterben. Die Detonation ist zugleich ein psychisches Trauma. Die eigene Vergangenheit scheint Snegirjow wie hinter Glas gerückt.

Als Student stürzt er sich in die Meteoritenforschung. Eine glückliche Fügung läßt ihn zum Teilnehmer einer Expedition zum Tunguska-Meteoriten werden; rumste der gigantische Bolide doch am selben Tag in die Taiga, an dem Snegirjow geboren wurde. Im Juni 1928 bricht man auf. Je näher die Gruppe ihrem Ziel kommt, desto mehr ändert sich die Persönlichkeit des Helden. Als er aus dem Dunkel des Hochwalds tritt und die lichtüberstrahlte, vom Meteoriten geplättete Ebene vor sich sieht, ergreift ihn ein ungeheures Glücksgefühl. Menschliche Gewohnheiten fallen von ihm ab. Gespräche sind ihm nurmehr ein "verhaßter Wortschwall". Er verweigert die übliche Ernährung, begnügt sich mit ein paar Beeren. Und er weiß, daß etwas Großes, Vertrautes auf ihn wartet. Verzückt schwimmt er hinaus auf einen See - und entdeckt unter der Wasseroberfläche die Spitze des zu sieben Achteln im Permafrostboden versunkenen Ljod-Meteors. Er rutscht darauf aus, und beim Aufschlag auf der Eisfläche gibt sein Herz seinen wahren Namen preis: "Bro-bro-bro . . ."

Sofort erkennt Bro seine Aufgabe: das "göttliche Licht vom fauligen, flüchtigen Fleisch zu trennen". Mit einem Block Ljod auf der Schulter marschiert er los, bis er seine erste Gefährtin gefunden hat: Fer, die Nomadin. Zwei Drittel des Romans schildern mit erzählerischer Kraft und Einfallsreichtum die Anfangsjahre der Gemeinschaft: die mühsame, oft abenteuerliche, aber immer wieder von Jubel gekrönte Suche nach "Brüdern" und "Schwestern", für die eine Stadt nach der anderen durchkämmt wird. Dabei geraten immer wieder, wie ein unbeabsichtigter Hintergrund bei Filmaufnahmen, die zeitgenössischen Greuel in den Blick: Erschießungen, Kulakenmorde, das Industrialisierungs- und Kollektivierungsprogramm. Die miterzählten Biographien der ersten "Brüder" sind eindrucksvolle Beispiele für die von den revolutionären Umbrüchen gekneteten Schicksale. So entsteht nebenbei ein Panorama der russischen Geschichte des letzten Jahrhunderts.

1931 wird die Suche international ausgeweitet. Man geht von Moskau nach Berlin, um auch in "Ordnungsland", wie Deutschland genannt wird, nach Geschwistern Ausschau zu halten. Bald bieten die Großversammlungen der Nürnberger Parteitage dafür gute Gelegenheit; später sucht man auch in Auschwitz. Politisch völlig gleichgültig, schleicht sich die Gruppe in stalinistische und nazistische Machtstrukturen ein, um auf dieser Basis effektiver die eigenen Zwecke verfolgen zu können.

