Damals, 1973, lebte Hans zusammen mit seinem Vater. Mit Martha, der Frau, die er liebte, fuhr er häufig zu dem Häuschen des Vaters vor der Stadt. Eines Tages fand Hans das Haus besetzt. Dies war der Beginn einer Geschichte, die sein Leben veränderte: In dem Haus wurde ein Mann gefangengehalten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.01.2005 Band 45
Der Karpfen in der Wanne
Jurek Beckers Roman „Bronsteins Kinder”
„Vor einem Jahr kam mein Vater auf die denkbar schwerste Weise zu Schaden, er starb.” So lakonisch beginnt Hans seine Erzählung. Mit dem Verstand will er erledigen, was andere mit ihren Gefühlen leisten, und er wünscht sich das „steinerne Herz”, damit ihm in Zukunft sterben kann, wer will, „noch so ein Jahr wird mir nicht mehr passieren”. Was sich dann als Szenerie enthüllt, scheint zu gewaltig, zu überdimensioniert für die DDR-Welt des Sommers 1973 zu sein: In einem Wochenendhaus in der Nähe von Berlin wird ein ehemaliger KZ-Aufseher gefangen gehalten. Seine drei Entführer, die ihn verhören und foltern, sind Juden, frühere Häftlinge, unter ihnen Hans Vater, der, wenn es ein Gericht gäbe, das von ihnen, den Juden, anerkannt würde, nie auf die Idee einer Folterung gekommen wäre.
Was Hans erzählt, erklärt nicht, warum sich die drei Männer gebärden wie „die Helden eines Alptraums”. Über den Tod des Vaters weiß man am Ende kaum mehr als zu Beginn, ebenso wenig erfährt man, warum die Liebe zwischen Hans und Martha sich verflüchtigt hat. Dafür wird der Widerspruch zwischen dem Erlebten und dem Versuch, darauf angemessen zu reagieren, immer deutlicher und schmerzhafter. Auch für den Leser.
Hans, der es ablehnt, das Kind eines „Opfers” zu sein, für den das Konzentrationslager Neuengamme „kaum mehr als ein böses Wort” ist, der geglaubt hatte, „nach dreißig Jahren könnten sie wie normale Menschen leben”, kann nur zusehen, wie aus dem Ort der heimlichen Treffen mit Martha eine stinkende Folterkammer wird. Als er sich zur Tat entschließt, ist der Vater bereits tot. Hans verkauft bald darauf das Wochenendhaus - an einen Schriftsteller.
Jurek Becker, 1937 im Ghetto von Lodz geboren, überlebt im Konzentrationslager Ravensbrück mit seiner Mutter, die kurz nach der Befreiung stirbt. Sein Vater, am Ende des Kriegs im KZ Sachsenhausen, findet den schwer kranken Sohn, sie bleiben in Berlin. Nicht nur der Hintergrund der Shoa verbindet „Jakob der Lügner” (1969) und „Der Boxer” (1976) mit „Bronsteins Kinder” (1986 im Westen, 1987 im Osten veröffentlicht). In allen drei Büchern wird das Erzählen selbst zum Thema. Elle, die Schwester von Hans, überlebte bei einem Bauern versteckt die Nazizeit, muss aber wegen ihrer aggressiven Anfälle in einer Anstalt leben. Keiner kann sich aussuchen, „wann er den Verstand verliert”. Auf der anderen Seite ist da Martha, die Schauspielerin wird. Hans findet es bitter, dass sie „eine jüdische Abstammung oder ein jüdisches Gesicht zu Geld” macht.
Das Gleichgewicht, das diese Erzählung überhaupt erst möglich macht, die Balance, die zwischen dem Wunsch nach einem steinernen Herzen und der Ursache dieses Wunsches besteht, ist fragil. Das Erzählen selbst wird zur Balancierstange, die Hans vor dem Absturz bewahrt. Das macht diesen Tonfall, das ganze Buch so eindringlich und zu einem der besten, die in den letzten Jahrzehnten auf Deutsch geschrieben wurden. Hier spricht jemand, um nicht zu erstarren, um am Leben und bei Verstand zu bleiben, obwohl er weiß, dass man über dem Erlebten eigentlich nur den Verstand verlieren kann. Dieser Widerspruch prägt noch die Sicht auf das profanste Detail. Beim Anblick eines Karpfens in der Badewanne, der noch lebt, weil unklar ist, wer ihn schlachten soll, räsoniert Hans: „Wäre er ein Vogel, würde ich ihm das Fenster öffnen.”
