Ein kleines Dorf im deutsch-französischen Grenzgebiet kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Als der Außenseiter Brodeck eines Abends das Wirtshaus betritt, wird er Zeuge einer schauerlichen Szene: Soeben hat die Dorfgemeinschaft kollektiv einen Fremden ermordet. Die Bewohner verlangen von Brodeck, einen Bericht zu verfassen, der die Tat rechtfertigen soll. Doch je mehr er über die Hintergründe erfährt, desto weniger ist er bereit, die Wahrheit zu beschönigen. So wird er selbst zur Zielscheibe der Dorfbewohner... Mit Philippe Claudels Bestseller "Bodecks Bericht" hat sich Manu Larcenet erstmals an eine Adaption gemacht und der tragisch-düsteren Erzählung stimmungsvoll Leben eingehaucht. In umwerfenden Bildern zeichnet er diese Parabel über menschliche Abgründe und setzt sie vor eine Kulisse der rauen Schroffheit der Natur.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.11.2017Tod dem „Anderen“
„Brodecks Bericht“ erzählt vom Triumph des Inhumanen. Manu Larcenet hat Philipp Claudels
Roman als Comic adaptiert – erst in dieser Form findet das Buch zu sich
VON CHRISTOPH HAAS
Aus guten Büchern werden meist meist keine guten Comics. Einer der Gründe ist die Unterschiedlichkeit der beiden Medien, die ihre spezifischen Eigenarten, ihre nicht deckungsgleichen Stärken haben. Sehr selten kommt es allerdings auch vor, dass ein Buch als Comic zu sich selbst findet und sich frei von den Schwächen, die ihm anhafteten, präsentiert: So ein Fall ist die großartige Adaptation von Philippe Claudels „Brodecks Bericht“ (2007) durch Manu Larcenet.
Der Roman wie der Comic beginnen mit einem schockierenden Ereignis. An einem kalten Herbstabend betritt Brodeck – einen weiteren Namen hat er nicht – das Wirtshaus des Dorfes, in dem er lebt, um ein wenig Butter zu kaufen. Dort trifft er auf eine Versammlung von Männern, die gerade gemeinschaftlich einen brutalen Mord begangen haben. Das Opfer ist „der Andere“, ein rätselhafter Besucher, der einige Monate zuvor unvermutet in der weit abgelegenen, von der Welt vergessenen Gemeinde aufgetaucht ist. Die Männer bauen sich vor Brodeck auf und verpflichten ihn, einen ausführlichen Bericht zu verfassen, in dem er vom Aufenthalt „des Anderen“ erzählen und begreiflich machen soll, warum es zu der Tat kommen musste.
Für diese Aufgabe ist Brodeck geeignet, weil er studiert hat und ohnehin beruflich mit dem Schreiben vertraut ist. Für die Behörde einer entfernten Stadt zeichnet er regelmäßig den lokalen Zustand von Flora, Fauna und Klima auf. Vom Lehrer abgesehen, ist er vor Ort der einzige Intellektuelle. Das macht ihn zum Außenseiter, mehr aber noch die Tatsache, dass er Jude ist. Als einziger Überlebender eines Pogroms ist er, damals ein Kind, in Begleitung der alten Fédorine in das Provinznest gekommen, und während des erst vor Kurzem zu Ende gegangenen Krieges wurde er von den feindlichen Soldaten in ein Konzentrationslager verschleppt.
Dass Philippe Claudel hier vom Zweiten Weltkrieg, von einer deutsch-französischen Grenzregion, der Okkupation Frankreichs und von den Schrecken des Holocausts erzählt, ist offensichtlich. Zugleich verwischt er aber alle Bezüge auf die geografische und historische Wirklichkeit; wie Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“ und Albert Camusʼ „Die Pest“ tendiert „Brodecks Bericht“ zur Darstellung des Überzeitlichen, Allgemein-Menschlichen. Am deutlichsten wird dies in der Gestalt „des Anderen“, der keine nach Maßgabe des Realismus entworfene Figur ist, sondern eine bizarre, patchworkartige Allegorie von Kunst, Wissenschaft und Humanität.
Manu Larcenets Interesse an diesem Roman ist nicht verwunderlich. In mehreren seiner bisherigen Comics – speziell in „Der alltägliche Kampf“ (2003 – 2008) und in „Blast“ (2009 – 2014), aber auch in seiner schwarzhumorigen „Valerian“-Variation „Die Rüstung des Jakolas“ (2011) – geht es schon um schwere soziale und existenzielle Erschütterungen, um Identitätsverlust und politischen Wahn. Seine Version von „Brodecks Bericht“ ist souverän, ohne falschen Respekt vor einem Autor, der als Epiker, Dramatiker und Filmregisseur eine feste Größe im französischen Kulturbetrieb ist. So hat Larcenet die Passagen, in denen Momente des Glücks, der Liebe und der Geborgenheit geschildert werden, komplett gestrichen – zu Recht, denn in ihnen verfällt Claudel in eine Art literarischer Genremalerei, die dem Kitsch äußerst naheliegt.