Wenn das Erweckungserlebnis geschildert wird, wenn in einer Sprache des Überschwangs "Herzensworte" singen, leuchten und glühen, wenn das innere Licht strahlt und jubiliert - dann verbietet Sorokin sich jedes Verziehen der Mundwinkel (anders als in "Ljod", wo am Ende satirische Passagen über ein "Wellness-Set-Ljod" standen), so daß man glauben könnte, er wolle sich ernsthaft zum Apostel der weltfeindlichen Lehre vom reinen Eis machen. Möglicherweise gibt es in Rußland, wo viel geglaubt wird und esoterische Verschwörungstheorien hoch im Kurs stehen, bereits Anhänger dieser Lehre, für die nicht mehr und nicht weniger spricht als für manch andere Schöpfungslegende. Was an Sorokins Buch überzeugt, ist aber nicht die primäre Wahrheit, sondern ihr sekundärer Erzählgewinn. Er besteht im gnostisch-bösen Blick auf das Erdentreiben. Denn je reiner die Lehre, desto schmutziger erscheint das reale Menschenleben. Die Geheimlehre gibt Sorokin eine spannende und ergiebige Erzählperspektive. Während sich die Kraßheiten seiner frühen Werke dem Bestreben verdankten, ein literarischer Höllenbursche zu sein, verneint er jetzt aus höherer Einsicht. Manche Beschreibung in "Bro" ist eines Schopenhauers oder Ciorans würdig. Mit pessimistischem Eifer wird die Scheußlichkeit des irdischen Lebens demonstriert, das bei genauem Hinsehen nur eine gräßlich verschlungene Nahrungskette ist.

Eindrucksvoll wird Bros Bericht von der psychischen Thermodynamik allen Sektierertums bestimmt: Im Inneren steigt die Temperatur, während sich nach draußen starke Abkühlungserscheinungen bemerkbar machen. Liebe, Verständnis und "unaussprechliche Freude" unter den Auserwählten steht der Verlust jeglicher Empathie mit den "normalen" Menschen gegenüber, die bloß noch als "Fleischmaschinen" firmieren. Ihnen sitzt statt des Herzens eine "Blutumlaufpumpe" in der Brust. Das Leben und Leiden der Fleischmaschinen (das Wort begegnet einem nun bis zu zwanzig Mal pro Seite) läßt Bro kalt, eiskalt. Es ist nur ein absurdes Theater des Koitierens, Gebärens, Bekriegens und Krepierens. Auch die höheren Kulturtechniken (Bücher, Kino, Flugzeuge, Bomben) erscheinen als befremdlich-bizarre Einrichtungen einer irregeleiteten Spezies.

Aber dann kippt das Ganze. Angesichts einer Sprache, der alles Menschliche abscheulich ist, erwärmt sich der Leser doch wieder für die "Fleischmaschinen" und ihre in aller Fatalität anrührende Falschwelt. Die Verhöhnung der "Normalität", die lange zu Sorokins Programm gehörte ("Norma"), wird in diesem Roman fortgesetzt - allerdings wird zugleich gezeigt, wie problematisch die Perspektive der Verachtung ist. Die Verneinung ist nicht länger Methode, sie wird selbst zum Thema.

Was wird auf diesen großen Roman vom Verlust der Empathie folgen? Wird Sorokin sein Ljod-Epos fortsetzen? Wir warten auf den nächsten Befreiungsschlag des Eishammers.

Vladimir Sorokin: "Bro". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Andreas Tretner. Berlin Verlag, Berlin 2006. 344 S., geb., 22,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Wolfgang Schneider hat sein Coming-out als Wladimir-Sorokin-Fan. Von "Ljod", dem Vorgänger des vorliegenden Romans, welcher wiederum des ersteren Vorgeschichte erzählt, weiß er zu berichten und erwartet schon gespannt den nächsten Wurf des Autors, den kommenden "Befreiungsschlag des Eishammers". Denn ums Eis geht es hier, um eine religiöse Erweckung und eine Sekte, die im Stalinismus und in Nazideutschland nach Anhängern für ihre Lehre von der reinen Kälte sucht. Das wird bruchlos durcherzählt, vom gemütlichen 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert hinein, erzählt Schneider, der ganz begeistert ist von der Erzählkunst Sorokins. Manchmal glaubt er glatt, Schopenhauer oder Cioran zu lesen. Verachtung für alles Menschliche ist auch hier für Schneider deutlich spürbar, aber erstmals auch das Problematische dieser Haltung.


© Perlentaucher Medien GmbH
"Vladimir Sorokin ist wahrscheinlich der einzige lebende russische Autor, der als Klassiker bezeichnet werden kann."(The Moscow Times)