INGO SCHULZE
Jurek Becker
Foto: Nikolaus Becker
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Der Karpfen in der Wanne
Jurek Beckers Roman „Bronsteins Kinder”
„Vor einem Jahr kam mein Vater auf die denkbar schwerste Weise zu Schaden, er starb.” So lakonisch beginnt Hans seine Erzählung. Mit dem Verstand will er erledigen, was andere mit ihren Gefühlen leisten, und er wünscht sich das „steinerne Herz”, damit ihm in Zukunft sterben kann, wer will, „noch so ein Jahr wird mir nicht mehr passieren”. Was sich dann als Szenerie enthüllt, scheint zu gewaltig, zu überdimensioniert für die DDR-Welt des Sommers 1973 zu sein: In einem Wochenendhaus in der Nähe von Berlin wird ein ehemaliger KZ-Aufseher gefangen gehalten. Seine drei Entführer, die ihn verhören und foltern, sind Juden, frühere Häftlinge, unter ihnen Hans Vater, der, wenn es ein Gericht gäbe, das von ihnen, den Juden, anerkannt würde, nie auf die Idee einer Folterung gekommen wäre.
Was Hans erzählt, erklärt nicht, warum sich die drei Männer gebärden wie „die Helden eines Alptraums”. Über den Tod des Vaters weiß man am Ende kaum mehr als zu Beginn, ebenso wenig erfährt man, warum die Liebe zwischen Hans und Martha sich verflüchtigt hat. Dafür wird der Widerspruch zwischen dem Erlebten und dem Versuch, darauf angemessen zu reagieren, immer deutlicher und schmerzhafter. Auch für den Leser.
Hans, der es ablehnt, das Kind eines „Opfers” zu sein, für den das Konzentrationslager Neuengamme „kaum mehr als ein böses Wort” ist, der geglaubt hatte, „nach dreißig Jahren könnten sie wie normale Menschen leben”, kann nur zusehen, wie aus dem Ort der heimlichen Treffen mit Martha eine stinkende Folterkammer wird. Als er sich zur Tat entschließt, ist der Vater bereits tot. Hans verkauft bald darauf das Wochenendhaus - an einen Schriftsteller.
Jurek Becker, 1937 im Ghetto von Lodz geboren, überlebt im Konzentrationslager Ravensbrück mit seiner Mutter, die kurz nach der Befreiung stirbt. Sein Vater, am Ende des Kriegs im KZ Sachsenhausen, findet den schwer kranken Sohn, sie bleiben in Berlin. Nicht nur der Hintergrund der Shoa verbindet „Jakob der Lügner” (1969) und „Der Boxer” (1976) mit „Bronsteins Kinder” (1986 im Westen, 1987 im Osten veröffentlicht). In allen drei Büchern wird das Erzählen selbst zum Thema. Elle, die Schwester von Hans, überlebte bei einem Bauern versteckt die Nazizeit, muss aber wegen ihrer aggressiven Anfälle in einer Anstalt leben. Keiner kann sich aussuchen, „wann er den Verstand verliert”. Auf der anderen Seite ist da Martha, die Schauspielerin wird. Hans findet es bitter, dass sie „eine jüdische Abstammung oder ein jüdisches Gesicht zu Geld” macht.
Das Gleichgewicht, das diese Erzählung überhaupt erst möglich macht, die Balance, die zwischen dem Wunsch nach einem steinernen Herzen und der Ursache dieses Wunsches besteht, ist fragil. Das Erzählen selbst wird zur Balancierstange, die Hans vor dem Absturz bewahrt. Das macht diesen Tonfall, das ganze Buch so eindringlich und zu einem der besten, die in den letzten Jahrzehnten auf Deutsch geschrieben wurden. Hier spricht jemand, um nicht zu erstarren, um am Leben und bei Verstand zu bleiben, obwohl er weiß, dass man über dem Erlebten eigentlich nur den Verstand verlieren kann. Dieser Widerspruch prägt noch die Sicht auf das profanste Detail. Beim Anblick eines Karpfens in der Badewanne, der noch lebt, weil unklar ist, wer ihn schlachten soll, räsoniert Hans: „Wäre er ein Vogel, würde ich ihm das Fenster öffnen.”
INGO SCHULZE
Jurek Becker
Foto: Nikolaus Becker
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