Darüber hinaus hat Larcenet die Vorlage konsequent abgespeckt. Er übernimmt wörtlich die Dialoge und den Ich-Erzählerbericht Brodecks, kürzt in beiden Bereichen aber massiv. So ausführlich im Roman erzählt wird, in einer in Metaphern verliebten Sprache, so lakonisch ist der Comic. Sein Querformat ist ungewöhnlich, aber Larcenet meidet spektakuläre Layouteffekte; auf der überwiegenden Zahl der Seiten finden sich einfach zwei oder drei Panelreihen. Viele Sequenzen kommen ganz ohne Text aus; die Bilder können auf ihn getrost verzichten. Da sind einerseits die zerfurchten, von einer dumpf-rücksichtslosen Gewaltbereitschaft zeugenden Visagen der Dorfbewohner, und da sind andererseits die Wiesen und die Bäume, die Berge und Wälder. In den Winterbildern ist oft so viel Weiß, dass sie an Fotonegative erinnern. Die Menschen und Dinge sind dann nur schwarze Silhouetten; beim Lesen hat man das Gefühl, sich gleich Mantel, Handschuhe und Mütze anziehen zu müssen.
Eine Entscheidung Larcenets muss man bedauern: Aus den Besatzern und KZ-Aufsehern macht er spitzzähnige, drachenartige Monster, während sie im Roman, viel überzeugender, als mörderische Biedermänner erscheinen, die zu Hause einem bürgerlichen Beruf nachgehen, Frau und Kinder haben. Von diesem Einwand abgesehen, ist der Comic dem Roman aber eindeutig überlegen. Erst er ist ganz die strenge Parabel über den unabweisbaren Triumph des Inhumanen, die Philippe Claudel wohl im Sinn hatte, als er „Brodecks Bericht“ schrieb.
Die Winterbilder wirken so kalt,
dass man beim Lesen gleich
Mantel und Mütze anziehen will
Routinetermin für die üblichen Verdächtigen: Die Methode der Gegenüberstellung auf den Polizeirevieren erforderte das wöchentliche „Lineup“ von tatsächlich Tatverdächtigen
und Täterkomparsen. Unter diesen sollten Augenzeugen von Schwerverbrechen den richtigen Täter identifizieren. Dieses Bild entstand um 1940.
Manu Larcenet (Zeichnungen und Adaptation): Brodecks Bericht. Nach einem Roman von Philippe Claudel. Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock.
Reprodukt Verlag, Berlin 2017.
328 Seiten, 39 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Brodecks Bericht“ erzählt vom Triumph des Inhumanen. Manu Larcenet hat Philipp Claudels
Roman als Comic adaptiert – erst in dieser Form findet das Buch zu sich
VON CHRISTOPH HAAS
Aus guten Büchern werden meist meist keine guten Comics. Einer der Gründe ist die Unterschiedlichkeit der beiden Medien, die ihre spezifischen Eigenarten, ihre nicht deckungsgleichen Stärken haben. Sehr selten kommt es allerdings auch vor, dass ein Buch als Comic zu sich selbst findet und sich frei von den Schwächen, die ihm anhafteten, präsentiert: So ein Fall ist die großartige Adaptation von Philippe Claudels „Brodecks Bericht“ (2007) durch Manu Larcenet.
Der Roman wie der Comic beginnen mit einem schockierenden Ereignis. An einem kalten Herbstabend betritt Brodeck – einen weiteren Namen hat er nicht – das Wirtshaus des Dorfes, in dem er lebt, um ein wenig Butter zu kaufen. Dort trifft er auf eine Versammlung von Männern, die gerade gemeinschaftlich einen brutalen Mord begangen haben. Das Opfer ist „der Andere“, ein rätselhafter Besucher, der einige Monate zuvor unvermutet in der weit abgelegenen, von der Welt vergessenen Gemeinde aufgetaucht ist. Die Männer bauen sich vor Brodeck auf und verpflichten ihn, einen ausführlichen Bericht zu verfassen, in dem er vom Aufenthalt „des Anderen“ erzählen und begreiflich machen soll, warum es zu der Tat kommen musste.
Für diese Aufgabe ist Brodeck geeignet, weil er studiert hat und ohnehin beruflich mit dem Schreiben vertraut ist. Für die Behörde einer entfernten Stadt zeichnet er regelmäßig den lokalen Zustand von Flora, Fauna und Klima auf. Vom Lehrer abgesehen, ist er vor Ort der einzige Intellektuelle. Das macht ihn zum Außenseiter, mehr aber noch die Tatsache, dass er Jude ist. Als einziger Überlebender eines Pogroms ist er, damals ein Kind, in Begleitung der alten Fédorine in das Provinznest gekommen, und während des erst vor Kurzem zu Ende gegangenen Krieges wurde er von den feindlichen Soldaten in ein Konzentrationslager verschleppt.
Dass Philippe Claudel hier vom Zweiten Weltkrieg, von einer deutsch-französischen Grenzregion, der Okkupation Frankreichs und von den Schrecken des Holocausts erzählt, ist offensichtlich. Zugleich verwischt er aber alle Bezüge auf die geografische und historische Wirklichkeit; wie Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“ und Albert Camusʼ „Die Pest“ tendiert „Brodecks Bericht“ zur Darstellung des Überzeitlichen, Allgemein-Menschlichen. Am deutlichsten wird dies in der Gestalt „des Anderen“, der keine nach Maßgabe des Realismus entworfene Figur ist, sondern eine bizarre, patchworkartige Allegorie von Kunst, Wissenschaft und Humanität.
Manu Larcenets Interesse an diesem Roman ist nicht verwunderlich. In mehreren seiner bisherigen Comics – speziell in „Der alltägliche Kampf“ (2003 – 2008) und in „Blast“ (2009 – 2014), aber auch in seiner schwarzhumorigen „Valerian“-Variation „Die Rüstung des Jakolas“ (2011) – geht es schon um schwere soziale und existenzielle Erschütterungen, um Identitätsverlust und politischen Wahn. Seine Version von „Brodecks Bericht“ ist souverän, ohne falschen Respekt vor einem Autor, der als Epiker, Dramatiker und Filmregisseur eine feste Größe im französischen Kulturbetrieb ist. So hat Larcenet die Passagen, in denen Momente des Glücks, der Liebe und der Geborgenheit geschildert werden, komplett gestrichen – zu Recht, denn in ihnen verfällt Claudel in eine Art literarischer Genremalerei, die dem Kitsch äußerst naheliegt.
Darüber hinaus hat Larcenet die Vorlage konsequent abgespeckt. Er übernimmt wörtlich die Dialoge und den Ich-Erzählerbericht Brodecks, kürzt in beiden Bereichen aber massiv. So ausführlich im Roman erzählt wird, in einer in Metaphern verliebten Sprache, so lakonisch ist der Comic. Sein Querformat ist ungewöhnlich, aber Larcenet meidet spektakuläre Layouteffekte; auf der überwiegenden Zahl der Seiten finden sich einfach zwei oder drei Panelreihen. Viele Sequenzen kommen ganz ohne Text aus; die Bilder können auf ihn getrost verzichten. Da sind einerseits die zerfurchten, von einer dumpf-rücksichtslosen Gewaltbereitschaft zeugenden Visagen der Dorfbewohner, und da sind andererseits die Wiesen und die Bäume, die Berge und Wälder. In den Winterbildern ist oft so viel Weiß, dass sie an Fotonegative erinnern. Die Menschen und Dinge sind dann nur schwarze Silhouetten; beim Lesen hat man das Gefühl, sich gleich Mantel, Handschuhe und Mütze anziehen zu müssen.
Eine Entscheidung Larcenets muss man bedauern: Aus den Besatzern und KZ-Aufsehern macht er spitzzähnige, drachenartige Monster, während sie im Roman, viel überzeugender, als mörderische Biedermänner erscheinen, die zu Hause einem bürgerlichen Beruf nachgehen, Frau und Kinder haben. Von diesem Einwand abgesehen, ist der Comic dem Roman aber eindeutig überlegen. Erst er ist ganz die strenge Parabel über den unabweisbaren Triumph des Inhumanen, die Philippe Claudel wohl im Sinn hatte, als er „Brodecks Bericht“ schrieb.
Die Winterbilder wirken so kalt,
dass man beim Lesen gleich
Mantel und Mütze anziehen will
Routinetermin für die üblichen Verdächtigen: Die Methode der Gegenüberstellung auf den Polizeirevieren erforderte das wöchentliche „Lineup“ von tatsächlich Tatverdächtigen
und Täterkomparsen. Unter diesen sollten Augenzeugen von Schwerverbrechen den richtigen Täter identifizieren. Dieses Bild entstand um 1940.
Manu Larcenet (Zeichnungen und Adaptation): Brodecks Bericht. Nach einem Roman von Philippe Claudel. Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock.
Reprodukt Verlag, Berlin 2017.
328 Seiten, 39 Euro.
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